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Umgang mit dem FinanzamtMusterfall: Wie lange wirkt eine festgestellte Behinderung „steuererstattungsmäßig“ zurück?
| Behinderungen i. S. v. § 33b EStG werden in der Praxis regelmäßig rückwirkend für viele Jahre festgestellt. Egal, ob es sich um eine Behinderung des Steuerzahlers oder (s)eines Kindes handelt, es stellt sich immer die gleiche Frage: Für welche Jahre können Steuerfestsetzungen rückwirkend geändert und darin der Behinderten-Pauschbetrag berücksichtigt werden? Die Ermittlung dieser Erstattungszeiträume ist alles andere als einfach. SSP nimmt das zum Anlass, einen Musterfall für Sie durchzudeklinieren. |
Der SSP-Musterfall
Der Musterfall stellt sich wie folgt dar:
Der Musterfall |
Bei Steuerzahler mit gewerblichen Einkünften ... Horst Roth ist aufgrund seiner gewerblichen Einkünfte dazu verpflichtet, Einkommensteuererklärungen abzugeben. Die Erklärungen der letzten Jahre hat er an folgenden Tagen beim örtlich zuständigen Finanzamt eingereicht: ... wird rückwirkend ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt Sämtliche Einkommensteuerbescheide sind bestandskräftig und stehen nicht unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO). Der Grenzsteuersatz von Herrn Roth beläuft sich in allen Jahren auf 42 Prozent. Am 26.10.2022 hat Herr Roth beim Versorgungsamt einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung eingereicht. Mit Bescheid vom 06.02.2023 hat das Versorgungsamt den Grad der Behinderung auf 30 in Kombination mit einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festgestellt – und zwar rückwirkend ab dem 01.04.1965. Herr Roth fragt sich nun, ob und wenn ja mit welcher Auswirkung die Steuerbescheide der letzten Jahre geändert werden können. Den Bescheid vom Versorgungsamt hat er nämlich am 22.02.2023 beim Finanzamt in den Briefkasten geworfen. |
Wichtig | Gleiches wie nachfolgend dargestellt gilt, wenn es sich um die Behinderung eines Ihrer Kinder handelt und Sie den Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 5 EStG von Ihrem Kind auf sich übertragen lassen wollen.
Der Behinderten-Pauschbetrag
Aufgrund seiner Behinderung steht Herr Roth ein Behinderten-Pauschbetrag zu (§ 33b Abs. 3 EStG). Die konkrete Höhe des Pauschbetrags richtet sich nach dem Grad der Behinderung, den das Versorgungsamt festgestellt hat. Während ab dem Jahr 2021 bereits ab einem Grad der Behinderung von 20 ein Pauschbetrag berücksichtigt werden kann, war das für die Jahre bis 2020 nur in den Fällen möglich, in denen der Grad der Behinderung mindestens 50 betrug. Betrug er weniger, aber mindestens 25, konnte ein Behinderten-Pauschbetrag nur berücksichtigt werden, wenn zusätzlich
- der behinderten Person wegen der Behinderung nach gesetzlichen Vorschriften Renten oder andere laufende Bezüge zustehen oder
- die Behinderung zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hat oder auf einer typischen Berufskrankheit beruht.
Da bei Herrn Roth letzteres festgestellt wurde, kann für ihn also grundsätzlich in allen Jahren ab 1965 ein Behinderten-Pauschbetrag berücksichtigt werden.
