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RechtsschutzversicherungMaßgeblicher Zeitpunkt für Beurteilung der Bewilligungsreife für Deckungsschutz
| Zivilprozesse sind teuer und werden von nicht rechtsschutzversicherten Personen immer mehr gemieden. Die Rechtsschutzversicherungen sehen sich demgegenüber einer Vielzahl von Klagebegehren „auf ihre Kosten“ in den sog. Massenverfahren gegenüber: Klagen im Hinblick auf Datenskandale, Klagen zu Datenschutzverstößen und Impfschäden oder Klagen im Kontext von Glücksspiel, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier ist die Rechtsprechung meist im Fluss, bis der BGH sie einer höchstrichterlichen Klärung zuführt. Die Obergerichte sind sich selten einig. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, auf welchen Zeitpunkt es für die Beantwortung der Frage ankommt, ob eine Klage mutwillig ist und gegen das Kostenminderungsgebot in der Versicherung verstößt. Dazu hat der BGH jetzt wichtige Grundsätze formuliert. |
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
Der Kläger nimmt als Versicherungsnehmer die Beklagte als Rechtsschutzversicherer auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung von Deckungsschutz für die außergerichtliche und erstinstanzliche Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen gegen die Herstellerin wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung bei einem von ihm erworbenen Fahrzeug in Anspruch.
Der Versicherungsnehmer unterhält bei der Beklagten seit Dezember 2018 eine Rechtsschutzversicherung, die Schadenersatzansprüche umfasst. Dem Versicherungsvertrag liegen „Allgemeine Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen mit dem Stand 1.1.16“ (im Folgenden: ARB 2016) zugrunde.
Der Kläger erwarb im August 2020 ein gebrauchtes Wohnmobil (Fiat Hymer) mit einem Kilometerstand von 88.600 km zu einem Kaufpreis von 39.790 EUR. Das Fahrzeug unterliegt keinem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Er will die Rückabwicklung des Kaufvertrags gegenüber der Herstellerin nach §§ 823, 826 BGB geltend machen und begehrt hierfür Deckungsschutz. Das lehnte die Rechtsschutzversicherung ab. Es liege weder ein Rechtsverstoß vor, noch bestünden Erfolgsaussichten in der Sache und der Kläger verstoße gegen seine Kostenminderungsobliegenheit. Ein mit „Stichentscheid“ überschriebenes Schreiben der Prozessbevollmächtigten des Klägers wies die Beklagte mit als nicht bindend zurück.
Das LG hat die Deckungsschutzklage abgewiesen. Das sah das OLG anders und hat der Klage weitgehend stattgegeben. Ein Schadenersatzanspruch sei nicht völlig ausgeschlossen. Die Geltendmachung des großen Schadenersatzes sei nicht völlig unvertretbar. Dabei sei auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife unter dem Blickwinkel des Entscheidungszeitpunktes des Gerichtes im Deckungsklageverfahren abzustellen. Der Kläger verstoße weder gegen seine Kostenminderungspflicht, noch sei sein Vorgehen mutwillig. Hiergegen wendet sich der Versicherer mit der Revision.
Entscheidungsgründe
Der BGH ist dem OLG gefolgt und hat die einschränkende Sichtweise des Rechtsschutzversicherers zurückgewiesen.
Leitsatz: BGH 5.6.24, IV ZR 140/23 |
Erfolgt im Deckungsschutzverfahren des Versicherungsnehmers einer Rechtsschutzversicherung nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (hier: durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den sog. Dieselverfahren) zu seinen Gunsten, sind für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten der Klage im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht maßgeblich (Abruf-Nr. 242284). |
BGH sieht Anspruch auf Deckungsschutz
Das OLG hat nach dem BGH rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Kosten der erstinstanzlichen Geltendmachung von deliktischen Schadenersatzansprüchen des Klägers aufgrund des Fahrzeugkaufs zu tragen.
