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Internationales So ermitteln Sie das auf die Scheidung eines Diplomatenehepaars anzuwendende Recht
| Der BGH hat dem EuGH eine Frage vorgelegt, um den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 8 lit. a) und b) Rom III-VO) auszulegen. |
Sachverhalt
Die Eheleute M und F, die beide einen Diplomatenpass haben, sind deutsche Staatsangehörige. Sie zogen nach Schweden, wo M an der Deutschen Botschaft arbeitete. Sie behielten ihre Mietwohnung in Deutschland, um später dorthin zurückzukehren. Im September 19 zogen sie nach Russland in eine Wohnung auf dem Gelände der deutschen Botschaft, an die M versetzt worden war. Von Januar 20 bis Februar 21 war F wegen einer Operation in Deutschland, kehrte aber nach Russland zurück. Im März 21 teilten die Eheleute ihren Kindern ihre Scheidungsabsicht mit. Im Mai 21 zog F in die Mietwohnung in Deutschland. M leitet im Juli 21 das Scheidungsverfahren in Deutschland ein und beruft sich als Trennungszeitpunkt auf Januar 20, F dagegen auf frühestens Mai 21. Das AG hat den Antrag zurückgewiesen, da das nach deutschem Recht erforderliche Trennungsjahr nicht abgelaufen sei und keine Härtefallscheidung infrage käme. Auf die erfolgreiche Beschwerde des M hat das KG die Ehe nach russischem Recht geschieden. Ein VA sei nach Art. 17 Abs. 4 S. 2 EGBGB mangels Antrags nicht durchzuführen. Dagegen hat F Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der sie die Scheidung nach deutschem Recht und den VA von Amts wegen begehrt. Der BGH hat das Verfahren ausgesetzt und dem EUGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH 20.12.23, XII ZB 117/23, Abruf-Nr. 239349):
Nach welchen Kriterien ist der gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten i. S. v. Art. 8 lit. a) und b) Rom III-VO zu bestimmen?
- Beeinflusst die Entsendung als Diplomat die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Empfangsstaat oder steht sie einer solchen sogar entgegen?
- Muss die physische Präsenz der Ehegatten in einem Staat von gewisser Dauer gewesen sein, bevor davon ausgegangen werden kann, dass dort ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde?
- Setzt die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ein gewisses Maß an sozialer und familiärer Integration in dem betreffenden Staat voraus?
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist F rechtsbeschwerdebefugt. Sie hat sich schon vor dem KG nicht mehr gegen die Scheidung als solche gewandt und möchte am Verbund festhalten. Sie ist aus verfahrensrechtlichen Gründen beschwert. Denn der VA ist im Fall der Scheidung nach russischem Sachrecht mangels des nach Art. 17 Abs. 4 S. 2 EGBGB erforderlichen Antrags nicht durchzuführen, während er bei der Scheidung nach deutschem Sachrecht nach Art. 17 Abs. 4 S. 1 EGBG im Verbund von Amts wegen erfolgen muss.
Das KG hat zu Recht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 3 Abs. 1 lit. a), 3. Spiegelstrich Brüssel IIa-VO i. V. m. Art. 100 Abs. 2 Brüssel IIb-VO angenommen aufgrund gewöhnlichen Aufenthalts der F in Deutschland im Juli 21. Auch ist aufgrund gemeinsamer Staatsangehörigkeit Art. 3 Abs. 1 lit. b Brüssel IIa-VO einschlägig.
Merke | Mangels Rechtswahl (Art. 5 Rom III-VO) kommt es darauf an, wie der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts i. S. d. Art. 8 lit a) und b) Rom III-VO auszulegen ist, um zu klären, welches Sachrecht anzuwenden ist. Zu diesem Begriff liegt aber keine Rechtsprechung des EuGH vor. Dessen Verständnis ist nicht eindeutig. |
Ein gewöhnlicher Aufenthalt des M in Russland ist fraglich, da er als Diplomat entsendet wurde. Er war dort aufgrund dienstrechtlicher Bestimmungen zwangsweise angemeldet. Fraglich ist, ob die Entsendung als Diplomat die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Empfangsstaat beeinflusst oder dieser sogar entgegensteht, so Cour d’appel de Luxembourg 6.6.07, 31642, abrufbar unter www.unalex.eu, Entscheidung LU-26.
Der EuGH hat zwar entschieden, dass es für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Eheleuten i. S. d. Art. 3 Abs. 1 lit a Brüssel IIa-VO und Art. 3 lit a) und b) EuUntVO nicht entscheidend sei, dass diese als Vertragsbedienstete der Union in einer Delegation der EU in einem Drittstaat beschäftigt waren und dort Diplomatenstatus hatten (EuGH 1.8.22, C-501/20). Diese Rechtsprechung lässt sich aber nicht ohne Weiteres auf die Rom III-VO übertragen. Um das Scheidungsstatut zu bestimmen, kommt es nicht in gleicher Weise wie bei der Beurteilung des Bestehens und der Höhe eines Unterhaltsanspruchs auf die rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen des sozialen Umfelds des Aufenthaltsstaats an. Ferner ist diese Entscheidung des EuGH nicht zu Diplomaten ergangen, sondern zu Vertragsbediensteten der EU, die am Sitz in Brüssel keiner Rotation unterlegen hätten und bei denen kein Rückkehrwille in den Heimatstaat festzustellen gewesen sei.