Tabelle der Behinderten-Pauschbeträge | |||
Bis 2020 | Ab 2021 | ||
Grad der Behinderung | Pauschbetrag | Grad der Behinderung | Pauschbetrag |
0 bis 20 | 0 Euro | 20 | 384 Euro |
25 und 30 | 310 Euro | 30 | 620 Euro |
35 und 40 | 430 Euro | 40 | 860 Euro |
45 und 50 | 570 Euro | 50 | 1.140 Euro |
55 und 60 | 720 Euro | 60 | 1.440 Euro |
65 und 70 | 890 Euro | 70 | 1.780 Euro |
75 und 80 | 1.060 Euro | 80 | 2.120 Euro |
85 und 90 | 1.230 Euro | 90 | 2.460 Euro |
95 und 100 | 1.420 Euro | 100 | 2.840 Euro |
Merkzeichen „Bl“, TBl“ oder „H“ bzw. Pflegegrad 4 bzw. 5 | 3.700 Euro | Merkzeichen „Bl“, TBl“ oder „H“ bzw. Pflegegrad 4 bzw. 5 | 7.400 Euro |
... sind ab dem Jahr 2021 neu geregelt worden Folge: Herr Roth profitiert aufgrund seiner Behinderung in den Jahren ab 2021 von einem Behinderten-Pauschbetrag in Höhe von 620 Euro. Seine jährliche Steuerersparnis beträgt damit 260 Euro (42 Prozent von 620 Euro). Da für die Jahre ab 2021 bisher keine Steuerfestsetzungen erfolgt sind, lässt sich der Pauschbetrag noch problemlos berücksichtigen. Herr Roth muss ihn in seiner Einkommensteuererklärung beantragen. Bis einschl. 2020 hätte Herr Roth einen Behinderten-Pauschbetrag von jährlich 310 Euro beanspruchen können. Für diese Jahre sind jedoch bereits bestandskräftige Einkommensteuerbescheide erteilt worden, sodass grundsätzlich keine Berücksichtigung mehr möglich ist. Damit gingen Herrn Roth steuerliche Entlastungen von jährlich 130 Euro (42 Prozent von 310 Euro) verloren. |
Können bisherige Steuerfestsetzungen geändert werden?
Herr Roth könnte in den Jahren vor 2021 vom Behinderten-Pauschbetrag nur dann profitieren, wenn die Steuerbescheide verfahrensrechtlich noch geändert werden können. Da die Einspruchsfrist bereits verstrichen ist, kommt eine Änderung nur in Betracht, wenn
- 1. eine Änderungsvorschrift vorhanden ist (z. B. §§ 129, 164, 165, 172 ff. AO)
- 2. und noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist (§§ 169 ff. AO).
1. Änderungsvorschrift bei Grundlagenbescheiden
Steuerbescheide sind zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid i. S. v. § 171 Abs. 10 AO, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO). Grundlagenbescheide in diesem Sinne sind
- Feststellungsbescheide (z. B. gesonderte Feststellung von Einkünften),
- Steuermessbescheide (z. B. Gewerbesteuermessbetragsbescheid) oder
- sonstige für eine Steuerfestsetzung bindende Verwaltungsakte. Das können auch Verwaltungsakte anderer Behörden sein, die keine Finanzbehörden sind. Z. B. also Verwaltungsakte der zuständigen Behörden, die den Grad einer Behinderung i. S. v. § 33b EStG feststellen.
Damit steht für Herrn Roth fest, dass für alle Einkommensteuerfestsetzungen seit dem Jahr 1965 eine Änderungsvorschrift vorhanden ist, die es ermöglicht, den Behinderten-Pauschbetrag zu berücksichtigen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob einer Änderung dieser Bescheide die Festsetzungsverjährung entgegensteht.
Wichtig | Liegt ein Grundlagenbescheid (hier Bescheid des Versorgungsamts) vor, steht die Anpassung des Folgebescheids (Einkommensteuerbescheid des Herrn Roth) nicht im Ermessen des Finanzamts. Da der Grundlagenbescheid über § 182 Abs. 1 AO Bindungswirkung für den Folgebescheid entfaltet, muss letzterer angepasst werden (BFH, Urteil vom 10.06.1999, Az. IV R 25/98).
2. Eintritt der Festsetzungsverjährung
Grundsätzlich beginnt die Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer entstanden ist. Da die Einkommensteuer mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entsteht, beginnt z. B. die Festsetzungsfrist für das Jahr 2015 mit Ablauf des 31.12.2015. Die Festsetzungsfrist beträgt gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO vier Jahre, sodass mit Ablauf des 31.12.2019 Verjährung eingetreten ist.
