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ProzessrechtFG darf Schriftsätze des FA übernehmen, wenn Entscheidungsgrundlagen erkennbar sind
| Das FG darf sich auf bestimmte Schriftsätze des FA stützen, wenn es deren Inhalt übernimmt und für den Kläger nachvollziehbar bleibt, warum seine Argumente abgelehnt wurden. Das hat der BFH entschieden. |
Sachverhalt
Der Kläger (K) erzielte in den Streitjahren (2007 bis 2015) Einkünfte als Steuerberater. K ermittelte seinen Gewinn bis einschließlich des Streitjahrs 2012 im Wege der Einnahmen-Überschuss-Rechnung und ab dem Streitjahr 2013 im Wege der Bilanzierung. Gegenstand des Rechtsstreits sind die Streitjahre 2007 bis 2014 (Umsatzsteuer, USt) und 2007 bis 2015 (gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen zu den Einkünften aus selbstständiger Arbeit). Die jeweiligen Besteuerungsgrundlagen wurden im Anschluss an die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen mangels abgegebener Steuererklärungen (Streitjahre 2010 und 2011) aufgrund einer Steuerfahndungsprüfung sowie aufgrund einer Außenprüfung festgesetzt bzw. festgestellt. Das FA ermittelte die Betriebseinnahmen, indem es die Zahlungsflüsse auf den betrieblichen Bankkonten auswertete. Es sei nicht erkennbar, dass Betriebseinnahmen aufgrund von Umbuchungen des K zwischen den betrieblichen Bankkonten doppelt erfasst worden seien. Bei der Prüfung durch die Steuerfahndung seien sämtliche betrieblichen Bankkonten vollständig ausgewertet worden. Bei fehlenden Gewinnermittlungen habe die Steuerfahndung die Betriebsausgaben unter Berücksichtigung der Vor- und Folgejahre sachgerecht geschätzt.
Das FG hat der Klage teilweise stattgegeben und sich zur Begründung der Vorentscheidung gem. § 105 Abs. 5 FGO auf die Einspruchsentscheidung gestützt, soweit dort die Anerkennung weiterer Betriebsausgaben für die Einkünfteermittlung abgelehnt worden ist. Für die Betriebseinnahmen, die den gesonderten Feststellungen für die Streitjahre 2011 bis 2015 zugrunde liegen, hat sich das FG durch Bezugnahmen auf Schriftsätze des FA dessen Auffassung angeschlossen und sich diese vollumfänglich zu eigen gemacht. Für die Streitjahre 2005 bis 2010 fehle es auch unter Berücksichtigung der durchgeführten Außenprüfung an einem verwertbaren Klägervorbringen. Zur USt 2005 bis 2010 seien keine konkreten Einwendungen erhoben worden. Für die Streitjahre 2011 bis 2014 seien Teilabhilfebescheide zur USt ergangen, die im Wesentlichen den Stellungnahmen des K entsprochen hätten. Soweit versehentlich vom FA nicht ausreichend abgeholfen worden sei, sei dieser Fehler in der Entscheidung durch eine weitere Teilstattgabe berichtigt worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde des K ist teilweise erfolgreich.
Entscheidungsgründe
Das FG hat für 2012 bis 2015 das gesamte Verfahrensergebnis nicht ausreichend berücksichtigt, § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 FGO. Für die Jahre 2005 bis 2011 sowie die USt-Bescheide von 2007 bis 2014 wurde jedoch kein Verfahrensfehler überzeugend nachgewiesen (BFH 26.11.24, VIII B 79/23, Abruf-Nr. 245366).
Merke | Nach § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff. Das Gesamtergebnis des Verfahrens wird insbesondere durch die Schriftsätze der Beteiligten, ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie in einem etwaigen Erörterungstermin, ihr Verhalten, die den Streitfall betreffenden Steuerakten, beigezogene Akten eines anderen Verfahrens, vom Gericht eingeholte Auskünfte, Urkunden und die aufgrund einer gegebenenfalls durchgeführten Beweisaufnahme gewonnenen Beweisergebnisse konkretisiert (BFH 31.1.24, X R 11/22). |
Für eine einwandfreie Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens darf das Gericht weder Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, ohne zureichenden Grund ausblenden noch seine Überzeugung auf Umstände gründen, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens zählen. Ebenso wenig darf das Gericht Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, ungeprüft behaupten. Es darf auch nicht von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgehen, der in den Akten keine Stütze findet oder der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird (BFH 23.4.20, X B 156/19, BFH/NV 20, 1077).
