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PatientenaufklärungZwischen Patientenwillen und Patientenwohl: Grenzbereiche der Einwilligung
| Ärztliche Heileingriffe ohne Einwilligung des Patienten erfüllen den Tatbestand der Körperverletzung – selbst wenn der Eingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst und nach Maßgabe des Facharztstandards erfolgt ist. Doch was gilt, wenn der Patient selbst gar nicht in der Lage ist, seine Einwilligung zu erklären, etwa weil er Risiko und Nutzen bzw. die Notwendigkeit der geplanten Behandlung intellektuell nicht (mehr) begreifen kann? Kann dann ein Dritter anstelle des Patienten einwilligen? Und wann ist dann die Rede von einer „Zwangsbehandlung“? Nicht zuletzt wegen umfangreicher Gesetzesneuerungen zum 01.01.2023 gibt dieser Beitrag einen Einblick in diese rechtlich und ethisch hochsensible Thematik. |
Fehlende Einwilligungsfähigkeit in Betreuungsfällen – gesetzliche Neuregelung zum 01.01.2023
Stellvertretend für Konstellationen fehlender Einwilligungsfähigkeit bietet sich zunächst ein Blick auf Betreuungskonstellationen an: Die sog. rechtliche Betreuung stellt ein gesetzliches Regelungskonstrukt zur Unterstützung von Erwachsenen dar, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht oder nicht mehr besorgen können.
Dazu kann auch die Entscheidung über die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme gehören. Welche Grundsätze dann zu beachten sind, ergibt sich aus den gesetzlichen Vorschriften der §§ 1927 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), die nach mehreren wegweisenden höchstrichterlichen und verfassungsgerichtlichen Entscheidungen im Rahmen einer umfangreichen Reform des Betreuungsrechts neu kodifiziert worden und nunmehr seit dem 01.01.2023 in Kraft getreten sind. Soll danach ein Patient ärztlich behandelt werden, für den ein Betreuer bestellt worden ist, sieht das Gesetz folgendes Prozedere vor:
Merke | Allein die Tatsache, dass für den Patienten ein Betreuer bestellt worden ist, sagt noch nichts über dessen Einwilligungsfähigkeit aus! |
- 1. Der behandelnde Arzt muss zunächst prüfen, ob der Patient dennoch selbst die Tragweite der anstehenden Behandlung inklusive aller Risiken und Nutzen erfassen bzw. den eigenen Willen daran ausrichten kann und damit als einwilligungsfähig gilt. Denn in diesem Fall kommt es weiterhin maßgeblich auf die eigenen Erklärungen des Patienten an.Kann der Patient die Tragweite der Behandlung erfassen?
- 2. Ist hingegen keine solche Einwilligungsfähigkeit gegeben, so ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob eine Patientenverfügung vorliegt, die den konkreten Behandlungsfall erfasst.Liegt eine Patientenverfügung vor?
- 3. Fehlt auch eine Patientenverfügung, so hat der Betreuer schließlich anstelle des betreuten Patienten über die Einwilligung in die konkrete Maßnahme zu entscheiden, wobei er sich primär an tatsächlichen sog. Behandlungswünschen des Patienten zu orientieren hat (§ 1827 Abs. 2 BGB). Damit sind solche Äußerungen des Betroffenen gemeint, die Festlegungen für eine konkrete Lebens- und Behandlungssituation enthalten, aber den (formalen) Anforderungen an eine Patientenverfügung nicht genügen, etwa weil sie nicht schriftlich abgefasst worden sind.Betreuer entscheidet nach Behandlungswünschen des Patienten ...
- 4. Ergänzend hat der Betreuer schließlich ggf. eine Genehmigung des Betreuungsgerichts einzuholen, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute durch die Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger andauernden gesundheitlichen Schaden erleidet (§ 1829 Abs. 1 BGB).... und muss ggf. eine Genehmigung des Betreuungsgerichts einholen!
„Zwangsbehandlung“ – Voraussetzungen und Grenzen
Der Begriff „Zwangsbehandlung“ beschreibt nach der gesetzlichen Definition im Betreuungsrecht jede Untersuchung des Gesundheitszustands, jede Heilbehandlung oder jeden ärztlichen Eingriff, welche bzw. welcher dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht (vgl. § 1832 BGB n. F.). Diese Definition gilt dabei nicht exklusiv im Betreuungsfalle, sondern kann regelmäßig in all jenen Konstellationen herangezogen werden, in denen der Patient selbst nicht mehr in der Lage ist, wirksam einzuwilligen.