Es ist zweifelhaft, wie der Umstand, dass die Eheleute wegen der Tätigkeit des M als Diplomat auf unbestimmte Zeit nach Russland ziehen mussten, die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Rom III-VO beeinflusst. Es kann auch zu beachten sein, dass die Versetzung des M zeitlich unbegrenzt war und nicht von dessen Willen abhing. Die Eheleute haben den Wohnsitz in Russland nicht frei gewählt und die Wohnung in Deutschland aufrechterhalten. Wenn diese Umstände im Rahmen einer Gesamtabwägung zu berücksichtigen sind, kann ein gewöhnlicher Aufenthalt in Russland zu verneinen sein.
Auch ist zwecks Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts der F klärungsbedürftig, ob die physische Präsenz der Ehegatten in einem Staat von gewis-ser Dauer gewesen sein muss und ob ein gewisses Maß an sozialer und familiärer Integration in diesem Staat vorausgesetzt ist, um einen gewöhnlichen Aufenthalt i. S. d. Rom III-VO zu begründen. Denn russisches Recht ist nur anzuwenden, wenn auch F ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Russland begründet hat und dieser nicht mehr als ein Jahr vor Verfahrenseinleitung im Juli 21 beendet gewesen ist.
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist nach der EuGH-Rechtsprechung zur Brüssel IIa-VO autonom auszulegen, wobei der Wortlaut und der Kontext der Bestimmungen, in denen er genannt ist, sowie der Ziele der jeweiligen VO zu beachten sind (EuGH 6.7.23, C-462/22; 25.11.21, C-289/20; 28.6.18, C-512/17).
Der EuGH hat den Begriff in der Rom III-VO bisher nicht ausgelegt. Das deutschsprachige Schrifttum ist uneinig darüber, ob der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 8 lit. a) und b) Rom III-VO ebenso zu verstehen ist wie der gleiche Begriff in der Brüssel IIa-VO. Erwägungsgrund 10 Abs. 1 Rom III-VO sieht vor, dass die Rom III-VO mit der Brüssel IIa-VO in Einklang stehen soll. Erwägungsgründe 14 und 21 Rom III-VO stellen auf ein Scheidungsrecht ab, zu dem Ehegatten einen engen Bezug haben. Dies könnte dafür sprechen, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in Art. 8 lit. a) und b) Rom III-VO anders auszulegen als in der Brüssel IIa-VO. Für die Frage, ob die Eheleute zu dem Recht des betreffenden Staates bereits einen engen Bezug haben, könnte relevant sein, ob bereits eine gewisse soziale und familiäre Integration in diesem Staat stattgefunden hat. Dieses vom EuGH im Rahmen des gewöhnlichen Aufenthalts i. S. d. Brüssel IIa-VO aufgestellte Kriterium (EuGH 9.10.24, C-376/14 PPU; 22.12.10, C-497/10 PPU; 2.4.09, C 523/07) lässt sich auch bei der Rom III-VO heranziehen, wobei angesichts der in den Erwägungsgründen 14 und 21 Rom III-VO zum Ausdruck kommenden Ziele der Rom III-VO ein deutlich stärkeres Maß an sozialer und familiärer Integration als im Rahmen der Brüssel IIa-VO erforderlich sein könnte, um einen gewöhnlichen Aufenthalt nach der Rom III-VO anzunehmen.
Relevanz für die Praxis
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist im internationalen Familienrecht bedeutsam. Er findet sich in EU-VOen wie in internationalen Rechtsinstrumenten, wie z. B. HKÜ und KSÜ. Der EuGH hat zum gewöhnlichen Aufenthalt i. S. d. Brüssel IIa-VO bereits mehrfach entschieden. Diese Rechtsprechung gilt in Bezug auf die Brüssel IIb-VO als Nachfolge-VO weiter. Danach unterliegt der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Einzelfall einer Abwägung verschiedener Kriterien.
Auch die Rom III-VO stellt entscheidend auf den gewöhnlichen Aufenthalt ab, sowohl bei der Frage, ob eine wirksame Rechtswahlvereinbarung mit eingeschränkten Möglichkeiten nach Art. 5 Rom III-VO vorliegt, als auch bei Art. 8 Rom III-VO, der das anzuwendende Sachrecht im Fall keiner wirksamen Rechtswahl bestimmt. Durch die Vorlage des BGH ist nun erstmalig eine Entscheidung des EuGH zum gewöhnlichen Aufenthalt i. S. d. Rom III-VO zu erwarten. Die angefragten Antworten des EuGH, ob der gewöhnliche Aufenthalt i. S. d. Rom III-VO anders zu bestimmen ist als dieser i. S. d. Brüssel IIa-VO und EuUntVO, werden unabhängig von der Sondersituation von Diplomaten bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts relevant sein.
Praxistipp | Die Frage, welches Sachrecht auf die Scheidung anzuwenden ist, wirkt sich nach Art. 17 Abs. 4 EGBGB auch auf den VA im Verbund aus. Folge: Greift für die Scheidung kein deutsches Sachrecht, ist zeitnah zu klären, ob ein VA gewünscht ist, sodass dieser rechtzeitig zu beantragen ist. Dieser Antrag sollte vorsorglich sogar bereits gestellt werden, wenn allein infrage kommt, dass anderes als deutsches Recht auf die Scheidung anzuwenden ist. |
AUSGABE: FK 4/2024, S. 64 · ID: 49920449