Merke | § 96 FGO gebietet allerdings nicht, alle im Einzelfall gegebenen Umstände im Urteil zu erörtern. Vielmehr ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass ein Gericht auch denjenigen Akteninhalt in Erwägung gezogen hat, mit dem es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hat (BFH 10.6.10, IX B 202/09, BFH/NV 10, 1841). |
Relevanz für die Praxis
Nichtzulassungsbeschwerden sind ausgesprochen komplex, sollen sie erfolgreich sein. So setzt etwa die schlüssige Rüge eines Verstoßes gegen § 96 Abs. 1 S. FGO voraus, dass derjenige Beteiligte, der sich auf den Verstoß beruft, darlegt, inwieweit die Berücksichtigung der seiner Ansicht nach nicht berücksichtigten Tatumstände auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (vgl. BFH 31.1.24, X R 11/22).
Nach § 119 Nr. 6 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Es reicht für diesen Verfahrensmangel aus, wenn die Gründe nur z. T. und das Gericht ein selbstständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel, das für sich allein den vollständigen Tatbestand einer mit selbstständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bildet, übergangen hat.
Merke | Nicht ausreichend ist hingegen, dass die Urteilsbegründung nicht den Erwartungen eines Beteiligten entspricht, lückenhaft, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend oder äußerst knapp gehalten ist. |
Die Abgrenzung zwischen erheblichen und nicht wesentlichen Begründungsmängeln muss sich am Zweck der Urteilsbegründung orientieren, der darin besteht, für den Ausspruch der Urteilsformel den Nachweis der Rechtmäßigkeit zu liefern. |
Im steuerstrafrechtlichen Kontext ist immer wieder festzustellen, dass FGe versuchen, vermeintliche Erkenntnisse aus Ermittlungsberichten einer Entscheidungsfindung zugrunde zu legen, ohne selbst Beweis erhoben zu haben. Hier muss frühzeitig interveniert werden. Denn Nichtzulassungsrügen sind – wie die vorliegende Entscheidung zeigt – kein Selbstläufer. Dies gilt umso mehr, als § 105 Abs. 5 FGO es dem FG zur Begründungserleichterung ermöglicht, von einer Darstellung der Entscheidungsgründe abzusehen und sich die in der Begründung des Verwaltungsakts oder in der Einspruchsentscheidung enthaltene Begründung des FA zu eigen zu machen.
Merke | § 105 Abs. 5 FGO dient dazu, Gerichte zu entlasten, sofern ihr Zweck, den Beteiligten Kenntnis davon zu vermitteln, auf welchen Feststellungen, Verhältnissen oder rechtlichen Erwägungen die Entscheidung beruht, ohne Nachteil für den Rechtsschutz des Klägers auch durch Bezugnahme auf vorliegende Verwaltungsentscheidungen, erreicht werden kann. Eine Urteilsbegründung, die über die Feststellung hinausgeht, dass das FG der Verwaltungsentscheidung folgt, ist in diesen Fällen nicht erforderlich (BFH 17.8.20 II B 32/20, BFH/NV 21, 31). |
Steuerfahndung und FA sind regelmäßig ein Meinungskartell (das noch größer dadurch wird, wenn sog. Zusammenarbeitsbehörden nach dem SchwarzArbG wechselseitig voneinander abschreiben). Umso wichtiger ist es, das FG zu einer eigenständigen Begründung seiner Entscheidung zu bewegen, sei es durch substanziellen Sach- und Rechtsvortrag, sei es durch Beweisanträge.
Der 2. Senat des BFH hat zuletzt zwischen zwei Fällen unterschieden: Einerseits kann das FG einen strafrechtlichen Ermittlungsbericht vollständig übernehmen und ausdrücklich erklären, dass es dessen Feststellungen und Beweiswürdigung vollinhaltlich folgt. Andererseits kann es sich nur pauschal auf die „nachvollziehbaren Feststellungen und schlüssigen Beweiswürdigungen“ der Ermittlungen beziehen, ohne eine eigene Begründung zu liefern. Letzteres ist unzureichend (BFH 17.8.20, II B 32/20, BFH/NV 21, 31). Um zu verhindern, dass sich das FG den Ausführungen in Schriftsätzen des FA vollinhaltlich anschließt, muss sich klägerischer Vortrag mit solchen Texten der Gegenseite auseinandersetzen sowie Fragen der Beweis- und Feststellungslast aktiv aufgreifen.
Praxistipp | Entgegenzutreten ist auch den immer wieder anzutreffenden finanzbehördlichen Versuchen, Mitarbeiter der Strafsachenstelle oder den Betriebsprüfer als Sitzungsvertreter steuernd auf den Gang der mündlichen Verhandlung Einfluss nehmen zu lassen. Derartige Personen sind Zeugen und daher aus dem Sitzungssaal zu entfernen, solange sie nicht vernommen worden sind. Zwar verweigern sich die Gerichte entsprechenden Anträgen typischerweise; man sollte dies zum Anlass nehmen, zu Protokoll zu nehmen, dass sich solche Verfahrensgestaltungen auf die Beweiswürdigung auswirken können, um so etwas verfahrensrechtlichen Druck aufzubauen. |
AUSGABE: PStR 4/2025, S. 76 · ID: 50309637