Für den geltend gemachten Rechtsschutzfall – den Erwerb des Fahrzeugs – bestand i. S. d. § 25a Abs. 1 und Abs. 3, § 4 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Buchst. a ARB 2016 unstreitig Versicherungsschutz. Ausgehend hiervon war der Versicherer nach dem BGH nicht berechtigt, gemäß § 3a Abs. 1 Buchst. a bis Buchst. c ARB 2016 Deckungsschutz zu versagen. Denn die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Klägers hat hinreichende Aussicht auf Erfolg gemäß § 3a Abs. 1 Buchst. a ARB 2016.
Es gelten die gleichen Maßstäbe wie bei der PKH
Für die mangelnde Erfolgsaussicht ist der Versicherer darlegungs- und beweispflichtig (BGH 19.11.08, IV ZR 305/07). Der Einwand, dass die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen mutwillig ist, d. h. in einem groben Missverhältnis zum angestrebten Erfolg steht, ist auch grundsätzlich statthaft.
Merke | Die aus § 114 Abs. 1 ZPO übernommene Formulierung bringt zum Ausdruck, dass der Versicherer Versicherungsschutz unter den sachlichen Voraussetzungen gewährt, unter denen eine Partei die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beanspruchen kann (BGH 19.2.03, IV ZR 318/02). Das beruht darauf, dass die sachlichen Anforderungen an die hinreichende Erfolgsaussicht in der Rechtsschutzversicherung die gleichen wie bei der Gewährung von Prozesskostenhilfe sind (BGH, a. a. O., st. Rspr.). |
Für die Gewährung der Prozesskostenhilfe und damit auch des Deckungsschutzes in der Rechtsschutzversicherung genügt es danach, wenn der von einem Versicherungsnehmer als Kläger angenommene Rechtsstandpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung besteht. An die Voraussetzung der hinreichenden Erfolgsaussicht sind keine überspannten Anforderungen zu stellen. Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht schon dann, wenn ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich erscheint wie ein Unterliegen, der Prozessausgang mithin offen ist (BVerfG FamRZ 20, 1559 Rn. 18). Hat sich noch keine herrschende Meinung gebildet, so ist großzügig zu verfahren (BGH 20.4.94, IV ZR 209/92, VersR 94, 1061).
Nach diesem Maßstab hat das OLG für den BGH zutreffend angenommen, dass die Erfolgsaussichten für die beabsichtigte gerichtliche Geltendmachung eines deliktischen Schadenersatzanspruchs auf Rückabwicklung des Kaufvertrags vorlagen.
Merke | Die Besonderheit lag hier darin, dass nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine Klärung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung – im konkreten Fall durch den EuGH – zugunsten des Versicherungsnehmers erfolgt ist. Ein Umstand, der aufgrund der prozessualen Zeitabläufe gerade in den Masseverfahren mehr die Regel als die Ausnahme sein dürfte. |
Maßgeblich sind nach dem BGH für die Beurteilung des Deckungsschutzanspruchs die Erfolgsaussichten im Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht. Ein Berufungsgericht muss daher bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu Recht eine nach dem Zeitpunkt der Deckungsablehnung ergangene, dem Versicherungsnehmer günstige Klärung durch den EuGH zu berücksichtigen.
Grundsatz und Ausnahme
Für die Frage, ob die beabsichtigte Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist zwar grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Deckungsgesuchs abzustellen, d. h. auf den Zeitpunkt, in dem der Rechtsschutzversicherer seine Entscheidung trifft (vgl. nur OLG Karlsruhe VersR 24, 158; OLG Celle 14.9.23, 11 U 39/23; Thüringer OLG 12.5.23, 4 U 660/22; OLG Stuttgart 20.4.23, 7 U 250/22; OLG Hamm 13.4.23, I-6 U 8/22; OLG Stuttgart 2.2.23, 7 U 186/22; OLG Schleswig 12.5.22, 16 U 53/22; Herdter in: Looschelders/Paffenholz, ARB, 2. Aufl., § 3a ARB 2010 Rn. 7; Schmitt in: Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl., ARB 2010 § 3a Rn. 13).
