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BetreuungsrechtSachverständigengutachten für Zwangsmaßnahmen verwerten

Abo-Inhalt02.09.2024742 Min. LesedauerVon RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen

| Zieht das Beschwerdegericht in einer Unterbringungssache für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der Entscheidung des AG datiert, ist der Betroffene erneut persönlich anzuhören, § 319 FamFG. Ist der Sachverständige nicht Arzt für Psychiatrie, muss das Gericht prüfen und in der Entscheidung darlegen, ob er als Arzt über Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie i. S. v. § 321 Abs. 1 S. 4 Hs. 2 FamFG verfügt. Ist der Sachverständige insoweit nicht hinreichend qualifiziert, darf sein Gutachten nicht verwertet werden. Das hat der BGH entschieden. |

Sachverhalt

Der Betroffene B leidet unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Im Januar 23 wurde eine umfassende Betreuung für ihn eingerichtet. Zudem wurde er bereits von Januar bis April 23 untergebracht. Im Oktober 23 sprang er aus dem Küchenfenster seines Elternhauses und zog sich dabei Frakturen beider Fersenbeine zu. In der Folgezeit kam es zu weiteren Unterbringungen. Aktuell ist der B noch immer untergebracht. Nachdem er sein Einverständnis mit einer medikamentösen Behandlung zurückgezogen hatte, genehmigte das AG dessen Zwangsbehandlung. Im vorliegenden Verfahren hat die Betreuerin Bt beantragt, die Zwangsbehandlung des B auch weiter zu genehmigen. Nachdem das AG ein Gutachten eingeholt und den B persönlich angehört hat, hat es die Zwangsbehandlung genehmigt. Die dagegen eingelegte Beschwerde des B blieb erfolglos. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet der B sich erfolgreich gegen die durch Zeitablauf erledigte gerichtliche Genehmigung seiner Zwangsbehandlung (BGH 12.6.24, XII ZB 197/24, Abruf-Nr. 242823).

Entscheidungsgründe

Das landgerichtliche Verfahren leidet an einem durchgreifenden Verfahrensmangel, weil das Beschwerdegericht den B nicht erneut angehört hat. In einem Unterbringungsverfahren darf von der gem. § 319 FamFG vorgesehenen persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht abgesehen werden, wenn neue Erkenntnisse zu erwarten sind. Dies ist der Fall, wenn das Beschwerdegericht für seine Entscheidung eine neue Tatsachengrundlage heranzieht.

Vorliegend hätte das Beschwerdegericht den B erneut persönlich anhören müssen, weil es seine Entscheidung ausdrücklich auch auf ein weiteres Sachverständigengutachten gestützt hat. Das AG hatte dieses Gutachten erst eingeholt, nachdem es seinen Beschluss erlassen hatte. Das Beschwerdegericht hat es als neue Tatsachengrundlage berücksichtigt.

Zudem ist das erste, von beiden Vorinstanzen verwertete Sachverständigengutachten, verfahrensfehlerhaft erstellt worden. In einem Verfahren, das die Genehmigung oder Anordnung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme betrifft, soll der Sachverständige nach § 321 Abs. 1 S. 4 FamFG Arzt für Psychiatrie, jedenfalls aber Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein. Ergibt sich diese Qualifikation nicht ohne Weiteres aus der Facharztbezeichnung, muss das Gericht die Sachkunde prüfen und in der Entscheidung darlegen. Ist der Sachverständige danach nicht hinreichend qualifiziert, dürfe das von ihm erstattete Gutachten nicht verwertet werden.

Dies ist vorliegend der Fall, da der Sachverständige ein Facharzt für Neurologie ist und sich in Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie befindet. Die Vorinstanzen haben auch nicht in der gebotenen Weise festgestellt, dass er tatsächlich bereits über Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie verfügt.

Der B ist daher durch die vorliegende Entscheidung in seinen Rechten verletzt. Die Zwangsmaßnahme ist ein rechtswidriger Eingriff in seine grundrechtlich geschützte Rechtsposition gewesen, der rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist.

Merke | Es gehört zu den grundlegenden Verfahrensgarantien in Unterbringungssachen, einen Betroffenen persönlich anzuhören und nur Gutachten von einem entsprechend qualifizierten Sachverständigen zu verwerten.

Relevanz für die Praxis

Zwar ist es auch in Unterbringungssachen möglich, dass das Beschwerdegericht von der Anhörung absieht. Dies scheidet aber aus, wenn neue Tatsachen wie etwa ein neues Sachverständigengutachten für die Entscheidungsfindung herangezogen werden. Das hat der Betreuungssenat auch bereits mehrfach betont, sodass sich die vorliegende Entscheidung auf der bisherigen Rechtsprechungslinie bewegt (siehe etwa BGH 6.4.22, XII ZB 451/21). Die Beschwerdegerichte müssen diese Vorgaben daher unverändert beachten.

Von großem Interesse für die Betreuungspraxis sind jedoch die weiteren Ausführungen des Senats. Sachverständige müssen über entsprechende Sachkunde verfügen. Das liegt in der Natur der Sache. Diesen Grundsatz hat der Gesetzgeber für Unterbringungssachen jedoch durch § 321 Abs. 1 FamFG zusätzlich konkretisiert: Danach soll der Sachverständige Arzt für Psychiatrie, mindestens muss er aber Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein. Der Richter muss diese Tatsache ausdrücklich prüfen und feststellen, soweit sie nicht bereits offenkundig ist (so bereits BGH 15.9.10, XII ZB 383/10).

Wird gegen die vorgenannten Grundsätze verstoßen, liegt ein gravierender Verfahrensmangel vor, der zur Feststellung entsprechender Rechtsverletzungen des Betroffenen führt. Der Betreuungssenat findet hier zutreffend deutliche Worte. Eine erheblich in die Grundrechte des Betroffenen eingreifende Zwangsbehandlung lässt sich nur rechtfertigen, wenn ihre Voraussetzungen verlässlich festgestellt sind.

AUSGABE: FK 10/2024, S. 171 · ID: 50122441

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