Allerdings war Herr Roth aufgrund seiner gewerblichen Einkünfte dazu verpflichtet, eine Einkommensteuererklärung abzugeben. Deshalb beginnt die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres, in dem die jeweilige Steuererklärung beim Finanzamt eingereicht wurde (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO). Spätestens beginnt die Festsetzungsfrist jedoch mit Ablauf des dritten Jahres, das auf das Jahr der Steuerentstehung folgt. Konkret bedeutet das folgendes:
Jahr | Abgabe Erklärung | Beginn Festsetzungsfrist | Dauer | Eintritt Verjährung |
2015 | 02.01.2017 | Ablauf 31.12.2017 | 4 Jahre | Ablauf 31.12.2021 |
2016 | 02.01.2018 | Ablauf 31.12.2018 | 4 Jahre | Ablauf 31.12.2022 |
2017 | 31.12.2018 | Ablauf 31.12.2018 | 4 Jahre | Ablauf 31.12.2022 |
2018 | 22.02.2020 | Ablauf 31.12.2020 | 4 Jahre | Ablauf 31.12.2024 |
2019 | 09.12.2020 | Ablauf 31.12.2020 | 4 Jahre | Ablauf 31.12.2024 |
2020 | 26.08.2022 | Ablauf 31.12.2022 | 4 Jahre | Ablauf 31.12.2026 |
Zwischenergebnis: Da für die Steuerbescheide 2018 bis 2020 noch keine Verjährung eingetreten ist und zugleich eine Änderungsvorschrift vorliegt, können diese Bescheide gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert und der Behinderten-Pauschbetrag in Höhe von jährlich 310 Euro berücksichtigt werden. Für alle Jahre vor 2018 (Verjährung) scheidet eine Änderung aber aus.
Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO prüfen
Es könnte jedoch sein, dass der Eintritt der Festsetzungsverjährung für einzelne Jahre ablaufgehemmt ist. Ist das der Fall – und ist deshalb keine Verjährung eingetreten, kann doch noch eine Änderung erfolgen. Konkret ist im vorliegenden Fall § 171 Abs. 10 AO zu prüfen, der eine besondere Ablaufhemmung für die Anpassung von Folgebescheiden an Grundlagenbescheide vorsieht. Satz 1 der Vorschrift besagt nämlich, dass insoweit wie für die Festsetzung einer Steuer ein Grundlagenbescheid bindend ist, die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids endet. Satz 2 ergänzt Satz 1 dahingehend, dass bei nicht von einer Finanzbehörde stammenden Grundlagenbescheiden die zweijährige Frist abweichend von dem Tag der Bekanntgabe des Grundlagenbescheids erst mit Ablauf des Tages beginnt, in dem die für den Folgebescheid zuständige Finanzbehörde Kenntnis von der Entscheidung über den Erlass des Grundlagenbescheids erlangt hat.
Der Bescheid vom Versorgungsamt stellt einen solchen Grundlagenbescheid dar. Da er dem Finanzamt am 22.02.2023 zugegangen ist, hat die zweijährige Frist mit Ablauf des 22.02.2023 begonnen. Sie endet mit Ablauf des 22.02.2025, sodass bis zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich für alle Steuerbescheide, die von dem Grundlagenbescheid betroffen sind, keine Verjährung eintritt. Demnach könnten auch die Steuerbescheide für die Jahre 1965 bis 2017 geändert werden.
Einschränkung für außersteuerliche Grundlagenbescheide
Die in § 171 Abs. 10 S. 1 AO verankerte Ablaufhemmung greift ohne Ausnahme für Grundlagenbescheide, auf die § 181 AO Anwendung findet (z. B. Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen). Gilt für den Grundlagenbescheid § 181 AO aber nicht, weil es sich z. B. um einen außersteuerlichen Grundlagenbescheid (wie der Feststellung des Grads der Behinderung) handelt, gilt die Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 10 S. 3 AO nur, wenn der Grundlagenbescheid vor Ablauf der für den Folgebescheid geltenden Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde beantragt worden ist.
