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Besondere VerfahrenssituationMehrwertvergleich: Erst kürzen, dann anrechnen oder erst anrechnen, dann kürzen?
| In zivilrechtlichen Angelegenheiten ist es tägliche Praxis, dass der Anwalt zunächst außergerichtlich tätig wird und anschließend im gerichtlichen Verfahren einen Vergleich schließt, der auch nicht rechtshängige Gegenstände mitumfasst (sog. Mehrwertvergleich). Bei der Abrechnung stellt sich regelmäßig die Frage nach der Reihenfolge der Abrechnungsschritte und ob der Anwalt bei einer Alternative bevorzugt wird. Der folgende Beitrag klärt auf. |
1. Verfahrensgebühr erst kürzen, dann anrechnen
Beispiel | ||
Rechtsanwalt R fordert auftragsgemäß den Gegner G zur Zahlung eines Betrags von 30.000 EUR auf. Weil G nicht zahlt, reicht K eine Zahlungsklage ein. In der mündlichen Verhandlung einigen sich die Parteien auf die Zahlung von insgesamt 25.000 EUR. Der Vergleich beinhaltet zugleich auch nicht anhängige Gegenstände (Wert: 15.000 EUR). R rechnet wie folgt ab: Lösung
| ||
1,5-Verfahrensgebühr aus 30.000 EUR, Nr. 2300 VV RVG | 1.432,50 EUR | |
Auslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 275,97 EUR | |
1.728,47 EUR | ||
| ||
1,3-Verfahrensgebühr aus 30.000 EUR, Nr. 3100 VV RVG | 1.241,50 EUR | |
0,8-Verfahrensgebühr aus 15.000 EUR, Nr. 3101 Nr. 2 RVG | 574,40 EUR | |
1.815,90 EUR | ||
höchstens 1,3 aus 45.000 EUR gemäß § 15 Abs. 3 RVG | 1.557,40 EUR | |
anzurechnen 0,75 aus 30.000 EUR gemäß Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG |
- 716,25 EUR | |
1,2-Terminsgebühr aus 45.000 EUR, Nr. 3104 VV RVG | 1.437,60 EUR | |
1,0-Einigungsgebühr aus 30.000 EUR, Nr. 1003 VV RVG | 1.198,00 EUR | |
1,5-Einigungsgebühr aus 15.000 EUR, Nr. 1000 (1) VV RVG | 1.077,00 EUR | |
2.275,00 EUR | ||
höchstens 1,5 aus 45.000 EUR gemäß § 15 Abs. 3 RVG | 1.797,00 EUR | |
Auslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 778,19 EUR | |
4.873,94 EUR | ||
R erhält insgesamt 1.728,47 EUR + 4.873,94 EUR = | 6.602,41 EUR |
2. Erst auf Verfahrensgebühr anrechnen, dann kürzen
Abwandlung | ||
Zu einem anderen Ergebnis gelangt man, wenn die Geschäftsgebühr zuerst auf die Verfahrensgebühr angerechnet wird und erst danach eine Prüfung nach § 15 Abs. 3 RVG erfolgt. R kann im Ausgangsfall wie folgt abrechnen: | ||
Rechtsanwalt erhält hiernach eine höhere Bruttovergütung! Lösung | ||
1. Außergerichtliche Tätigkeit (Mittelgebühr) | ||
1,5-Verfahrensgebühr aus 30.000 EUR, Nr. 2300 VV RVG | 1.432,50 EUR | |
Auslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 275,97 EUR | |
1.728,47 EUR | ||
2. Gerichtliche Tätigkeit | ||
1,3-Verfahrensgebühr aus 30.000 EUR, Nr. 3100 VV RVG | 1.241,50 EUR | |
anzurechnen 0,75 aus 30.000 EUR gemäß Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG | - 716,25 EUR | |
0,8-Verfahrensgebühr aus 15.000 EUR, Nr. 3101 Nr. 2 RVG | 574,40 EUR | |
1.099,65 EUR | ||
höchstens 1,3 aus 45.000 EUR gemäß § 15 Abs. 3 RVG | 1.557,40 EUR | |
1,2-Terminsgebühr aus 45.000 EUR, Nr. 3104 VV RVG | 1.437,60 EUR | |
1,0-Einigungsgebühr aus 30.000 EUR, Nr. 1003 VV RVG | 1.198,00 EUR | |
