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KindeswohlgefährdungZurückführung des Kindes in die Herkunftsfamilie steht und fällt mit der Prognoseentscheidung

Abo-Inhalt07.10.20241434 Min. LesedauerVon RAin Dr. Gudrun Möller, FAin Familienrecht, BGM Anwaltssozietät, Münster

| Das OLG Braunschweig zeigt, unter welchen Voraussetzungen ein Kind nach einer möglichen schweren Verletzung durch die Eltern zu diesen zurückgeführt werden kann. |

Sachverhalt

Die Eltern brachten ihre in 2022 geborene Tochter T Ende des Jahres in eine Klinik. Es wurden schwerwiegende Verletzungen diagnostiziert. Sie gaben an, dass die T bei der Fahrt zur U3-Untersuchung stark durchgerüttelt worden sei und sich erbrochen habe. Sie zogen mit T in eine Eltern-Kind-Einrichtung, wo sie bis März 23 verblieben. Das Jugendamt (JA) wandte sich an das AG, um zu klären, wie es anschließend weitergehen sollte. Das gerichtsmedizinische Gutachten deutete auf ein Schütteltrauma hin. Mit Beschluss entzog das AG den Eltern durch einstweilige Anordnung vorläufig u. a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht und übertrug es dem JA. Die T wurde in eine Bereitschaftspflege verbracht, wo sie bis Anfang Mai 24 gelebt hat. Das AG hat ein Gutachten über die Erziehungsfähigkeit der Eltern eingeholt und mit Beschluss die einstweilige Anordnung aufrechterhalten. Der Sachverständige stellte fest, dass die Erziehungsfähigkeit der Eltern eingeschränkt sei und eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung des Vaters V potenziell problematisch sei. Nach dem Abschlussbericht des JA wird die Zusammenarbeit mit den Eltern positiv beschrieben. Gem. dem Gutachten seien die Verletzungen nur mit einem Schütteltrauma zu vereinbaren. Das von den Eltern eingeholte Gutachten wies auf alternative Ursachen hin. Das AG hat den Eltern durch Beschluss u. a. das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und dies dem JA übertragen. Die Beschwerde der Eltern dagegen war erfolgreich.

Leitsätze: OLG Braunschweig 7.5.24, 1 UF 18/24

  • 1. Wurden einem Kind durch einen Elternteil mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere gesundheitliche Schäden (hier in Gestalt eines sog. Schütteltraumas) zugefügt, ist im Einzelfall zu prüfen, ob prognostisch erneut mit ähnlich schwerwiegenden Schäden zu rechnen ist. Selbst schwere Verletzungen müssen einer Rückführung nicht generell entgegenstehen, wenn eine hohe Prognosesicherheit dahin gehend besteht, dass es nicht erneut zu derartigen Schäden kommt.
  • 2. Wiegt der drohende Schaden für das Kindeswohl weniger schwer, steigen für die Rechtfertigung einer Fortsetzung der Trennung des Kindes von seinen Eltern die an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellenden Anforderungen.
  • 3. Für die Prognoseentscheidung ist auch von Bedeutung, ob das verbleibende Gefährdungsrisiko durch die äußeren Lebensbedingungen von Eltern und Kind – etwa in einer geeigneten Einrichtung – weiter minimiert, wenn nicht gar beseitigt werden kann. Dabei spielt auch die Bereitschaft der Eltern zur eigenen psychotherapeutischen Behandlung sowie zur umfassenden Kooperation im Rahmen stationärer und ambulanter Jugendhilfemaßnahmen eine Rolle.
  • (Abruf-Nr. 243211)

Entscheidungsgründe

Die Voraussetzungen für den Teilentzug der elterlichen Sorge sind nicht erfüllt. Eine Kindeswohlgefährdung i. S. d. § 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine solche gegenwärtige Gefahr besteht, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge hinreichend wahrscheinlich das geistige oder leibliche Wohl des Kindes erheblich geschädigt wird. Voraussetzung, um das Kind von seinen Eltern zu trennen, ist Folgendes: Bei dem Kind ist ein Schaden eingetreten oder eine erhebliche Gefährdung lässt sich ziemlich sicher voraussehen, wobei auch die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von seinen Eltern zu beachten sind (BVerfG 10.6.20, 1 BvR 572/20, juris Rn. 22 f.). Zudem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BVerfG 16.9.22, 1 BvR 1807/20, juris Rn. 42).

Ob eine Trennung des Kindes von der Familie zulässig und geboten ist, hängt i. d. R. von einer Gefahrenprognose ab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und an die Belastbarkeit der Tatsachengrundlage, von der auf die Gefährdung geschlossen wird, sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt (BGH 21.9.22, XII ZB 150/19, juris Rn. 21). Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, weil es bereits misshandelt wurde und die Eltern dafür verantwortlich sind, gilt: Damit keine Trennung erfolgt, muss ein hohes Maß an Prognosesicherheit bestehen, dass dieser Schaden nicht erneut eintreten wird (BVerfG 16.9.22, 1 BvR 1807/20, juris Rn. 43).

