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FahrverbotNeue(re) Rechtsprechung zum Fahrverbot
| Wir haben zuletzt in VA 22, 183 aktuelle Rechtsprechung zum Fahrverbot vorgestellt. Daran schließt dieser Beitrag an. Er stellt die seitdem ergangene Rechtsprechung vor. |
Übersicht 1 / Allgemeines | ||
Umstände des Einzelfalls | Entscheidung | Fundstelle |
Absehen vom gesetzlichen Regelfahrverbot nach einer Trunkenheitsfahrt nach § 24a Abs. 1 StVG. | Das Absehen kann nur in einem Härtefall ganz außergewöhnlicher Art in Betracht kommen, oder wenn wegen besonderer Umstände äußerer oder innerer Art das Tatgeschehen ausnahmsweise derart aus dem Rahmen einer typischen Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG herausfällt, dass die Anordnung des Regelfahrverbots als offensichtlich unpassend anzusehen wäre. | BayObLG 28.9.23, 202 ObOWi 780/23, Abruf-Nr. 238703 |
Das AG nimmt nach einer Trunkenheitsfahrt gem. § 24a Abs. 1 StVG einen sog. Härtefall an. | Das Absehen vom Fahrverbot kann nicht allein damit begründet werden, dass bei einer nur wenige Minuten andauernden Alkoholfahrt eine Wegstrecke von lediglich 200 m zurückgelegt wurde. Dies gilt erst recht, wenn der Atemluftgrenzwert nach § 24a Abs. 1 StVG von 0,25 mg/l nicht nur geringfügig überschritten, sondern die Alkoholkonzentration nahe zum Grenzwert der (absoluten) Fahruntüchtigkeit i. S. v. § 316 Abs. 1 StGB lag. | BayObLG 28.9.23, 202 ObOWi 780/23, Abruf-Nr. 238703 |
Es wird ein Fahrverbot verhängt, obwohl die Fahrerlaubnis durch die Fahrerlaubnisbehörde entzogen worden ist. | Auch in diesem Fall kann ein Fahrverbot verhängt werden. Denn die Eintragung eines Fahrverbots im FAER wird im Wiederholungsfall bei künftigen Zumessungserwägungen oder auch für die Frage, ob dem Betroffenen eine viermonatige Schonfrist zu gewähren ist, regelmäßig von Bedeutung sein. | OLG Düsseldorf 19.12.22, IV-2 RBs 179/22, Abruf-Nr. 233166 |
Verhängung eines Fahrverbots wegen Nichtbildung einer Rettungsgasse auf autobahnähnlich ausgebauten innerörtlichen Straßen. | Unzulässig, da kein Fall des § 11 Abs. 2 StVO. | BayObLG 26.9.23, 201 ObOWi 971/23, Abruf-Nr. 238702 |
Praxistipp | Ein Fahrverbot nach § 25 Abs. 1 S. 2 StVG und die Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Fahrerlaubnisbehörde sind keine „Doppelbestrafung“ (OLG Düsseldorf 19.12.22, IV-2 RBs 179/22, Abruf-Nr. 233166). |
Übersicht 2 / Beharrlicher Verstoß/Regelfahrverbot nach § 4 Abs. 2 BKatV |
Für die Wertung eines Pflichtenverstoßes als beharrlich im Sinne des § 25 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StVO genügt es, wenn dem Betroffenen vor der neuen Tat das Unrecht einer früheren Tat auf andere Weise als durch rechtskräftige Ahndung bewusst geworden ist. Das ist etwa der Fall, wenn er durch die Zustellung eines Bußgeldbescheids positive Kenntnis von der Verfolgung der früheren Ordnungswidrigkeit erlangt und Feststellungen den Schluss zulassen, der Betroffene habe sich über diesen Warnappell hinweggesetzt (OLG Hamburg VA 19, 103). |
Übersicht 2 / Beharrlicher Verstoß / Regelfahrverbot nach § 4 Abs. 2 BKatV | ||
Umstände des Einzelfalls | Entscheidung | Fundstelle |
Verhängung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Verstoßes. | Für die Verhängung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Verstoßes gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gemäß § 25 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StVG ist eine hinreichend aussagekräftige Darstellung der Vorahndungslage unerlässlich. | BayObLG 13.12.22, 202 ObOWi 1458/22, Abruf-Nr. 234451, |
Übersicht 3 / Längerer Zeitraum zwischen Tat und Urteil | ||
Umstände des Einzelfalls | Entscheidung | Fundstelle |
Zeitraum zwischen Tat und dem Urteil beträgt weniger als zwei Jahre. | Erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung ist allein wegen der Verfahrensdauer die Herabsetzung eines mehrmonatigen Regelfahrverbots in Betracht zu ziehen, wenn sich der Betroffene in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat. | BayObLG 10.7.23, 201 ObOWi 621/23, Abruf-Nr. 237742 |