Treten aber bei unverändertem Sachverhalt und gleichbleibender Rechtslage zwischen der ablehnenden Entscheidung des Deckungsschutzantrags und der gerichtlichen Entscheidung über eine Deckungsklage Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten ein, die sich zugunsten des Rechtsschutzsuchenden auswirken und die nach dem einschlägigen Fachrecht zu berücksichtigen sind, sind diese nach der überwiegenden und zutreffenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur bei der Prüfung der Erfolgsaussichten zu beachten (so OLG Celle 14.9.23, 11 U 39/23; OLG Hamm VersR 24, 113; VersR 23, 1290; 13.4.23, I-6 U 8/22; LG Mannheim 21.11.23, 11 S 6/23; LG Hannover 6.11.23, 2 O 25/23; LG Bonn 5.9.23, 10 O 74/23; LG Hamburg 19.4.23, 314 O 96/22; wohl auch LG Köln 14.9.23, 24 O 391/22; wohl auch, aber offenlassend Thüringer OLG 12.5.23, 4 U 660/22; a. A. OLG Nürnberg 11.5.23, 8 U 3296/22; OLG Frankfurt VersR 23, 442; OLG Bremen 9.11.22, 3 U 13/22; OLG Schleswig r+s 22, 512 Rn. 9; jeweils zu den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 2.6.22; LG Berlin 5.7.23, 4 O 104/22; LG Rottweil 12.5.23, 3 O 63/23; LG Berlin 22.9.22, 23 O 132/21; vgl. auch BVerfG Asylmagazin 2021, 439).
Dafür sprechen Wortlaut, Sinn und Zweck von § 3a Abs. 1 ARB 2016 sowie Erwägungen zu Billigkeit und Verfahrensökonomie, die Identität der sachlichen Voraussetzungen im Rechtsschutzversicherungs- und Prozesskostenhilfeverfahren sowie die Intention von § 128 VVG.
Anhaltspunkte für ein Verständnis dahin gehend, dass nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife zugunsten des Versicherungsnehmers erfolgte Klärungen der Rechtslage durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bei Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht zu berücksichtigen sind, lassen sich weder dem Versicherungsvertrag noch dem Wortlaut von § 3a Abs. 1 ARB 2016 entnehmen. Die Regelung lässt diese Frage vielmehr offen, indem sie ohne weitere Differenzierung auf die „hinreichende Aussicht auf Erfolg“ und die „Mutwilligkeit“ abstellt. Die Formulierung „Aussicht auf Erfolg“ deutet lediglich auf eine künftige Angelegenheit und damit darauf hin, dass der Entscheidung eine Prognose zugrunde liegt, ohne den dafür maßgeblichen Zeitpunkt zu bestimmen.
Vermeidung aussichtsloser Prozesse
Mit der Regelung möchte die Beklagte vermeiden, Deckungsschutz für eine Rechtsverfolgung zu gewähren, die aussichtslos ist. Stellte man allein auf den Zeitpunkt der Deckungsablehnung ab, ohne zugunsten des Versicherungsnehmers nachfolgend ergangene Rechtsprechung zu berücksichtigen, sodass dem Versicherungsnehmer Versicherungsschutz versagt würde, obwohl aufgrund der geänderten rechtlichen Bewertung einer gleichbleibenden Sach- und Rechtslage hinreichende Erfolgsaussichten bestehen, würde diesem Ziel widersprochen. Soweit sich die Erfolgsaussichten zwischen der ablehnenden Entscheidung des Versicherers und der gerichtlichen Entscheidung über eine Deckungsklage zugunsten des Versicherungsnehmers verändert haben, besteht zudem kein nachvollziehbarer Grund, den Versicherer nicht zu verpflichten, die Kosten der Klage – die nach einer Prognose zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts hinreichende Erfolgsaussichten aufweist – zu tragen. Eine derartige Einschränkung des Leistungsversprechens des Rechtsschutzversicherers erschiene vielmehr unbillig und liefe auf eine bloße Förmelei hinaus.
