Checkliste / Urteilsüberprüfung bei Geschwindigkeitsverstoß |
Darüber hinaus gelten auch die in VA 24, 198 ff. dargestellten Anforderungen. 1. Ist die Täterschaft ausreichend sicher festgestellt? Falls der Mandant bestritten hat, bei dem Verkehrsverstoß der Fahrer des Pkw gewesen zu sein, stellt sich zunächst die Frage, ob seine Fahrereigenschaft und damit die Täterschaft des Mandanten zum Vorfallszeitpunkt ausreichend sicher festgestellt ist (dazu auch VA 23, 160 ff.). - Alternative 1: Es sind (nur) Zeugen vernommen worden:
- Sind die Angaben der Zeugen zutreffend gewürdigt worden? Insoweit ist besonders von Bedeutung, ob die amtsgerichtliche Beweiswürdigung den allgemeinen Anforderungen entspricht, die in Straf- und Bußgeldsachen an die Beweiswürdigung zu stellen sind (vgl. dazu eingehend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 261 Rn. 3 ff.).
- Beachten Sie | Konnte sich ein Polizeibeamter, was bei Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht selten der Fall ist, an den konkreten Verkehrsvorgang nicht mehr erinnern, steht das nach der Rechtsprechung der Verwertbarkeit seiner Aussage grundsätzlich nicht entgegen (BGHSt 23, 213; OLG Düsseldorf DAR 99, 274; OLG Hamm VRS 57, 291, 292; VA 02, 123; OLG Köln VRS 65, 376).
- Es genügt aber nicht, wenn das AG in einem solchen Fall auf die erstattete Anzeige o. Ä. Bezug nimmt (OLG Düsseldorf DAR 99, 274). Vielmehr ist nach der Rspr. des BGH erforderlich, dass der Polizeibeamte (zumindest auch) die volle Verantwortung für den Inhalt der von ihm erstatteten Anzeige übernimmt (vgl. BGHSt 23, 213, 265). Das Urteil muss sich zudem damit auseinandersetzen, ob und inwieweit ein Irrtum ausgeschlossen ist und warum es nachvollziehbar ist, dass der Polizeibeamte den Verkehrsvorgang nicht mehr in Erinnerung hat (vgl. auch noch OLG Stuttgart VA 10, 175 zum „gewissenhaften“ bzw. „besonders zuverlässigen Messbeamten). Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahin, dass ein Polizeibeamter allein aufgrund der Dauer seiner Beschäftigung glaubwürdiger ist als andere Zeugen oder als der Angeklagte/Betroffene. Das Gericht kann jedoch ggf. auf eine langjährige Erfahrung des Polizeibeamten und die darauf zurückgehende Qualität der Beobachtungsfähigkeit im Zusammenhang mit Verkehrsverstößen abstellen (vgl. dazu KG NZV 02, 281). Andererseits ist es aber kein sachlich-rechtlicher Fehler, wenn die Überzeugung des Tatrichters auf den Bekundungen eines für „neutral, zuverlässig und glaubwürdig“ gehaltenen polizeilichen Zeugen beruht, im Urteil aber offenbleibt, ob sich der Zeuge an den Vorfall positiv erinnern konnte oder sein Zeugenbericht auf eigenen Notizen beruhte, die den Betroffenen aussagekräftig belasten (KG 4.5.20, 3 Ws (B) 83/20, VA 20, 185).
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- Alternative 2: Das AG hat den Betroffenen anhand eines Lichtbilds identifiziert.
- Hat das AG den Betroffenen aufgrund eines vom Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbilds erkannt, muss der Verteidiger prüfen, ob das AG-Urteil den insoweit von der Rspr. aufgestellten Anforderungen (BGHSt 41, 376 = NJW 96, 1420) entspricht (dazu VA 23, 142; eingehend auch Gübner in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., 2024, Rn 2572 ff.). Es ist zu unterscheiden:
- 1. Möglichkeit: Der Tatrichter hat auf das Beweisfoto verwiesen
- 1. Frage: Wird prozessordnungsgemäß Bezug genommen (vgl. dazu u. a. aus neuerer Zeit KG VA 17, 141; 26.11.19, 3 Ws (B) 350/19; OLG Bamberg NStZ-RR 17, 93; VA 17, 86; OLG Düsseldorf 31.7.23, 1 ORBs 77/23, zfs 23, 706; OLG Hamm 22.6.21, III-4 RVs 40/21 VA 21, 167; OLG Oldenburg 23.10.23, 2 ORBs 168/23; OLG Saarbrücken 22.5.23, 1 Ss (OWi) 47/22, NStZ 24, 60; wegen weiterer Nachweise Burhoff, OWi, Rn. 2572 ff.)?
- Das Urteil muss dann Ausführungen zur Bildqualität und zu Identifizierungsmerkmalen enthalten (siehe 2. Möglichkeit).
- 2. Frage: Ist das Beweisfoto zur Identifizierung uneingeschränkt geeignet (vgl. dazu BGHSt 41, 376 = NJW 96; KG 11.2019, 3 Ws (B) 350/19; OLG Hamm 5.11.21, 3 RBs 211/21, VA 22, 15; OLG Oldenburg 23.10.23, 2 ORBs 168/23)?
- I. d. R. muss das Urteil dann Aufnahmeort und -zeit des Radarfotos und außerdem mitteilen, ob es sich um eine männliche oder weibliche Person handelt.
- Der Tatrichter muss erörtern, warum ihm die Identifizierung anhand des Beweisfotos gleichwohl möglich ist.