Der Definition folgend kommt eine Zwangsbehandlung – für den hier skizzierten Bereich der Betreuung – konkret dann in Betracht, wenn der Betreute die Ablehnung einer Maßnahme kommuniziert, während er einwilligungsunfähig ist – und damit über keine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Hinblick auf die Tragweite der Behandlung verfügt. Kann er aus selbigem Grunde auch nicht die Notwendigkeit einer Behandlung zum Zwecke der Abwendung drohender erheblicher gesundheitlicher Schäden erkennen, so kann sich der Betreuer ausnahmsweise und nur unter engen gesetzlichen Voraussetzungen über den natürlichen Willen des betreuten Patienten hinwegsetzen.
Ermittlung der Einwilligungsfähigkeit als Ermessensentscheidung des behandelnden Arztes |
Das Vorliegen der Einwilligungsfähigkeit hat der behandelnde Arzt im Einzelfall nach eigenem Ermessen zu ermitteln. Dabei hat er vor allem die Komplexität der Entscheidung angesichts von Risiko und Umfang der fraglichen Behandlung zu berücksichtigen. Die Beurteilung kann daher je nach Verfassung des Patienten in der konkreten Situation und der Art der Behandlung unterschiedlich ausfallen. Gerade diese Dynamik in der Begutachtung macht die ärztliche Einschätzung besonders anspruchsvoll. Der Arzt sollte dieser Aufgabe also stets ausreichend Aufmerksamkeit einräumen und sein Vorgehen umfassend dokumentieren. Sollten Zweifel bestehen, so sollte die Maßnahme nach Möglichkeit zunächst aufgeschoben werden. Wichtig | Da die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit eine reine Ermessensentscheidung des Arztes darstellt, ist sie im Streitfall gerichtlich nur auf grobe Fehleinschätzungen überprüfbar und damit nur eingeschränkt justiziabel! |
Durch die Verlagerung der Einwilligungsbefugnis auf den Betreuer soll der Betreute gewissermaßen davor geschützt werden, dass er auf eine besonders gesundheitsrelevante Behandlung nur deshalb verzichtet, weil er ihren Nutzen nicht erkennen kann. Gleichwohl hat der Betreuer vor allem die Inhalte einer Patientenverfügung bzw. etwaig kommunizierte Behandlungswünsche des Patienten bei seiner Entscheidung über die Einwilligung zu berücksichtigen.
Behandlungswünsche ≠ natürlicher Wille des Patienten Merke | Die „Behandlungswünsche“ eines Patienten (ggf. niedergelegt in einer Patientenverfügung) sind abzugrenzen von dessen geäußertem „natürlichen Willen“. Während Behandlungswünsche (noch) im Zustand der Einwilligungsfähigkeit etwa in Ansehung einer Erkrankung geäußert werden, ist der natürliche Wille gerade nicht von der entsprechenden Einsichts- und Steuerungsfähigkeit getragen und wird regelmäßig in direktem Zusammenhang mit der Behandlung geäußert. Folglich können beide Äußerungen durchaus in Widerspruch zueinander stehen. |
Eine Zwangsbehandlung ist nach den gesetzlichen Vorschriften dann jedoch nur im Rahmen eines vollstationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt werden kann, zulässig. Im ambulanten Bereich sowie in Heimen ist die Durchführung grundsätzlich verboten. Durch diese gesetzlichen Vorgaben soll sichergestellt werden, dass die Durchführung von Zwangsbehandlungen auf ein absolutes Minimum reduziert wird und die notwendigen Voraussetzungen für eine angemessene ärztliche Prüfung sowie eine anschließende therapeutische Aufarbeitung mit dem Patienten gewährleistet werden können.
In jedem Falle muss stets zwingend und ohne Ausnahme vor jeder Maßnahme eine Genehmigung des Betreuungsgerichts eingeholt werden; dies gilt nach den gesetzlichen Neuregelungen selbst dann, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, die die ärztliche Zwangsmaßnahme bereits ausdrücklich gestattet.
Zwangsbehandlungen können schließlich auch auf der Grundlage anderer Gesetze, etwa auf der Grundlage der Vorschriften aus den jeweiligen Gesetzen der Länder über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG), durchgeführt werden (vgl. CB 11/2017, Seite 10), die hier jedoch nicht weiter vertieft werden sollen.
