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ReparaturkostenBGH zum Reparaturauftrag ohne vorheriges Gutachten: Droht da eine ernsthafte Gefahr?
| In der Serie der BGH-Urteile vom 16.01.2024 zum Werkstattrisiko fällt eines auf, dass jedes Potenzial hat, von interessierten Versicherern für eine Verunsicherungskampagne missbraucht zu werden. Wird dessen Leitsatz b aus dem Zusammenhang gerissen, klingt er sehr gefährlich für das gesamte gut eingespielte System der erfolgreichen Schadenabwicklung. UE zeigt, warum Unruhe von Versicherer-Seite zu befürchten ist, und liefert Ihnen die passenden Gegenargumente und Textbausteine für die Praxis. |
Um diese Passage im BGH-Urteil geht es
In dem BGH-Urteil vom 16.01.2024 (Az. VI ZR 51/23, Abruf-Nr. 239195) heißt es „Der aufgrund eines Verkehrsunfalls Geschädigte darf bei der Beauftragung einer Fachwerkstatt mit der Reparatur des Unfallfahrzeugs grundsätzlich darauf vertrauen, dass diese keinen unwirtschaftlichen Weg für die Schadensbeseitigung wählt und nur die objektiv erforderlichen Reparaturmaßnahmen durchführt. Er ist daher aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht gehalten, vor der Beauftragung der Fachwerkstatt zunächst ein Sachverständigengutachten einzuholen und den Reparaturauftrag auf dessen Grundlage zu erteilen.“
Aus diesem Grund ist Unruhe zu befürchten
Man kann daran fühlen, dass es in Schriftsätzen auf Seiten mancher Versicherer bald heißen wird: Das Schadengutachten sei wegen des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht erforderlich gewesen. Der BGH habe ja gesagt, dass der Geschädigte auch dann in seinen Dispositionen geschützt sei, wenn er sich einfach nur auf die Werkstatt verlasse. Also hätte ein Kostenvoranschlag der Werkstatt ausgereicht. Die unterschwellige oder gar deftige Ansage aus Versicherermund an die Werkstatt, man wünsche viel Freude damit, den Kunden demnächst zu erklären, dass sie das Gutachten nun selbst bezahlen müssen, könnte manchen Werkstattmitarbeiter verunsichern.
Doch sieht man genauer hin, heißt es dort, dass der Geschädigte „nicht gehalten ist“, ein Schadengutachten einzuholen, also dass er das nicht muss. Da steht nicht, dass er das nicht darf. Dennoch gibt es die Verknüpfung mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Die wird vielleicht mancher Instanzrichter gern sehen: Käme er zum Ergebnis „Gutachten war nicht erforderlich“, muss er sich mit der Kürzung der Ansprüche des Geschädigten im Hinblick auf die Erstattung der Gutachterkosten nicht mehr herumschlagen.
Das ist der Hintergrund für diese Urteilspassage
In dem BGH-Fall gab es aber ein Schadengutachten. Der Gutachter war allerdings durch die Werkstatt ausgesucht. Dann, so der Versicherer, sei das ein „Schadenservice aus einer Hand“ mit der Folge, dass sich der Geschädigte nicht auf den Inhalt des Gutachtens verlassen dürfe, weil der ja offensichtlich der Werkstatt nach dem Mund rede.
Im Zusammenhang gelesen ist die BGH-Entscheidung wohl so zu verstehen: Der Geschädigte hätte sich ja sogar auf die „Werkstatt pur“ verlassen dürfen. Unterstelle man der ein Interesse an einem überhöht ermittelten Schaden, hätte sie dieses Ziel bei einem Kostenvoranschlag auch verfolgt. Und der Geschädigte wäre dennoch geschützt gewesen, weil er der Werkstatt insoweit vertrauen darf. So werden die geschätzten Reparaturkosten ja gar nicht höher, wenn ein willfähriger Gutachter der Werkstatt entgegen seiner dann nur scheinbaren Neutralität entgegenkäme.
Also, so der BGH, führt allein die Auswahl des Schadengutachters durch die Werkstatt ohne weitere Anhaltspunkte unredlichen Verhaltens nicht zur Annahme eines Auswahl- oder Überwachungsverschuldens.
Es gibt einen Punkt auf der Habenseite
Wandelt man die BGH-Entscheidung etwas ab, wäre so ein Fall vorstellbar: Lässt sich der Geschädigte ggf. vom Versicherer im Erstgespräch verleiten, lediglich einen Kostenvoranschlag der Werkstatt einzuholen oder die Werkstatt gar freihändig ohne jede vorherige Abschätzungsgrundlage zu beauftragen, steht er im Hinblick auf den subjektbezogenen Schadenbegriff in der Ausprägungsform des Werkstattrisikos nicht völlig schutzlos da.
Allerdings fehlt dann die „Im Wesentlichen-Übereinstimmung“ der Werkstattrechnung mit dem vorhergehenden Gutachten als Indiz für die Erforderlichkeit der unbezahlten (Rest-)Rechnung im Sinne des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB. Der Schutz ist dann also nur eingeschränkt gegeben.