Die Umstände sprechen dafür, dass die T durch mindestens einen Elternteil ein Schütteltrauma erlitten hat. Das Gutachten der Eltern ist nicht geeignet, dies auszuschließen oder erhebliche Zweifel daran zu begründen. T kann aber unter bestimmten Auflagen, um das Kindeswohl zu sichern, zu ihren Eltern zurück: Das BVerfG verlangt eine hohe Sicherheit, dass keine weiteren erheblichen Schäden eintreten, bevor ein Kind zu den Eltern zurückkehrt (BVerfG 16.9.22, 1 BvR 1807/20, juris Rn. 43). In dem Fall hatte der Vater dem Säugling S den Oberschenkel gebrochen. Kurz danach hat S ein Schütteltrauma oder einen Sturz aus mindestens 90 cm Höhe erlitten (OLG Frankfurt 9.3.20, 6 UF 131/18, juris Rn. 160, 174 ff.). Angesichts der Schwere der durch weitere Verletzungen drohenden Schäden forderte das BVerfG keine weitergehenden Feststellungen zum Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und auch keine weitergehende Konkretisierung möglicher Verletzungshandlungen (BVerfG, a. a. O.).

Merke | Doch auch bei einer Misshandlung ist zu prüfen, ob mit erheblichen weiteren, gleichartigen Schädigungen zu rechnen ist, um eine Trennung zu rechtfertigen. Allein die abstrakte Wiederholungsgefahr, die im Fall von Misshandlungen mit 30 bis 40 % in einem Zeitraum von drei bis sechs Jahren beschrieben wird, genügt nicht in jedem Fall (Billhardt, Anm. zu BVerfG 1 BvR 1807/20, FamRZ 23, 55, 56). Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls sowie die Art und Schwere der stattgefundenen und ggf. zu befürchtenden Verletzungen zu beachten. Selbst schwere Verletzungen stehen einer Rückführung nicht allgemein entgegen, sofern die Gefährdungslage in der Herkunftsfamilie beseitigt ist (OLG Frankfurt 18.4.18, 4 UF 240/17, juris Rn. 15 f.). Wiegt der drohende Schaden weniger schwer, steigen die an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellenden Anforderungen.

Hier gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der T weitere, ähnlich schwerwiegende Verletzungen durch ihre Eltern drohen. Die Gefahr eines erneuten Schütteltraumas ist gesunken. T ist kein Säugling mehr. Anhaltspunkte dafür, dass ein Elternteil zu Gewaltdurchbrüchen neigt, sind nicht ersichtlich (anders im Fall des BVerfG (16.9.22, 1 BVR 1807/20, juris Rn. 43, 59). Ferner besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Eltern bei einer Verletzung oder Erkrankung der T nicht unverzüglich ärztliche Hilfe beanspruchen würden. Sie haben T nach dem Auftreten der Symptome unverzüglich in die Klinik gebracht.

Das Verhalten eines Kleinkindes von eineinhalb Jahren kann den betreuenden Elternteil herausfordern, zumal die T lebhaft ist mit einem ausgeprägten Trotzverhalten. Wahrscheinlich werden noch andere Stresssituationen für die Eltern eintreten. Bei einer Prognose sind auch die Persönlichkeitsmerkmale des V einzubeziehen. Diese Risikofaktoren können u. a. durch Jugendhilfemaßnahmen so weit minimiert werden, dass eine ausreichende Prognosesicherheit dafür besteht, dass weitere Übergriffen gegen T unterbleiben.

Die Eltern können ihre Erziehungsfähigkeit durch therapeutische und pädagogische Maßnahmen verbessern und lernen, besser mit Stress umzugehen und sich Handlungsstrategien aneignen. Dazu ist der nochmalige Aufenthalt in einer Eltern-Kind-Einrichtung geeignet. Dort wird das Risiko erneuter Affektdurchbrüche durch eine Kontrolle minimiert bzw. beseitigt. So können sie sich in einer Übergangsphase auf die erhöhten Anforderungen der Betreuung der T im eigenen Haushalt mit ambulanter Unterstützung vorbereiten. Eine ununterbrochene Anwesenheit Dritter ist nicht erforderlich, da mittlerweile keine ernst zu nehmende Gefahr eines erneuten Schütteltraumas mehr besteht. Bei den begleiteten Umgangskontakten hat sich gezeigt, dass die Eltern sich jederzeit auch ohne Hilfe Dritter liebevoll und fürsorglich um T kümmern können. Auch nach mehrstündigen und teils tageweisen unbegleiteten Umgängen waren keine Verhaltensauffälligkeiten der T zu beobachten.

Der V kann sich psychotherapeutisch behandeln lassen. Der Erfolg hängt wesentlich von der Motivation ab. Insoweit haben beide Eltern glaubhaft versichert, zu einer therapeutischen Behandlung bereit zu sein.

Es entspricht dem Kindeswohl, dass T zu ihren Eltern zurückkehrt. Ihr steht ohnehin ein Aufenthaltswechsel bevor. Sie hat zu ihren Eltern eine gute Beziehung, die dadurch gefestigt wird. Im Anschluss daran wird ambulante Unterstützung, z. B. in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe, in Anspruch zu nehmen sein. T sollte zeitnah in eine Krippe kommen, um die Eltern zu entlasten und durch eine weitreichende Kontrolle ihr Wohlergehen zu gewährleisten.

Relevanz für die Praxis

Die Entscheidung, ein Kind nach einer schwerwiegenden Misshandlung zurück in die Obhut der Eltern zurückzuführen, ist äußerst verantwortungsvoll und bedarf daher einer sicheren Prognose, dass keine Kindeswohlgefährdung mehr droht. Das OLG Braunschweig zeigt einen gangbaren Weg – Eltern-Kind-Einrichtung, therapeutische und pädagogische Maßnahmen, ggf. psychotherapeutische Behandlung eines oder beider Elternteile, ambulante Unterstützung in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe, Kita etc. Aber eines ist klar: Die Eltern müssen es auch wollen, so wie im entschiedenen Fall.

AUSGABE: FK 11/2024, S. 185 · ID: 50129688

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