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WerbungskostenLeiharbeiter und die erste Tätigkeitsstätte: Diese Frage ist noch nicht geklärt
| In Deutschland gibt es ca. 900.000 Zeit- und Leiharbeitnehmer. Bei allen stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wo sie eine erste Tätigkeitsstätte haben. Diese Frage ist entscheidend dafür, ob sie Reisekosten steuerlich geltend machen können. SSP geht der Frage nach der ersten Tätigkeitsstätte und den Folgen auf den Grund. Dabei zeigt sich, dass ein typischer Praxisfall von der Rechtsprechung noch nicht hundertprozentig geklärt ist. |
Dauerhafte Zuordnung im Bereich der Leiharbeit
Entscheidendes Kriterium bei Leiharbeitnehmern ist vor allem die Dauerhaftigkeit. Sie müssen also unterscheiden, ob der Leiharbeiter dem Betrieb des Entleihers dauerhaft (ungünstige erste Tätigkeitsstätte) oder nur vorübergehend (steuerlich lukrative Auswärtstätigkeit) zugeordnet wurde.
Wichtig | Eine dauerhafte Zuordnung ergibt sich nach § 9 Abs. 4 S. 3 EStG insbesondere dann, wenn der Leiharbeiter
- unbefristet,
- für die Dauer des befristeten oder unbefristeten Dienstverhältnisses oder
- über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus
an einer Tätigkeitsstätte (des Entleihers) tätig werden sollen. Dabei kann eine Zuordnung „bis auf Weiteres“ ebenfalls unbefristet und damit dauerhaft sein.
Dieser Zuordnungsfall ist „dauerhaft“
Eine Zuordnung ist unbefristet (und damit dauerhaft), wenn die Dauer der Zuordnung zu einer Tätigkeitsstätte nicht kalendermäßig bestimmt ist und sich auch nicht aus Art, Zweck oder Beschaffenheit der Arbeitsleistung ergibt. Auch der Umstand, dass man jederzeit einer anderen Tätigkeitsstätte zugeordnet werden könnte, führt nicht zur Annahme einer befristeten Zuordnung (BFH, Urteil vom 04.04.2019, Az. VI R 27/17, Abruf-Nr. 209985).
Dieser Zuordnungsfall ist „nicht dauerhaft“
Anders sieht es aus, wenn das Arbeitsverhältnis seinerseits befristet ist. Dann kommt eine unbefristete Zuordnung zu einer ersten Tätigkeitsstätte im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses nicht in Betracht. Nach Auffassung des BFH ist es in einem solchen Fall nämlich ausgeschlossen, dass „der Arbeitnehmer unbefristet ... an einer solchen Tätigkeitsstätte tätig werden soll“, wie es § 9 Abs. 4 S. 3 EStG nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut voraussetzt (BFH, Urteil vom 10.04.2019, Az. VI R 6/17, Abruf-Nr. 209989).
Damit kommt bei befristeten Leiharbeitsverhältnissen eine dauerhafte Zuordnung zum Entleiher nur in Betracht, wenn eine der anderen beiden Varianten (Zuordnung für die Dauer des befristeten Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus) einschlägig ist.
Dieser Fall ist noch ungeklärt
Ungeklärt ist, was gilt, wenn
- das Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher und die Überlassung an den Entleiher zwar unbefristet ist,
- die Überlassung jedoch nach dem 01.04.2017 erfolgt (nach geänderter Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetz [AÜG]).
FG Niedersachsen entschied zu alter AÜG-Rechtslage
Das FG Niedersachen entschied zu einem vor dem 01.04.2017 vereinbarten Leiharbeitsvertrag. Das Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher war unbefristet und der Leiharbeitnehmer wurde nach Ansicht des Gerichts „bis auf Weiteres“, also nicht befristet, bei dem Entleiher eingesetzt. Deshalb kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass er der betrieblichen Einrichtung des Entleihers dauerhaft im Sinne des § 9 Abs. 4 S. 3 Alt. 1 EStG zugeordnet wurde und sich keine lukrative Auswärtstätigkeit ergab (FG Niedersachsen, Urteil vom 13.07.2021, Az. 13 K 63/20, rkr., Abruf-Nr. 225896).
Zu dem Zeitpunkt des Urteilsfalls, so der Richter am FG Münster Dr. Wackerbeck (Wackerbeck, EFG 2022, 45), habe aber noch das alte AÜG gegolten. Schon nach dessen Wortlaut (§ 1 Abs. 1 S. 2 AÜG) erfolge eine Arbeitnehmerüberlassung generell nur „vorübergehend“, weil sie nicht zu einer Verdrängung von Stammarbeitnehmern führen solle (BT-Drs. 18/9232, 15). Allerdings sei der Begriff damals als flexible Zeitgrenze ausgelegt worden, ohne eine genaue Höchstüberlassungsdauer zu definieren, sodass auch eine nicht von vornherein zeitlich befristete Überlassung von Zeitarbeitnehmern möglich war (BT-Drs. 17/8829, 4). Leiharbeitnehmer konnten so über Jahre hinweg bei demselben Entleiher eingesetzt werden.
Was gilt bei Verleihung in neuer AÜG-Rechtslage?
Seit dem 01.04.2017 sagt § 1 Abs. 1 S. 4 i. V. m. § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG aber glasklar aus, dass der Verleiher denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinanderfolgende Monate demselben Entleiher überlassen dürfe. Der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinanderfolgende Monate tätig werden lassen. Für Dr. Wackerbeck ist daher fraglich, ob auch nach neuer Rechtslage angesichts der nunmehr gesetzlich geregelten Überlassungshöchstdauer noch von einer zeitlich unbefristeten Zuordnung ausgegangen werden kann, weil spätestens nach 18 Monaten ein Wechsel erforderlich ist. Sollte eine zeitlich unbefristete Zuordnung zu verneinen sein, ergäbe sich in vielen Fällen keine ungünstige erste Tätigkeitsstätte beim Entleiher.
Beispiel |
... wider eine erste Tätigkeitsstätte Leiharbeiterin Lena Kunze ist am 01.01.2020 unbefristet an Entleiher E entliehen worden. Hat sie dort eine erste Tätigkeitsstätte, weil sie E unbefristet zugeordnet ist (Dauerhaftigkeits-Kriterium erfüllt)? Oder kann wegen der nunmehr gesetzlich geregelten Überlassungshöchstdauer das Dauerhaftigkeits-Kriterium überhaupt nicht mehr erfüllt werden. In diesem Fall würden sich regelmäßig abzugsfähige Reisekosten ergeben. |
AUSGABE: SSP 2/2022, S. 16 · ID: 47772405