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Grenzüberschreitendes Kindergeld: an Pflichtverteidigung denken
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KontroversWie genau ist der Vorsatzirrtum in das Steuerstrafrecht einzubeziehen?
| In der Juristerei kann man oft unterschiedlicher Ansicht sein. In der Rubrik „Kontrovers“ beleuchten zwei Experten ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. Alles ist streitbar, auch taktische Unwägbarkeiten im Ermittlungsverfahren. Z. T. können diese verallgemeinert werden. Bei der erfolgreichen Verteidigung sollte auch der vorsatzausschließende Irrtum mit einbezogen werden. Was sollte in solchen Situationen beachtet und wie sollte hiergegen verteidigt werden? Dazu einige Überlegungen: |
RD a. D. Dr. Henning Wenzel: In der Praxis beachtet die Strafverteidigung den vorsatzausschließenden Irrtum zu selten zielgerichtet und die Strafverfolger zu vorschnell gar nicht. § 16 StGB kann in der Verteidigung eine zentrale Rolle einnehmen, die es bei den strategischen Überlegungen zu beachten gilt.
Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich, § 16 StGB. Das kann bei der Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO besonders die unrichtigen oder unvollständigen Angaben betreffen. Ein solcher vorsatzausschließender Irrtum liegt vor, wenn das Bewusstsein – die Vorstellung des Täters – und die Wirklichkeit – die Realität – auseinanderfallen, der Täter also wegen seiner Fehlvorstellung einen Umstand nicht weiß oder sich in der konkreten Annahme diesen fehlerhaft vorstellt (vgl. Schmidt, StrfR AT, 21. Aufl., Rn. 276 f.).
Aufgrund meiner praktischen Erfahrungen wird seitens der Verteidigung vielfach auf § 16 StGB rekurriert, wenn der Vorsatz pauschal angegriffen werden soll. Das ist aber falsch. Auch die Voraussetzungen des Irrtums müssen eng an den gesetzlichen Vorgaben und präzise am Sachverhalt herausgearbeitet werden. Es ist wichtig, den maßgeblichen Sachverhalt, der den Irrtum begründen soll, inhaltlich genau und in sich konsistent zu beschreiben sowie die vorgetragenen, vorsatzausschließenden Tatsachen nachweislich zu belegen. Pauschale Behauptungen, wie z. B. „mein Mandant weiß nichts von den Bargeldeingängen“, „mein Mandat glaubte, Außerhausverkauf ist stets 7 Prozent“ oder „mein Mandant wusste von dem Kassentrainingsprogramm nichts“, sind weder hinreichend substanziiert und damit nicht erfolgreich, noch können sie den Anwendungsbereich des Irrtums nach § 16 StGB eröffnen.
Ein Vorsatz ausschließender Irrtum kommt besonders in Betracht, wenn der Mandant sich vorab steuerrechtlich bei einem Steuerberater oder sachkundigen Rechtsanwalt beraten ließ und sich im Nachgang darauf verließ; damit sollte regelmäßig bei der Beratung zu Steuermodellen oder vorab geklärten Rechtsfragen ein Irrtum geprüft werden.
Merke | Es reicht nicht aus, sich auf die vom Steuerberater erstellte Steuererklärung pauschal bzw. blind zu verlassen, da der Steuerpflichtige die Obliegenheit hat, sich mit seiner Steuererklärung selbst auseinanderzusetzen. Mit seiner Unterschrift macht er sich die Angaben zu eigen. |
Der Irrtum sollte m. E. auch immer geprüft werden, wenn der Strafvorwurf von Vorschriften abhängt, bei denen ein bestimmter Zeitpunkt wie z. B. § 13 UStG oder § 9 ErbStG zu beachten ist oder an zivilrechtlichen Vorfragen wie z. B. bei Schadenersatzansprüchen oder Bilanzierungspflichten anknüpft, da sich der Steuerpflichtige zum genauen Zeitpunkt oder den maßgeblichen Vorfragen irren könnte.
RAin Dr. Janika Sievert: Die Irrtumslehre klingt in der Theorie mitunter recht einfach, die Praxis gestaltet sich wie so oft kompliziert. Dass ein etwa vorhandener Irrtum seitens der Strafverfolger nicht freiwillig geprüft wird, scheint der Vorschrift immanent zu sein, da das Vorstellungsbild des Täters als höchst subjektives Element nur schwerlich Gegenstand der Ermittlungen sein kann, solange der Täter von seinem Recht zu schweigen Gebrauch macht und sich nicht zum Vorwurf einlässt.
Aber auch im Verteidigungsalltag gestaltet es sich weitaus komplizierter, als es mitunter scheinen mag, einen solchen Irrtum herauszuarbeiten. Dieser muss im Zweifel auch einer richterlichen Beweiswürdigung standhalten und darf gerade keine lapidaren Pauschalbehauptungen enthalten. Dabei ist vor allem das Vorstellungsbild des Mandanten, das Wissen und Wollen bezogen auf den Blanketttatbestand der Steuerhinterziehung, entscheidend. Dies kann zahlreichen Einflüssen unterworfen sein. Die hierfür notwendige Gesamtwürdigung der Sachverhalte und Hintergründe, die zu dem strafrechtlichen Vorwurf geführt haben, kann sehr zeitintensiv sein.
Die Aufklärung hängt auch immer davon ab, inwieweit der Mandat bereit ist, daran mitzuwirken. Der Ablauf des Geschehens muss intensiv daraufhin geprüft werden, ob ein Irrtum vorliegt und sich dieser auf den durch die Strafverfolgung erhobenen Vorwurf ausgewirkt hat. Die hierfür notwendige Erinnerungstiefe ist bei den Mandanten aufgrund der mitunter langen Verfahrensdauer oftmals gar nicht mehr vorhanden oder wird überlagert durch das Studium der Ermittlungsakte, Gespräche mit der Verteidigung oder auch Deutungsversuche im Kreise strafrechtlich nicht versierter Familienmitglieder. Zudem müssen etwa der Ausbildungshintergrund des Mandanten oder seine steuerlichen Kenntnisse und die Dauer seiner Betätigung als Steuerpflichtiger berücksichtigt werden.
Unbestritten ist die Irrtumslehre auch im Steuerstrafrecht ein spannendes Thema, die Anwendung im konkreten Fall muss jedoch immer wohlüberlegt sein. Soweit jedoch gute Gründe für das Vorliegen eines Tatbestandsirrtums seitens der Verteidigung ausgeführt werden, wäre es wünschenswert, wenn auch die Ermittlungsbehörden nicht pauschal das Vorliegen eines Irrtums ablehnen, sondern sich eingehend damit beschäftigen.
AUSGABE: PStR 4/2024, S. 92 · ID: 49875825