Folgen für den Musterfall |
... Ablauf der Festsetzungs-
verjährung
beantragt worden? Das bedeutet für Herrn Roth, dass es für die Änderung der Steuerbescheide auch auf das Datum ankommt, an dem er seinen Antrag beim Versorgungsamt gestellt hat. Das war der 26.10.2022. Für alle Steuerfestsetzungen, bei denen am 26.10.2022 noch keine Verjährung eingetreten war, findet folglich § 171 Abs. 10 S. 1 AO Anwendung. Demnach kann der Behinderten-Pauschbetrag bei Herrn Roth neben den Jahren 2018 bis 2020 auch in den Jahren 2016 und 2017 berücksichtigt werden. |
Materielle Fehler kennen und nutzen
Im Ergebnis bedeutet das aber auch, dass der Behinderten-Pauschbetrag, der Herrn Roth auch für die Jahre 1965 bis 2015 zusteht, infolge bereits eingetretener Festsetzungsverjährung ohne steuerliche Entlastung bleibt. Es handelt sich insoweit um einen materiellen Fehler der Steuerfestsetzungen i. S. v. § 177 Abs. 3 AO. Das wiederum birgt neue Chancen für Herrn Roth. Sollte die Steuerfestsetzung der Jahre 1965 bis 2015 aus anderen Gründen geändert werden (z. B. infolge eines geänderten Grundlagenbescheids über Beteiligungseinkünfte), und sich dadurch die Einkommensteuer erhöhen, könnte er über § 177 Abs. 1 AO den Abzug des Behinderten-Pauschbetrags erreichen.
Beispiel |
... Behinderten-Pauschbetrags in weit zurück-
liegenden Jahren Der Einkommensteuerbescheid 2014 des Herrn Roth wird infolge eines geänderten Bescheids über Beteiligungseinkünfte nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert. Sein zu versteuerndes Einkommen erhöht sich um 1.000 Euro. Lösung: Herr Roth kann nun innerhalb der Einspruchsfrist erreichen, dass für 2014 der Behinderten-Pauschbetrag mit 310 Euro berücksichtigt wird. Sollte sich sein zu versteuerndes Einkommen infolge der Beteiligungseinkünfte aber nur um 200 Euro erhöhen, dann wird auch der Pauschbetrag nur mit 200 Euro abgezogen. |
Mit Erstattungszinsen ist zu rechnen
Weiterer Vorteil für Herrn Roth: Da eine rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzungen für 2016 bis 2020 erfolgt, kann er auch von Erstattungszinsen i. S. v. § 233a AO profitieren. Der Zinslauf beginnt regelmäßig 15 Monate nach Ablauf des Jahres der Steuerentstehung und endet mit Bekanntgabe des geänderten Bescheids. Sollte der Änderungsbescheid für 2016 z. B. am 15.05.2023 bekannt gegeben werden, läuft der Zinslauf vom 01.04.2018 bis zum 15.05.2023 und mithin volle 61 Monate. Die Zinsen betragen für jeden vollen Monat bis zum 31.12.2018 monatlich 0,5 Prozent der Erstattung und für jeden vollen Monat ab dem 01.01.2019 monatlich 0,15 Prozent der Erstattung (§ 238 AO). Damit würden Herr Roth für 2016 insgesamt erstattet:
Steuererstattung (42 % von 310 Euro) | 130,00 Euro |
Zinsen 01.04.2018 – 31.12.2018 (9 Monate x 0,5 % x 130 Euro) | 5,85 Euro |
Zinsen 01.01.2019 – 15.05.2023 (52 Monate x 0,15 % x 130 Euro) | 10,14 Euro |
Gesamterstattung für 2016 | 145,99 Euro |
Wichtig | Die Zinsen stellen Kapitalerträge i. S. v. § 20 Abs. 1 Nr. 7 S. 3 EStG dar, die im Jahr der Erstattung zwingend auf der Anlage KAP zu erklären sind (§ 32d Abs. 3 EStG). Der Grund: Das Finanzamt selbst nimmt bei der Auszahlung anders als eine Bank keinen Steuerabzug von 25 Prozent vor.
Fazit | Der Umfang der Änderungsmöglichkeit richtet sich in erster Linie nach dem Datum, an dem der Antrag beim Versorgungsamt gestellt worden ist. Steuerzahlern ist deshalb zu empfehlen, möglichst frühzeitig einen Antrag zu stellen, wenn sich eine Behinderung abzeichnet. |
AUSGABE: SSP 4/2023, S. 13 · ID: 49188747