1,5-Einigungsgebühr aus 15.000 EUR, Nr. 1000 (1) VV RVG | 1.077,00 EUR | |
2.275,00 EUR | ||
höchstens 1,5 aus 45.000 EUR gemäß § 15 Abs. 3 RVG | 1.797,00 EUR | |
Auslagenpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR | |
19 Prozent USt., Nr. 7008 VV RVG | 827,30 EUR | |
5.181,55 EUR | ||
R erhält insgesamt 1.728,47 EUR + 5.181,55 EUR = | 6.910,02 EUR | |
Hinweis: R hat durch diese zweite Berechnungsmethode insgesamt eine höhere Bruttovergütung als im Ausgangsfall. Die Differenz beträgt 307,61 EUR. |
3. Das sind die (finanziellen) Auswirkungen
Nach Ansicht des BGH reduziert sich in Anrechnungsfällen die Verfahrensgebühr um den anrechenbaren Teil der zuvor entstandenen Geschäftsgebühr (BGH NJW 07, 3500; NJW 08, 1323). Insofern ist die zweite Berechnungsmethode richtig, zumal die nicht rechtshängigen mitverglichenen Ansprüche von 15.000 EUR nicht Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit des Anwalts waren.
Würde man mit der ersten Berechnungsmethode zuerst nach § 15 Abs. 3 RVG kürzen und erst anschließend anrechnen, würde durch die Anrechnung indirekt auch die Verfahrensgebühr aus dem Wert der nicht rechtshängigen Ansprüche erfasst. Für diese ist aber eine Kürzung mangels außergerichtlicher Tätigkeit gar nicht gerechtfertigt. Insofern muss hier richtigerweise eine Anrechnung gemäß Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG unterbleiben.
Nach der zweiten Berechnungsmethode gilt: Infolge der Anrechnung reduziert sich nur die wegen desselben Gegenstands (30.000 EUR) später anfallende Verfahrensgebühr. Deshalb darf nur diese der Vergleichsrechnung nach § 15 Abs. 3 RVG in dem – durch Anrechnung – bereits geschmälerten Umfang unterfallen (vgl. OLG München RVG prof. 12, 73). Denn die Anrechnungsvorschrift bezweckt unter einem aufwandsbezogenen Gesichtspunkt die Kürzung der Verfahrensgebühr, weil der Prozessbevollmächtigte aufgrund seiner vorprozessualen Befassung mit dem Streitstoff in der Regel einen geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand hat. Dementsprechend schreibt Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG eine Anrechnung vor, wenn „wegen desselben Gegenstands“ die vorgerichtliche Geschäftsgebühr und die gerichtliche Verfahrensgebühr entstanden sind (dazu auch OLG Stuttgart RVG prof. 09, 94).
Auch dieser Aspekt spricht gegen die erste Berechnungsmethode: Würde man zuerst kürzen bzw. die Kappungsgrenze nach § 15 Abs. 3 RVG ermitteln, entstünde durch die folgende Anrechnung für den Anwalt ein Nachteil. Dieser bestünde dadurch, dass die Anrechnung mittelbar auch einen Teil erfasst, bezüglich dessen kein reduzierter Arbeitsaufwand besteht.
Beachten Sie | Zur Klarstellung: Der „Anrechnungsbeitrag“ in RVG prof. 22, 66 erläutert die Anwaltsgebühren bei mehreren anhängigen Gegenständen (dort spielt die Reihenfolge der Anrechnung keinerlei Rolle). Im Beitrag hier geht es darum, dass bereits außergerichtlich eine Geschäftsgebühr anfällt, die im gerichtlichen Verfahren angerechnet werden muss.
AUSGABE: RVGprof 3/2023, S. 44 · ID: 49041725