Aus diesen Gründen ist ein Gutachten erforderlich
Es gibt gute Argumente, warum ein Gutachten erforderlich ist. Diese finden Sie nachfolgend in der Übersicht aufgelistet, sortiert nach Argumenten „für alle Fallgruppen“, „für die Fallgruppe der Grenzwert-Konstellationen“ sowie „für die Fallgruppe mit großem Abstand zwischen Reparaturkosten und WBW“.
Überblick: Argumente für ein Gutachten |
Das sind die Argumente für alle Fallgruppen |
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Das sind die Argumente für die Fallgruppe der Grenzwert-Konstellationen |
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Das sind die Argumente für die Fallgruppe mit großem Abstand zwischen Reparaturkosten und WBW |
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Aus Sicht der Werkstatt gibt es eine weitere Überlegung
Aus Sicht der Werkstatt gibt es weitere Überlegung, die für ein Gutachten spricht – die Regresssicherheit.
Das Regress-Szenario bei der Werkstatt
Hat die anwaltliche Vertretung des Geschädigten die vom Versicherer in der Regel auf der Grundlage zweifelhafter Prüfberichte gekürzten Schadenersatzansprüche auf der Grundlage des subjektbezogenen Schadenbegriffs Zug um Zug gegen Abtretung der eventuellen Rückforderungsansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt an den Versicherer durchgesetzt (Zahlung an die Werkstatt beantragen!), folgt bei einem Münsteraner Versicherer, der aber nun auch mehrere Nachahmer findet, nicht selten die Rückforderungsklage. Die Beträge aus dem Prüfbericht müsse die Werkstatt als Überzahlung an den Versicherer zurückerstatten.
Versicherer-Seite lässt sich mit Gutachten Wind aus den Segeln nehmen
Jedenfalls nach bisherigem Stand der Rechtsprechung dazu ist es da sehr hilfreich, wenn die Werkstatt den Auftrag hatte, auf der Grundlage der gutachterlichen Feststellungen zu reparieren. Das hat das AG Duisburg-Hamborn auf den Punkt gebracht (Urteil vom 13.10.2023, Az. 23 C 199/23, Abruf-Nr. 238374):
„Vorgerichtliche Gutachten in Unfallsachen dienen gerade einer unabhängigen Ermittlung der Schadenhöhe bzw. der erforderlichen Kosten, insbesondere unabhängig von einem etwaigen Interesse einer Werkstatt an einer möglichst hohen Vergütung. Die Einholung eines vorgerichtlichen Gutachtens wäre überflüssig und sinnwidrig, wenn der Auftrag an die Werkstatt dann lauten würde, das Gutachten außer Acht zu lassen und die Arbeiten auszuführen, die die Werkstatt für sinnvoll hält. Im Übrigen liegt dem Konzept der Schadenregulierung zugrunde, dass der Schadengutachter mehr Sachkunde habe als die Werkstatt.“
So kann sich die Werkstatt im Regressverfahren darauf stützen, dass die Reparatur im Umfang der gutachterlichen Feststellungen beauftragt war. Deshalb sei sie auch denn nicht überzahlt, sondern bezahlt, wenn auch weniger aufwändig hätte repariert werden können. So kommt es gar nicht darauf an, ob die These des Versicherers, dies und das sei zu aufwendig instandgesetzt worden, tragfähig ist.
Salopp gesagt: „Ich war’s nicht, der Gutachter war’s“ funktionierte eben nur, wenn es der Gutachter war. Das Argument, die Werkstatt dürfe sich nicht auf das Gutachten verlassen, denn sie müsse dem Kunden überflüssige Reparaturschritte abraten, ist zahnlos, denn der Kunde käme dadurch in einen Entscheidungskonflikt (LG Köln, Hinweisbeschluss vom 24.01.2024, Az. 6 S 168/23, Abruf-Nr. 239400), was einen kausalen Schaden ausschlösse.
- Textbaustein 598: Schadengutachten ist erforderlich, BGH-Az. VI ZR 51/23 steht dem nicht entgegen, auf Seite 17 dieser Ausgabe → Abruf-Nr. 49909527
- RA069: Schadengutachten ist erforderlich, BGH-Az. VI ZR 51/23 steht dem nicht entgegen → Abruf-Nr. 49909965
- Beitrag „Sofortiger Handlungsbedarf! Die neuen BGH- Urteile zum Werkstattrisiko sind veröffentlicht“, UE 2/2024, Seite 5 → Abruf-Nr. 49876344
- Beitrag „Neues Schreiben eines Versicherers zu Demontagekosten bei der Gutachtenerstellung – was ist davon zu halten?“ UE 2/2024, Seite 2 → Abruf-Nr. 49878399
- Beitrag „BGH: ‚Schadenservice aus einer Hand‘ ist kein Auswahlverschulden“, UE 2/2024, Seite 2 → Abruf-Nr. 49877635
- Beitrag „BGH: Wenn Werkstattrisiko, dann keine Beweisaufnahme“, UE 2/2024, Seite 1 → Abruf-Nr. 49882384
- Beitrag „BGH: Auch – für Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte Reparaturschritte unterfallen Werkstattrisiko, UE 2/2024, Seite 1 → Abruf-Nr. 49877682
AUSGABE: UE 3/2024, S. 6 · ID: 49909524