Zeitraum von über zwei Jahren zwischen Tat und Urteil. | Es müssen besondere Umstände für die Annahme vorliegen, dass ein Fahrverbot noch unbedingt notwendig ist. ebenso: OLG Brandenburg 4.7.22, 2 OLG 53 Ss-OWi 260/22; OLG Hamm 6.9.22, III-5 RBs 331/22 (Zeitraum deutlich über 3 Jahre); OLG Karlsruhe 13.1.23, 1 Rb 36 Ss 778/22, Abruf-Nr. 234455. | OLG Frankfurt a. M. 24.7.23, 3 Ss-OWi 1316/22, Abruf-Nr. 237235 |
Der Betroffene ist in dem zwischen Tat und Urteil liegenden Zeitraum verkehrsrechtlich in Erscheinung getreten. | Muss berücksichtigt werden. | BayObLG 10.7.23, 201 ObOWi 621/23, Abruf-Nr. 237742 |
Zeitablauf von 17 Monate seit der zu ahnenden Tat, der Betroffene hat seitdem weitere Ordnungswidrigkeiten begangen. | Fahrverbot unbedenklich. | OLG Brandenburg 8.7.22, 1 OLG 53 Ss-OWi 241/22, Abruf-Nr. 230591 |
Der letzte Geschwindigkeitsverstoß liegt 1,5 Jahre zurück. Der Betroffene ist nach dem tatgegenständlichen Vorfall nicht wieder in Erscheinung getreten. | Ein Absehen vom Fahrverbot ist möglich. | AG Aschersleben 20.2.23, 62 OWi 29/22 |
Übersicht 4 / Augenblicksversagen | ||
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen ja oder nein? | Fundstelle |
Annahme eines sog. „Augenblicksversagens“. | Ein „Augenblicksversagen“ kann nur in besonders gearteten Ausnahmefällen in Rechnung gestellt werden. | KG 27.2.23, 3 Orbs 22/23, zfs 23, 351 = DAR 23, 707 |
Der Betroffene beruft sich im Hinblick auf ein angeblich übersehenes Zeichen 274 auf „Augenblicksversagen“- | Zweifelhaft, wenn der Betroffene sogar die innerörtlich üblicherweise geltende Geschwindigkeitsbegrenzung (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO) überschreitet. | KG 27.2.23, 3 Orbs 22/23, zfs 23, 351 = DAR 23, 707 |
Der Betroffene fährt auf einem markierten (Linksabbieger-)Fahrstreifen i. S. d. § 37 Abs. 2 Nr. 4 StVO in eine Kreuzung, obwohl die Wechsellichtzeichenanlage Rot zeigt. | Es handelt sich um einen Rotlichtverstoß. Das Tatgericht muss sich hinsichtlich eines Fahrverbots mit der Frage auseinandersetzen, dass die Kreuzung wegen des grünen Lichtzeichens für die Geradeausspur, auf die der Betroffene im Kreuzungsbereich wechselte, für Querverkehr gesperrt war, wodurch die abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer gemindert war. | OLG Rostock 24.1.24, 21 ORbs 6/24, Abruf-Nr. 240280 |
Übersicht 5 / Absehen vom Fahrverbot aus beruflichen Gründen? | ||
Umstände des Einzelfalls | Absehen: ja oder nein? | Fundstelle |
Verlust des Arbeitsplatzes. | Der Verlust des Arbeitsplatzes sowie ein drohender Existenzverlust des Betroffenen können im Einzelfall eine unverhältnismäßige Härte darstellen und eine Ausnahme von der Verhängung eines Fahrverbots rechtfertigen. Dies muss jedoch ausführlich begründet werden. | OLG Frankfurt a. M. 26.4.22, 3 Ss-OWi 415/22, Abruf-Nr. 229128 |
Der Betroffene geht keiner Arbeitstätigkeit nach. | Eine ganz außergewöhnliche Härte ist dann nicht ersichtlich. | KG 27.2.23, 3 ORbs 31/23, Abruf-Nr. 236049 |
Ein (nur) für einen Kalendermonat nachgewiesenes geringfügiges negatives Betriebsergebnis. | Das AG muss dieses nicht zum Anlass nehmen, sog. Abschirmungsmaßnahmen, wie z. B. die Beschäftigung eines Fahrers für die Zeit des Fahrverbots, für unzumutbar zu halten. | KG 20.4.23, 3 ORbs 68/23, Abruf-Nr. 237088 |
Der Betroffene ist arbeitslos/Rentner/Beamter. | Rentner sind ebenso wie etwa Arbeitslose und natürlich auch Beamte grundsätzlich nicht auf die Existenz einer Fahrerlaubnis zwingend angewiesen. | AG Dortmund 11.10.22, 729 OWi-262 Js 1751/22-110/22, Abruf-Nr. 232789 |
Übersicht 6 / Absehen vom Fahrverbot aus sonstigen Gründen | ||
Umstände des Einzelfalls | Absehen: ja oder nein? | Fundstelle |
Beim Abbiegen ohne besondere Rücksichtnahme auf Fußgänger ist es zum Unfall gekommen. | Von dem an sich verwirkten Regelfahrverbot abzusehen, weil der Betroffene nicht rücksichtslos gehandelt habe und der Geschädigte nicht schwerwiegend verletzt worden sei, ist rechtsfehlerhaft. | BayObLG 13.11.23, 201 ObOWi 1169/23, Abruf-Nr. 239092 |