Behandlung von Minderjährigen – Kindeswille vs. Kindeswohl
Die Frage der Einwilligungsfähigkeit stellt sich im Praxisalltag besonders häufig auch bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Hier kommt es ebenso entscheidend darauf an, ob der Patient über die nötige Einsichtsfähigkeit verfügt, was von dem Behandler im Einzelfall zu ermitteln ist. Für die Beurteilung ohne Relevanz ist dabei, ob der Patient geschäftsfähig ist; nach ständiger Rechtsprechung des BGH kommt es ganz allein darauf an, ob dieser „nach seiner geistigen und sittlichen Reife die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs und seiner Gestattung zu ermessen vermag“.
Während die Beurteilung bei (minderjährigen) Kleinkindern und jungen Teenagern i. d. R. noch einigermaßen eindeutig ausfallen dürfte, gestaltet sich diese bei Heranwachsenden über 14 Jahren mitunter erheblich komplexer. Auch insoweit hat der Behandler wiederum die konkrete Verfassung des jungen Patienten und die Art der Behandlung in seine Entscheidung miteinzubeziehen. Bestehen begründete Zweifel am Bestehen der Einwilligungsfähigkeit, so sind die sorgeberechtigten Eltern miteinzubeziehen, denen dann grundsätzlich nur gemeinsam – je nach Schwere des Eingriffs – das Zustimmungsrecht zukommt. Auch diese dürfen jedoch keinesfalls „unvernünftige“ Entschlüsse zum Nachteil ihres Kindes fassen: Verschließen sie sich etwa aus religiösen Gründen notwendigen medizinischen Maßnahmen, so kann der Arzt gehalten sein, das Familiengericht anzurufen und einen Pfleger bestellen zu lassen, der dann anstelle der Eltern darüber zu befinden hat, was dem Wohl des Kindes entspricht.
Merke | Abseits dieser Ausnahmekonstellation ist es durchaus denkbar, dass es in der Gemengelage zwischen Eltern und Heranwachsendem zu Uneinigkeit über die Durchführung einer bestimmten Behandlung kommt. Hier gilt es für den Arzt einmal mehr, die Einsichtsfähigkeit des Patienten aufmerksam zu prüfen und diesen entsprechend seines Reifegrades bei der Aufklärung und Entscheidung zu beteiligen. |
Verweigert der heranwachsende Patient die Einwilligung trotz einer dringenden medizinischen Indikation, so kann dies mitunter ein Indiz für ein mangelndes Risikobewusstsein und damit für eine fehlende Einwilligungsfähigkeit darstellen. Zwingend ist dieser Schluss jedoch nicht: Spätestens bei lebensbedrohlichen Erkrankungen und der Option auf kurzfristig lebensverlängernde Therapien sind mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht des jungen Patienten ethische und rechtliche Grenzbereiche erreicht, die keinesfalls schematisch eingeordnet werden können.
Empfehlungen für behandelnde (Chef-)Ärztinnen und Ärzte
Die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit ist vor allem in der Behandlung von unter Betreuung stehenden Patienten sowie von Minderjährigen und Heranwachsenden eine anspruchsvolle und haftungsrechtlich hoch relevante Aufgabe im Rahmen der ärztlichen Behandlung. Ärztinnen und Ärzte sollten diesem Schritt in der Behandlung also stets ausreichende Aufmerksamkeit widmen und ihre Überlegungen in Zweifelsfällen besonders akribisch dokumentieren.
Je nach Ergebnis dieser Ermessensentscheidung – die per se immerhin nur eingeschränkt justiziabel ist (s. o.) – muss der Arzt sich dann ggf. an die Entscheidung des bestellten Betreuers bzw. der sorgeberechtigten Eltern halten. Entscheiden anstelle des einwilligungsunfähigen Patienten Dritte über die Durchführung der Behandlung, so sind in jedem Fall rechtsverbindliche Patientenverfügungen und Behandlungswünsche vorrangig zu berücksichtigen, um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ausreichend zu wahren.
Steht schließlich die Einwilligung (etwa) des stellvertretend handelnden Betreuers in Widerspruch zu dem geäußerten, natürlichen Willen des Patienten, so liegt begrifflich eine „Zwangsbehandlung“ vor, für die in dem hier schwerpunktmäßig skizzierten Bereich der Betreuung seit der Neufassung der gesetzlichen Grundlagen explizite Voraussetzungen und Grenzen definiert sind, die zwingend zu beachten sind.
AUSGABE: CB 4/2023, S. 10 · ID: 49231884