Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Jan. 2025 abgeschlossen.
Fiktive AbrechnungDie Disposition des Geschädigten und ihr Einfluss auf die Abrechnung des Schadens
| Der Geschädigte hält ein Schadengutachten in den Händen, das Reparaturkosten aufweist, die oberhalb des Wiederbeschaffungsaufwands (WBA) liegen. Er entscheidet sich für die Abschaffung des Fahrzeugs und erwartet nun den Wiederbeschaffungsaufwand als Schadenersatz. Der Versicherer kontert mit einem Prüfbericht, mit dem er die Reparaturkosten so weit herunterrechnet, dass sie nun niedriger sind als der WBA. Aus Sicht des Geschädigten tut sich eine finanzielle Lücke auf. |
Er beruft sich darauf, auf das Gutachten vertrauen zu dürfen. Seine darauf gestützte Disposition müsse geschützt sein. Der Versicherer hingegen stellt sich auf den Standpunkt, die Disposition sei ein konkretes Element. Da die Abrechnung der Reparaturkosten nun mangels Reparatur auf fiktiver Basis erfolge, sei eine Vermischung dieser fiktiven Abrechnung mit einem konkreten Element unzulässig.
1. Das Vermischungsargument trägt nicht
Eine Disposition des Geschädigten im Hinblick auf das Gutachten, dem er vertrauen darf, wenn es den Anforderungen entspricht, ist nach Auffassung von VA kein Element einer konkreten Abrechnung, das die fiktive Abrechnung „vergiftet“.
Das ergibt sich aus Leitsatz a) in BGH 13.10.09, VI ZR 318/08, Abruf-Nr. 093553: „Im Falle eines wirtschaftlichen Totalschadens kann der Geschädigte, der ein Sachverständigengutachten einholt, das eine korrekte Wertermittlung erkennen lässt, und im Vertrauen auf den darin genannten Restwert und die sich daraus ergebende Schadenersatzleistung des Unfallgegners sein Fahrzeug reparieren lässt und weiternutzt, seiner Schadensabrechnung grundsätzlich diesen Restwertbetrag zugrunde legen.“
Das war ein „Weiternutzungsfall“ und damit ein Totalschaden ohne nachgewiesene Ersatzbeschaffung und ohne nachgewiesene Reparatur. Also war es eine fiktive Abrechnung. Denn eine Kaufrechnung für ein Ersatzfahrzeug war nicht die Grundlage der Schadenbezifferung, stattdessen war es das Schadengutachten.
2. BGH hat Disposition bei fiktiver Abrechnung geschützt
Die Disposition des Geschädigten im Vertrauen auf das Gutachten wurde dort also geschützt und nicht etwa in den Giftschrank des „Mischen impossible“ entsorgt. Dass die im konkreten Fall nicht zum Erfolg führte, lag allein daran, dass das Gutachten im Hinblick auf die Restwertermittlung laienerkennbar unbrauchbar und damit im Hinblick auf die Höhe des anzurechnenden Restwerts keine tragfähige Grundlage war.
Ergänzend können auch die „Unter Hundert“-Urteile des BGH herangezogen werden, exemplarisch das Urteil vom 23.5.06 (VI ZR 192/05, Abruf-Nr. 061832): „Der Geschädigte kann zum Ausgleich des durch den Unfall verursachten Fahrzeugschadens, der den Wiederbeschaffungswert nicht übersteigt, die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswerts ohne Abzug des Restwerts verlangen, wenn er das Fahrzeug – gegebenenfalls unrepariert – mindestens sechs Monate weiter nutzt.“
Hier gibt es ebenfalls eine Disposition des Geschädigten, nämlich die, das Fahrzeug unrepariert weiter zu nutzen. Und die ist auch kein „Gift“, sondern sogar die Voraussetzung für die fiktive Abrechnung der Reparaturkosten ohne Anrechnung des Restwerts.
3. Die umgekehrte Auffassung in der Nagelprobe
Die Auffassung, eine Disposition und deren wirtschaftliches Ergebnis seien der fiktiven Abrechnung nicht zugänglich („Mischen impossible“), mag man folgender Nagelprobe unterziehen: Wiederbeschaffungswert laut Gutachten 10.000 EUR netto, Restwert mit drei Angeboten hinterlegt 2.000 EUR brutto. Der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Geschädigte wählt die fiktive Abrechnung des Schadens auf der Grundlage des Gutachtens. Tatsächlich hat der Geschädigte für den Unfallwagen jedoch 5.000 EUR brutto erzielt.
Auf eine konkrete Abrechnung kann der Geschädigte – unabhängig davon, dass er das nicht muss – schon deshalb nicht umstellen, weil er keinen Ersatz beschafft hat. Der Auffassung zur Bedeutungslosigkeit der Disposition folgend hat er nun dennoch Anspruch auf den Wiederbeschaffungsaufwand von 8.000 EUR, denn die Einstellung des Betrags von 5.000 EUR wäre eine unzulässige Vermischung von einem konkreten Element mit einer fiktiven Abrechnung. Das kann man kaum ernst meinen.
4. Aus der Rechtsprechung
Das LG Saarbrücken entschied: „Andernfalls könnte der Geschädigte die ihm zustehende Schadensbehebung nicht mehr selbstständig durchführen, weil er stets damit rechnen müsste, dass die Grundlagen seiner Schadenskalkulation im Nachhinein verändert werden könnten. Sein Vertrauen auf die gutachterliche Bewertung „seines“ Sachverständigen und die darauf fußende Kalkulation ist folglich bei der Durchführung einer Wiederherstellungsmaßnahme grundsätzlich schützenswert.“ (LG Saarbrücken 15.9.17, 13 S 59/17, Abruf-Nr. 196952).
Wenn sich der Geschädigte auf der Grundlage des Schadengutachtens zu einer Ersatzbeschaffung entschließt und diese auch vornimmt, kann der Versicherer die Reparaturkosten nicht im Nachhinein auf einen Reparaturschaden herunterrechnen (LG Lübeck 28.5.21, 2 O 298/19, Abruf-Nr. 226210).
5. Musterformulierung
Wir haben eine entsprechende Musterformulierung vorbereitet. Sie finden diese im Downloadbereich unter iww.de/va und unter Abruf-Nr. 50264375.
AUSGABE: VA 1/2025, S. 8 · ID: 50262995