Dieses Verständnis entspricht auch der Rechtslage im Prozesskostenhilferecht, das für die Auslegung des versicherungsvertraglichen Merkmals der hinreichenden Erfolgsaussichten maßgeblich ist. Auch die Verfahrensvorschriften des Prozesskostenhilferechts sprechen für eine solche verfahrensökonomische Vorgehensweise. Sie geben zu erkennen, dass über die Prozesskostenhilfe in einem besonderen, im Vergleich zur Hauptsache beschleunigten Verfahren zu entscheiden und insbesondere von einer aufwendigeren Beweisaufnahme abzusehen ist (vgl. § 118 Abs. 2 S. 3 ZPO). Dem widerspräche es, für den Versicherungsnehmer günstige Änderungen in der Rechtsprechung im Deckungsschutzverfahren unberücksichtigt zu lassen und damit eine erneute Antragstellung zu provozieren.
Klärung zulasten des Versicherungsnehmers bleibt unberücksichtigt
Teile der Rechtsprechung nehmen an, dass sich ein Rechtsschutzversicherer nicht nachträglich auf eine zwischenzeitliche Klärung zu seinen Gunsten berufen kann. Das hier eine Ungleichbehandlung vorliege, hat den BGH nicht beeindruckt. Im konkreten Fall liege ein solcher Umstand nämlich nicht vor.
Das sagt das BVerfG Merke | Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 22.3.21 (Asylmagazin 21, 439) zum PKH-Recht klargestellt, dass die Fachgerichte ihren von der Verfassung begrenzten Entscheidungsspielraum nicht überschreiten, wenn sie aus Gründen der Billigkeit und der Prozessökonomie davon ausgehen, dass Änderungen zugunsten des Versicherungsnehmers bei der Entscheidung über den PKH- Antrag zu berücksichtigen sind. Dementsprechend ist (auch) ausnahmsweise für die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Klage auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über diesen Antrag abzustellen, wenn nach der Bewilligungsreife des PKH-Antrags Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussicht eintreten, die sich zugunsten des Rechtsschutzsuchenden auswirken und die nach dem einschlägigen Fachrecht zu berücksichtigen sind. |
Für den Bereich der Rechtsschutzversicherung kann nach Klärung der Rechtslage durch den EuGH zugunsten des Versicherungsnehmers – anders als nach einem Vorabentscheidungsersuchen oder nach Schlussanträgen des Generalanwalts – nichts anderes gelten (BGH 19.2.03, IV ZR 318/02; st. Rspr.).
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung des BGH zeigt, dass die maßgeblichen Rechtsfragen zu einer erfolgreichen Rechtsverfolgung oder -verteidigung im Hauptsacheverfahren getroffen werden und nicht im Deckungsprozess, wenn die Rechtsansicht des Versicherungsnehmers nur vertretbar ist. Für die Rechtsschutzversicherer kann dies zum Problem werden und die Versicherungsbeiträge nach oben treiben. Das könnte wieder dazu führen, dass sich weniger Menschen eine solche Versicherung leisten können.
Richtig wäre es, wenn der Gesetzgeber den kollektiven Rechtsschutz so ausgestaltet, dass er den individuellen Rechtsschutz sperrt. Das würde vermeiden, dass Tausende gleichförmige Verfahren mit individuellen Kosten durch nur wenige Rechtsanwaltskanzleien geführt werden.
Das würde auch den Kostendruck der Versicherer in wirklich individuellen Verfahren verringern und hier großzügigere Entscheidungen ermöglichen.
AUSGABE: FMP 5/2025, S. 88 · ID: 50387373