FeedbackAbschluss-Umfrage

KontroversWelche Verteidigungsstrategien gibt es bei § 169 Abs. 2 S. 2 AO?

Abo-Inhalt31.03.20254398 Min. LesedauerVon RAin Dr. Janika Sievert, LL.M. Eur., FAin StR, FAin StrR, Ecovis L+C, Würzburg, und RD a. D. Dr. Henning Wenzel, Tremsbüttelvon RAin Dr. Janika Sievert, LL.M. Eur., FAin StR, FAin StrR, Ecovis L+C, Würzburg, und RD a. D. Dr. Henning Wenzel, Tremsbüttel

| In der Juristerei kann man oft unterschiedlicher Ansicht sein. In der Rubrik „Kontrovers“ beleuchten zwei Experten ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. Alles ist streitbar, auch taktische Unwägbarkeiten im Ermittlungsverfahren. Z. T. können diese verallgemeinert werden. Besonders bei der steuerlichen Verjährungsdurchbrechung im Zusammenhang mit einer Steuerhinterziehung werden immer wieder Fehler gemacht, die den Steuerpflichtigen mehr belasten können. Was sollte bei der Überprüfung beachtet und wie sollte hiergegen verteidigt werden? Dazu einige Überlegungen: |

»RD a. D. Dr. Henning Wenzel: Durch § 169 Abs. 2 S. 2 AO wird die Festsetzungsfrist auf zehn Jahre bei einer Steuerhinterziehung und fünf Jahre bei einer leichtfertigen Steuerverkürzung verlängert. Diese Vorschrift ist für die Außenprüfung praktisch sehr wichtig; festgestellte Unregelmäßigkeiten können die bereits verjährten Steuerzeiträume elegant öffnen, bei denen die Tatsachen in noch nicht geprüfte Vorjahre zurückreichen oder sich in diesen gesondert wiederholen.

So wichtig und berechtigt diese Vorschrift ist, so wenig sorgfältig wird sie von den Praktikern genutzt. § 169 Abs. 2 S. 2 AO enthält eine Rechtsgrundverweisung, wodurch u. a. der Tatbestand der Steuerhinterziehung in den Tatbestand des § 169 Abs. 2 S. 2 AO hineingelesen wird. Die Rechtsgrundverweisung impliziert die (steuer)strafrechtlichen und strafprozessualen Grundsätze, die dadurch auch bei der Verjährung zu prüfen sind. Dieser entscheidende Umstand wird in der Praxis wiederholt übersehen! Oft sind die Veranlagungen fehlerhaft, da eine genaue Prüfung während der Außenprüfung oder/und Veranlagung unterblieben ist. Aufgabe der Rechtsbeistände (Steuerberater und Anwälte) ist es, diese Mängel aufzudecken und verfahrensrechtlich geltend zu machen. Werden solche Mängel des FA durch den Rechtsbeistand übersehen, kann dies einen Haftungsfall auslösen.

Die Außenprüfung macht bereits beim objektiven Tatbestandsmerkmal „Steuerverkürzung“ wiederholt Fehler. Gerade bei Schätzungsfällen werden die Schätzungsgrundlagen der zunächst geprüften Steuerjahre ohne weitere Prüfungen, Anpassungen und/oder Analysen auf die verjährungsrechtlich zu öffnenden Jahre übertragen. Hierdurch werden die rechtlichen und tatsächlichen Schätzungsvorgaben missachtet (vgl. ausführlich Wenzel, NWB 23, 3505 ff.; 24, 39 ff. u. 105 ff.). Es ist daher wichtig, eine Übertragung von Schätzungsgrundlagen sorgfältig zu überprüfen und bereits Ungenauigkeiten präzise zu dokumentieren.

Bei § 169 Abs. 2 S. 2 AO ist ausschließlich die Finanzverwaltung vollumfänglich für die richtige und umfassende Ermittlung der zugrunde liegenden Tatsachen verantwortlich. Fehler oder Lücken gehen zu ihren Lasten. Ihr obliegt die Darlegungs- und Beweislast.

