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Gerichtliche ZuständigkeitKann eine Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ abgeändert werden?
| Das OLG Rostock hat zur Frage entschieden, ob eine Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ abänderbar ist. |
Sachverhalt
Der Vater V beantragte erfolgreich unter Berufung auf eine Kindesentführung gegen die Mutter M die Rückführung der Tochter L nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) nach Belgien. Das OLG wies die Beschwerde der M mit der Maßgabe einer Fristverlängerung zur Rückführung zurück. Das BVerfG wies den Antrag der M auf einstweilige Aussetzung der Vollstreckung zurück. Das OLG Rostock wies die Anhörungsrüge und den mütterlichen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zurück.
Abruf-Nr. 243655
Die M begehrt nun beim OLG, seinen Beschluss aufgrund nachträglich entstandener Rückführungshindernisse abzuändern und den Rückführungsantrag des V zurückzuweisen sowie die Vollstreckung des zweitinstanzlichen Beschlusses einstweilen einzustellen. Sie beruft sich darauf, dass ihr Sohn A, für den sie allein sorgeberechtigt sei, in Deutschland bleiben wolle. Es stelle einen Abänderungsgrund dar, dass sie durch den Rückführungsbeschluss zu kindeswohlschädigendem Verhalten gezwungen werde, da sie sonst von einem ihrer Kinder getrennt werde. Das OLG Rostock hat sich bezüglich des Abänderungsantrags einschließlich des Antrags, die Vollstreckung einzustellen, für sachlich unzuständig erklärt und die Sache an das AG verwiesen (OLG Rostock, 26.7.23, 10 UF 79/23, Abruf-Nr. 243655).
Entscheidungsgründe
Unabhängig von der rechtlichen Grundlage ist das OLG nicht erstinstanzlich für ein Abänderungsverfahren zuständig, auch wenn es darum geht, eine Entscheidung des Beschwerdegerichts abzuändern. Das Rechtsmittelgericht ist nicht befugt, seine eigene Entscheidung abzuändern. Zuständig ist nach § 48 Abs. 1 FamFG das erstinstanzliche Gericht (a. A. OLG Hamm 13.7.21, 11 UF 71/21, FamRZ 21, 1990, das sich selbst für zuständig hält, über einen Abänderungsantrag zu entscheiden). § 44 Abs. 2 Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz (IntFamRVG) regelt alleine die funktionale Zuständigkeit für die Vollstreckung und ist nicht analogiefähig. Es greifen vielmehr die Vorschriften des FamFG. Auch für eine Abänderung nach § 166 Abs. 1 FamFG ist das Familiengericht zuständig, auch wenn eine Entscheidung des Beschwerdegerichts abzuändern ist.
Das erstinstanzliche Gericht muss prüfen, ob der Abänderungsantrag gegen eine Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ zulässig ist. Weder den Regelungen des HKÜ noch des IntFamRVG sind Einschränkungen zu entnehmen. Aufgrund des Verweises in § 14 Nr. 2 IntFamRVG auf die für Kindschaftssachen geltenden Vorschriften des FamFG gelten die allgemeinen Vorschriften in Familiensachen und damit auch die Regelungen dazu, Kindschaftssachen abzuändern. Der vorrangig geltende § 166 Abs. 1 FamFG ist nicht einschlägig, da er durch seinen Verweis auf § 1696 BGB auf Sorge- und Umgangsentscheidungen beschränkt ist. Denn Rückführungsentscheidungen nach dem HKÜ sind nach Art. 19 HKÜ gerade keine Sorgeentscheidungen. Es kommt aber § 48 Abs. 1 FamFG in Betracht. Zwar handelt es sich bei der Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ nicht um eine Endentscheidung mit Dauerwirkung, aber deswegen um eine Entscheidung i. S. d. § 48 Abs. 1 FamFG, da die Rechtsfolgen während eines bestimmten Zeitraums und nicht lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt eintreten. Denn die Rückkehrpflicht ist erst erfüllt, wenn die Rückkehr in den Staat veranlasst worden ist und eine gewisse Aufenthaltsdauer in diesem Staat eingehalten wird.
Die Auffassung des V, ein Abänderungsverfahren sei im Fall einer Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ unzulässig, findet keine Grundlage im Gesetz. Das IntFamRVG enthält keine Aussage dazu, dass ein Abänderungsverfahren unzulässig ist. Zwar sind die Bedenken, dass die Zulässigkeit eines Abänderungsverfahrens dem Sinn und Zweck des HKÜ-Verfahrens, das entführte Kind zügig zurückzuführen, entgegenstehe und das Auseinanderfallen der Zuständigkeiten für Vollstreckungs- und Abänderungsverfahren zu Problemen führe, nicht von der Hand zu weisen. Dies rechtfertigt aber nicht den Ausschluss einer gesetzlich vorgesehenen Verfahrensmöglichkeit. Eine solche kann nur der Gesetzgeber vornehmen.