Das AG rechtfertigt das Absehen vom Regelfahrverbot mit dem „positive Nachtatverhalten“ des Betroffenen. | Unzulässig, da das Verhalten eines Betroffenen nach einem von ihm verschuldeten Verkehrsunfall regelmäßig nicht das Absehen vom Regelfahrverbot rechtfertigt. | BayObLG 13.11.23, 201 ObOWi 1169/23, Abruf-Nr. 239092 |
Der Betroffene macht eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung geltend. | Ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab. Insoweit verbietet sich eine an feste Zeitgrenzen gebundene generelle Bewertung der bloßen zeitlichen Abläufe. Eine Bearbeitungsdauer von neun Monaten für die Erstellung der Gegenerklärung der Generalstaatsanwaltschaft zur Rechtsbeschwerdebegründung des Verteidigers ist im Hinblick auf eine 82 Seiten lange Rechtsbeschwerdebegründung mit erheblicher Begründungstiefe nicht zu beanstanden. Kompensation daher verneint. | OLG Stuttgart 17.1.23 6 Rb 25 Ss 168/22, Abruf-Nr. 234457 |
Der Verteidiger regt in der Hauptverhandlung an, die Geldbuße gegen ein Absehen vom Fahrverbot zu verdoppeln. Die Betroffene erklärt jedoch, dass sie dann lieber für die Zeit eines Fahrverbotes laufe, aber nicht so viel für einen Verstoß zahlen wolle. | Die Anwendung des § 4 Abs. 4 BKatV ist dem Betroffenenwillen entsprechend ausgeschlossen. | AG Dortmund 11.10.22, 729 OWi-262 Js 1751/22-110/22, Abruf-Nr. 232789 |
Der Ehegatte der Betroffenen ist selbst Führerscheininhaber und die Betroffene erklärt, bei Bedarf könne er sie fahren. | Fahrverbotsrelevante Härten scheiden aus. | AG Dortmund 11.10.22, 729 OWi-262 Js 1751/22-110/22, Abruf-Nr. 232789 |
Mehrfacher Verkehrsverstoß an derselben Stelle und verbüßtes Fahrverbot. | Für die Annahme eines besonderen Ausnahmefalls, der zum Absehen von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot führt, reicht es nicht aus, wenn der Betroffene etwa sechs Wochen vor dem zur Verurteilung anstehenden Vorfall an der gleichen Messstelle einen gleichartigen Verkehrsverstoß begangen hat, der mit einem Fahrverbot geahndet worden ist, das zwischen hiesiger Tatbegehung und der Aburteilung im vorliegenden Verfahren verbüßt wurde. | AG Frankfurt a. M. 17.11.23 971 OWi 916 Js 59363/23, |
Übersicht 7 / Anforderungen an das tatrichterliche Urteil / Prozessuales | ||
Umstände des Einzelfalls | Entscheidung | Fundstelle |
Es wird eine ganz außergewöhnliche Härte geltend gemacht, die zum Absehen vom Fahrverbot führen soll. | Die Aufklärung von Amts wegen zur Feststellung fahrverbotsfeindlicher Umstände ist nicht geboten: Es obliegt insoweit dem Betroffenen, entsprechende Umstände vorzutragen. | KG 27.2.23, 3 ORbs 31/23, Abruf-Nr. 236049; OLG Frankfurt a. M. 26.4.22 3 Ss-OWi 415/22, Abruf-Nr. 229128 |
Es wird ein sog. „Härtefall“ angenommen. | Die Annahme eines Härtefalles muss ausführlich begründet werden. | OLG Frankfurt a. M. 26.4.22 3 Ss-OWi 415/22, Abruf-Nr. 229128 |
Der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid wird auf die Höhe einer verhängten Geldbuße beschränkt. Zugleich ist ein Fahrverbot verhängt worden. | Zulässig. | AG Dortmund 11.8.22, 729 OWi-265 Js 881/22-62/22, Abruf-Nr. 231250 |
Das AG rechtfertigt eine außergewöhnliche Härte und das Absehen vom Fahrverbot mit den mit einem Fahrverbot verbundenen Einschränkungen des Kindesumgangsrechts | Ja, aber die mit einem Fahrverbot verbundenen Einschränkungen des Kindesumgangsrechts müssen positiv festgestellt werden. | BayObLG 7.11.23, 201 ObOWi 1115/23, Abruf-Nr. 239091 |
Ein „Augenblicksversagen“ kann nur in besonders gearteten Ausnahmefällen angenommen werden. | Ohne besondere Umstände müssen sich die Urteilsgründe nicht mit einem Augenblicksversagen befassen. | OLG Frankfurt a. M. 26.4.22 3 Ss-OWi 415/22, Abruf-Nr. 229128, KG 27.2.23, 3 Orbs 22/23, zfs 23, 351 |
AUSGABE: VA 5/2024, S. 87 · ID: 49958356