- 2. Möglichkeit: Es wird nicht oder nicht ordnungsgemäß auf das Beweisfoto verwiesen:
- Das Urteil muss auf jeden Fall Ausführungen zur Bildqualität und zu (Identifizierungs)Merkmalen enthalten, aufgrund derer der Tatrichter davon überzeugt ist, dass der Betroffene der Fahrer zur Tatzeit war (BGH 41, 376 = NJW 96; zur Darstellung der Identitätsmerkmale in den Gründen siehe u. a. KG VA 17, 141; OLG Bamberg DAR 11, 401; OLG Düsseldorf 10.1.19, 3 RBs 168/18; 31.7.23, 1 ORBs 77/23, zfs 23, 706; OLG Oldenburg 23.10.23, 2 ORBs 168/23).
- 3. Möglichkeit: Identifizierung aufgrund eines Abgleichs mit einem Passbild
- Ist das überhaupt zulässig oder besteht ein Beweisverwertungsverbot? Die h. M. in der Rechtsprechung der OLG sieht das als zulässig an (BayObLG NJW 98, 3656; OLG Hamm 3.4.97, 3 Ss OWi 248/97; OLG Stuttgart NZV 02, 574; OLG Rostock VA 05, 51), die AG sind zum Teil anderer Auffassung (AG Landstuhl 8.1.20, 2 OWi 4211 Js 12883/19, VA 20, 165; 20.1.20, 2 OWi 4211 Js 13105/19, DAR 20, 399; AG Schleswig 19.11.18, 53 OWi 107 Js 24000/18, VA 19, 110; AG Stuttgart zfs 02, 355).
- 4. Möglichkeit: Das AG stützt sich auf ein anthropologisches Gutachten
- Falls ja: In diesem Fall reicht es nicht, wenn dann in den Urteilsgründen nur das Ergebnis dieses Gutachtens mitgeteilt wird. Vielmehr müssen auch die Anknüpfungstatsachen dargestellt und die das Gutachten tragende fachliche Begründung mitgeteilt werden. Insoweit gelten die in VA 24, 200 dargestellten Grundsätze.
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2. Tragen die tatsächlichen Feststellungen den objektiven Schuldspruch wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung? Bei der Prüfung des Urteils müssen Sie sich als Verteidiger als Nächstes damit auseinandersetzen, ob das AG überhaupt ausreichende tatsächliche Feststellungen getroffen hat. Denen muss entnommen werden können, dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. - Sind die allgemeinen tatsächlichen Voraussetzungen für die Geschwindigkeitsbeschränkung ausreichend festgestellt? Ergeben sich also aus dem Urteil z. B.
- die am Vorfallsort zulässige Höchstgeschwindigkeit bzw.
- sonstige für die zulässige Geschwindigkeit maßgebliche Umstände, wie z. B., ob die Straße nass war (vgl. dazu OLG Hamm VA 01, 13 = NZV 01, 90) oder ob der Tattag ein Werk-, Sonn- oder Feiertag war. Das kann ggf. Auswirkungen auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit haben (Stichwort: Schule; OLG Hamm VA 01, 88 = NZV 01, 355).
- Welche Messmethode ist verwendet worden? Standardisiertes Messverfahren oder andere Messmethode (dazu BGHSt 39, 291 und 43, 277)? Standardisierte Messverfahren sind die Messverfahren, die menschliche Handhabungsfehler, wie insbesondere Zielungenauigkeiten, erkennen und bei denen etwaige systemimmanente Ungenauigkeiten durch den vorgeschriebenen Toleranzabzug ausreichend Rechnung getragen wird (BGHSt 39, 291 = NJW 93, 3081; wegen weiterer Einzelheiten und wegen einer Zusammenstellung der in der Praxis heute üblichen standardisierten Messverfahren Burhoff, OWi, Rn. 2273 ff.).
- Falls ein standardisiertes Messverfahren eingesetzt worden ist, sind die Anforderungen an die tatsächlichen Feststellungen reduziert (grundlegende BGHSt 39, 291, 43, 277). Es reichen dann die Angabe der Messmethode und des Messverfahrens, das angewandt worden ist. Außerdem muss der zu berücksichtigende Toleranzwert dargelegt werden (wegen der Einzelheiten Burhoff, OWi, Rn. 3966 ff.).
- Falls kein standardisiertes Messverfahren eingesetzt worden ist, sondern die Geschwindigkeitsüberschreitung z. B. durch Nachfahren ermittelt wurde, sind grundsätzlich besondere Feststellungen erforderlich.
- Sind ggf. beim AG Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der konkreten Messung vorgetragen worden, muss sich der Tatrichter mit diesen auseinandersetzen (zu den einzelnen Messverfahren Burhoff, OWi, Rn. 3966 ff.).
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3. Lässt sich den tatsächlichen Feststellungen entnehmen, dass der Betroffene fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat? - Für Vorsatz ist erforderlich, dass der Mandant die Geschwindigkeitsbeschränkung gekannt hat und die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auch bemerkt hat (OLG Hamm NZV 98, 124 = VRS 94, 466; OLG Koblenz zfs 13, 471; OLG Zweibrücken 14.4.20, 1 OWi 2 SsBs 8/20, VA 20, 181; dazu auch Burhoff, OWi, Rn 2327 ff.).
- Sind zudem ausreichende Umstände dargelegt, die den Rückschluss auf Vorsatz erlauben? Das kann insbesondere das relative Maß der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit sein. Darauf stellt die Rechtsprechung inzwischen überwiegend ab (vgl. Burhoff, OWi, Rn. 2327 ff. und VA 23, 160 m. w. N.).
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