Relevanz für die Praxis
Rückführungsverfahren nach dem HKÜ sind keine Kindschaftssachen i. S d. § 151 FamFG, insbesondere keine Sorgerechtsverfahren, sondern Verfahren sui generis. Sie dienen dazu, Kinder schnellstmöglich wieder in den Staat ihres gewöhnlichen Aufenthalts zurückzuführen, nachdem diese widerrechtlich in einen anderen Vertragsstaat verbracht oder widerrechtlich in einem Vertragsstaat zurückgehalten worden sind. Die Gerichte des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts können besser über Fragen des Sorge- und Umgangsrechts entscheiden. Das HKÜ geht von der Prämisse aus, dass es dem Wohl des Kindes am besten entspricht, das entführte Kind sofort an den bisherigen Aufenthaltsort zurückzuführen, weil dadurch die Kontinuität der Lebensbedingungen erhalten bleibt. Art. 12 Abs. 2, 13, 20 HKÜ sehen Ausnahmetatbestände vor, deren Vorliegen der Antragsgegner beweisen muss (ausführlich dazu Erb-Klünemann, FK 11, 140 ff.).
Diese Verfahren werden für Kinder, deren Entführung nach Deutschland geltend gemacht wird, erstinstanzlich beim AG am Sitz des OLG als Spezialgericht geführt, §§ 11, 12 IntFamRVG. Als Ausfluss des besonderen Beschleunigungsgrundsatzes, der nach Art. 2 S. 2 HKÜ, § 38 S. 1 IntFamRVG für diese Verfahren gilt, ist der Rechtsmittelzug verkürzt. Nach § 40 Abs. 2 S. 1 und S. 2 IntFamRVG kann binnen einer Frist von zwei Wochen Beschwerde beim OLG eingelegt werden, eine Rechtsbeschwerde findet nach § 40 Abs. 2 S. 4 IntFamRVG nicht statt. Der Rechtsmittelweg ist deswegen schnell erschöpft.
Hier ist es praktisch bedeutsam, ob ein Abänderungsverfahren zulässig ist. Ein solches sieht das HKÜ nicht vor. Sowohl das OLG Hamm als auch das OLG Rostock leiten die Zulässigkeit aus dem Verweis in Art. 14 Nr. 2 IntFamRVG auf die für Kindschaftssachen geltenden FamFG-Vorschriften her. Das OLG Karlsruhe hat die Abänderungsmöglichkeit bejaht, wenn konkretisierbare, als besonders erheblich erscheinende und aktuell vorliegende Umstände gegeben sind, aus denen sich die greifbare Gefahr einer schweren seelischen oder körperlichen Gefährdung des Kindes und damit eine Unvereinbarkeit der Rückgabe mit dem Kindeswohl ergibt. Es hat als Rechtsgrundlage § 1696 BGB analog herangezogen (3.4.00, 2 WF 31/00, 33/00 38/00 und 23.4.02, 2 UF 61/02).
Dies ist sämtlich keinesfalls zwingend. Im Wege der telelogischen Auslegung erscheint es vielmehr angezeigt, dass der Verweis in § 14 Nr. 2 IntFamRVG nach Sinn und Zweck des HKÜ dahin gehend eingeschränkt wird, dass er gerade keine Abänderungsverfahren umfasst. Denn dies würde dem besonderen Beschleunigungsgrundsatz widersprechen und eine im HKÜ als internationaler Verpflichtung nicht vorgesehene Möglichkeit einer weiteren Anfechtungsmöglichkeit neben den ordentlichen Rechtsmitteln schaffen. Dem Schuldner ist im Fall dieser einschränkenden Auslegung der Rechtsweg auch nicht abgeschnitten. Er kann Rechtsmittel im Vollstreckungsverfahren – das das Gericht nach § 44 Abs. 3 IntFamRVG von Amts wegen betreibt – einlegen, § 44, § 14 Nr. 2 IntFamRVG, §§ 89 ff. FamFG. Denn „widrige Umstände“ sind gem. EGMR (Rechtssache Raw gegen Frankreich, 7.3.13, 10131/11) im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Die deutsche Rechtsprechung erkennt Folgendes an: Ist nach Erlass der Rückführungsentscheidung unvorhersehbar ein Ausnahmetatbestand entstanden, insbesondere, dass die Rückführung mit dem Kindeswohl unvereinbar ist, kommt eine Aussetzung oder gänzliche Ablehnung der Vollstreckung infrage (OLG Frankfurt, 28.6.2019, 4 UF 136/19, m. w. N.).
Die Frage, ob ein Abänderungsverfahren in Bezug auf Rückführungsentscheidungen nach dem HKÜ zulässig ist, ist m. E. daher weiterhin offen. Ungeklärt ist ferner, bei welchem Gericht der Abänderungsantrag zu stellen ist, wenn die Rückführungsentscheidung vom OLG stammt oder von diesem bestätigt worden ist.
Nach Nr. V.3. der Empfehlungen des Vorstands des 24. Deutschen Familiengerichtstag 2023 ist – was sehr zu begrüßen ist – eine rechtskräftige Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ nicht in einem Erkenntnisverfahren abänderbar. Dem Gesetzgeber wird dennoch eine ausdrückliche Klarstellung im IntFamRVG empfohlen. Es ist zu hoffen, dass der Gesetzgeber Klarheit schafft.
Praxistipp | Aufgrund des besonderen Beschleunigungsgrundsatzes in HKÜ-Verfahren ist es besonders wichtig, sämtliche Umstände und Beweismittel zeitnah und möglichst bereits im Erkenntnisverfahren vorzutragen. Nur später entstandene Tatsachen, die das Kindeswohl erheblich beeinträchtigen, werden im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt. |
- Erb-Klünemann, Das müssen Sie im Fall einer internationalen Kindesentführung zivilrechtlich beachten, FK 11, 140 ff.
AUSGABE: FK 1/2025, S. 7 · ID: 50155659