Die Verjährungsdurchbrechung findet in einem engen Kontext zwischen Vorfeldermittlung und Anfangsverdacht statt. Deshalb sind die Beweisverwertungsverbote zu prüfen, auch wenn die verengte Sicht der Finanzrechtsprechung zu beachten ist (einführend Webel, in: Joecks/Jäger/Randt, 9. Aufl., §404 AO Rn. 124).

Besonders relevant ist, dass das Tatbestandsmerkmal „Vorsatz“ vielfach nicht oder nur ungenügend durch die Steuerverwaltung geprüft wird. Wiederholt findet eine pauschale Unterstellung statt. Gleichzeitig erkennen die Rechtsbeistände dieses Thema nicht immer oder überprüfen die Darlegung des Vorsatzes nicht hinreichend.

»RAin Dr. Janika Sievert: § 169 Abs. 2 S. 2 AO wird leider tatsächlich oftmals durch die Veranlagung zu Unrecht angewendet. Damit die verlängerte Festsetzungsfrist greifen kann, muss quasi ein Steuerstrafverfahren auf Festsetzungsebene fiktiv „nachgespielt“ werden. Die dadurch zwangsweise entstehenden Brüche in den anzuwendenden Verfahrensordnungen und die Tatsache, dass steuerstrafrechtlich nicht geschulte Veranlagungsbeamte darüber entscheiden, ob eine Steuerhinterziehung vorliegt, führen nicht immer zu sachgerechten Ergebnissen für die Mandanten. Jedoch bieten sich auch genau hier gute Angriffspunkte.

Die Festsetzungsfrist verlängert sich entsprechend der Regelung, „soweit“ eine Steuer hinterzogen ist. Die Frage, ob und inwieweit eine Steuerhinterziehung eingetreten ist, bestimmt sich dabei nach den Vorgaben des § 370 AO – objektiver und subjektiver Tatbestand müssen erfüllt sein. Diese Wertung obliegt aber nicht der Bußgeld- und Strafsachenstelle, sondern der Veranlagung. Die verfahrensrechtlichen Regeln der StPO gelten dabei nicht.

Das FA und das FG beurteilen das Vorliegen einer Steuerhinterziehung vielmehr in eigener Zuständigkeit nach AO und FGO als strafrechtliche Vorfrage. Bei Gericht ist dabei für das Vorliegen einer Steuerhinterziehung kein höherer Grad von Gewissheit erforderlich als für die Feststellungen anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt. FA und FG können sich nach h. M. die Feststellungen in einem Strafurteil zu eigen machen, ohne die im Strafverfahren vorgenommene Beweiswürdigung wiederholen zu müssen. Dies erscheint akzeptabel.

Es gibt jedoch auch neben den Schätzungsfällen Festsetzungen, die angegriffen werden müssen, z. B. wenn das FA eine verlängerte Festsetzungsfrist angenommen hat, obwohl ein Straf- oder Bußgeldverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts nach schriftlicher Wertung der Bußgeld- und Strafsachenstelle nicht einzuleiten war. Ein solcher Bruch in der Bewertung des Sachverhalts darf natürlich nicht hingenommen werden. Denn haben zwei Abteilungen derselben Behörde in Bezug auf das Vorliegen einer Steuerhinterziehung völlig konträre Meinungen vertreten und damit nicht widerspruchsfrei entschieden, kann das als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip gewertet werden (Loose, in Tipke/Kruse, AO, 184. Lfg. 1/2025 § 71 AO, Rn. 12).

AUSGABE: PStR 5/2025, S. 116 · ID: 50354080

Favorit
Teilen
Drucken
Zitieren

Beitrag teilen

Hinweis: Abo oder Tagespass benötigt

Link
E-Mail
X
LinkedIn
Xing
Loading...
Loading...
Loading...
Heft-Reader
2025

Bildrechte