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Fiktive Abrechnung/RestwertIm Gutachten ist kein Restwert ermittelt: Versicherer will nicht zahlen – was nun?
| Wiederbeschaffungswert (WBW) hoch, Reparaturkosten im Verhältnis dazu niedrig. Muss in dieser Situation der Restwert ermittelt werden? So fragt ein UE-Leser. Bei Reparaturabsicht des Geschädigten mag das verzichtbar sein. Doch bei der Abrechnung fiktiver Reparaturkosten muss ein Restwert her. Die Details liefert Ihnen der folgende Beitrag. |
Frage: Im Rahmen einer Fiktivabrechnung bei einem Haftpflichtschaden gibt es ein Problem: Das beschädigte Fahrzeug hat einen WBW von 40.000 Euro brutto. Die Reparaturkosten betragen ca. 9.000 Euro brutto. Einen Restwert hat der Schadengutachter nicht ermittelt, das sei bei diesem Zahlenverhältnis nicht nötig. Den einfachen Weg, einen Restwert nachträglich zu ermitteln, will der Gutachter stur nicht gehen. Der Versicherer sagt, das Gutachten sei unbrauchbar. Ohne eine Restwertangabe werde er nicht in die Regulierung eintreten. Entspricht das der Rechtslage?
Antwort: Im Rahmen einer fiktiven Abrechnung liegt der Versicherer richtig. Ein Restwert ist zu ermitteln.
Keine rechnerischen Grenzen für Reparaturkosten zum WBA
Schon vor langer Zeit hat der BGH prozentualen Grenzen – gleich welcher Höhe – eine Absage erteilt, bei deren Unterschreitung im Verhältnis der Reparaturkosten zum Wiederbeschaffungswert stets die Reparaturkosten abgerechnet werden dürften. Er entschied: „Läßt der Geschädigte sein unfallbeschädigtes Fahrzeug nicht reparieren, sondern realisiert er durch dessen Veräußerung den Restwert, ist sein Schaden in entsprechender Höhe ausgeglichen. Deshalb wird auch bei Abrechnung nach den fiktiven Reparaturkosten in solchen Fällen der Schadensersatzanspruch durch den Wiederbeschaffungsaufwand begrenzt, so daß für die Anwendung einer sog. 70 %-Grenze kein Raum ist.“ (BGH, Urteil vom 07.06.2005, Az. VI ZR 192/04, Abruf-Nr. 052087). Nach der Logik dieses Urteils gilt das für jedes andere Zahlenverhältnis ebenso. Es gibt also auch keine 50- oder 25-Prozent-Grenze.
Wäre das Auto auch mit Schaden eine Sahneschnitte, könnte „WBW minus Restwert“, also der Wiederbeschaffungsaufwand (WBA), kleiner sein als die Reparaturkosten. Für eine solche Grenzziehung ist stets auf brutto/brutto abzustellen (BGH, Urteil vom 03.03.2009, Az. VI ZR 100/08, Abruf-Nr. 091102), wobei der „steuerneutrale“ WBW der alten Gurken unter diesem Gesichtspunkt wie ein Bruttobetrag zu betrachten ist.
Weil kein Restwert ermittelt wurde, hätte der Versicherer im Fall des UE-Lesers insoweit selbst aktiv werden können. Und wenn da (ein attraktives Fahrzeug unterstellt) ein Betrag von 35.000 Euro herausgekommen wäre, hätte er unter Umständen seine Position drastisch verbessert. Ist das Unfallfahrzeug nämlich noch nicht verkauft, hätte er sich damit durchsetzen können. Hätte hingegen der Sachverständige einen Restwert benannt und wäre schon unrepariert verkauft, käme das Angebot des Versicherers als Überangebot zu spät.
Rechtsfolgen eines „freihändigen“ Verkaufs ohne Grundlage
Hat der Geschädigte das Fahrzeug auf Basis eigener Verhandlungen verkauft, z. B. bei der Inzahlunggabe aus Anlass der Ersatzbeschaffung, wird der Versicherer unter Heranziehung des von ihm eingeholten Angebots behaupten, der Geschädigte habe pflichtwidrig zu billig verkauft. Er wird auf dieser Grundlage abrechnen. Hier muss man ein weitgehend unbekanntes BGH-Urteil auf dem Schirm haben.
Im Leitsatz der BGH-Entscheidung zum freihändigen Verkauf des Unfallfahrzeugs heißt es: „Realisiert der Geschädigte den Restwert durch den Verkauf seines Fahrzeugs, kann er seiner Schadensberechnung grundsätzlich den erzielten Restwertbetrag zugrundelegen.“ (BGH, Urteil vom 12.06.2005, Az. VI ZR 132/04, Abruf-Nr. 052785). Damit ist der Geschädigte auf den ersten Blick umfassend geschützt. Doch der Leitsatz geht weiter: „Macht der Haftpflichtversicherer des Geschädigten demgegenüber geltend, auf dem regionalen Markt hätte ein höherer Restwert erzielt werden müssen, liegt die Darlegungs- und Beweislast bei ihm.“ Sprich: Der Versicherer kann den erzielten Verkaufspreis als unrealistisch niedrig attackieren. Allerdings muss er dazu Angebote lokaler Fahrzeughändler vorlegen. Spezialisierte Unfallwagenhändler sind dabei auszuscheiden, denn nach den Motiven des BGH soll der Geschädigte beim Erwerb des Ersatzfahrzeugs das verunfallte Fahrzeug in Zahlung geben können. Bei den Unfallwagen-Spezialisten kann er aber kein Ersatzfahrzeug kaufen (OLG München, Verfügung vom 14.04.2022, Az. 10 U 516/22, Abruf-Nr. 229778).
Wichtig | Alles in allem ist das ein überflüssiges und durch eine Restwertangabe im Gutachten leicht vermeidbares Minenfeld, denn „Verkauft wie im Gutachten, Überangebot kommt zu spät“ ist ein bei allen Gerichten eingeübtes Thema.
In den Behaltefällen schnappt die Falle heftig zu
In den Fällen, in denen der Geschädigte das Fahrzeug ohne Reparaturnachweis behält, kann der Versicherer eine Restwertangabe aus dem Gutachten nicht überbieten (BGH, Urteil vom 06.03.2007, Az. VI ZR 120/06, Abruf-Nr. 071214; BGH, Urteil vom 10.07.2007, Az. VI ZR 217/06, Abruf-Nr. 072681; BGH, Urteil vom 13.10.2009, Az. VI ZR 318/08, Abruf-Nr. 093553). Doch ohne eine Restwertangabe im Gutachten ist diese Rechtsprechung nutzlos.
Unbrauchbares Gutachten – kein Honoraranspruch
Bleibt der Gutachter stur, wird der Geschädigte das Gutachten nicht bezahlen müssen, wenn der Versicherer zu Recht die Kosten nicht erstattet. Vielleicht sieht der Gutachter auf dieser Grundlage ein, dass die Nachreichung eines Restwerts erheblich effizienter ist als all der Streit, der aus dem Vorgang erwachsen kann.
AUSGABE: UE 11/2024, S. 15 · ID: 50194312