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VertragsarztrechtTreu und Glauben nicht berücksichtigt – kein Regress gegen ermächtigten Chefarzt!
| Wenn die Prüfgremien der gemeinsamen Selbstverwaltung über einen Regress gegen einen ermächtigten (Chef-)Arzt entscheiden, müssen sie neben dem Vertragsarztrecht auch den Grundsatz von Treu und Glauben berücksichtigen. Ein ermächtigter Chefarzt hatte Glück: Obwohl er viele seiner Arzneimittelverordnungen nicht persönlich unterzeichnet und damit gegen den Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung verstoßen hatte, sah das Gericht einen Regress als „ungehörig“ an. Denn: Die Prüfgremien hatten den Grundsatz von Treu und Glauben außer Acht gelassen (Sozialgericht [SG] Mainz, Urteil vom 07.01.2022, Az. S 3 KA 14/19). |
Hintergrund: persönliche Leistungserbringung
Ermächtigte (Chef-)Ärzte nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Daher haben sie sämtliche Vorschriften des Vertragsarztrechts, insbesondere das Gebot der persönlichen Leistungserbringung, zu beachten (CB 08/2022, Seite 11). Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits in einer Entscheidung aus 2013 (Urteil vom 20.03.2014, B 6 KA 17/12 R) zum Ausdruck gebracht, dass das Gebot der persönlichen Leistungserbringung auch für die Verordnungstätigkeit eines ermächtigten Krankenhausarztes gilt (CB 10/2017, Seite 16).Unterschreibt der ermächtigte Arzt, die von ihm ausgestellten Verordnungen nicht oder nicht persönlich, kann daraus die Feststellung eines sonstigen Schadens gem. § 48 Abs. 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) resultieren.
Chefarzt hatte viele Verordnungen nicht selbst unterschrieben
In dem vom SG Mainz entschiedenen Fall wehrte sich der Kläger, ein Chefarzt, gegen eine Schadensfestsetzung i. H. v. knapp 270.000 Euro. Als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe war er zur Behandlung von vor allem onkologisch erkrankten Patientinnen ermächtigt. Für diese Patientinnen hatte er Verordnungen über Medikamente ausgestellt, die im Rahmen einer chemotherapeutischen Behandlung von Tumorerkrankungen verabreicht wurden und die medizinisch indiziert waren. In einer Vielzahl von Fällen hatte er die Verordnungen nicht selbst unterschrieben.
Zu seiner Rechtfertigung trug er vor, dass die in Rede stehenden Verordnungen an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Behandlung erfolgt und mit Verordnungen im niedergelassenen Bereich nicht vergleichbar waren. Die Arzneimittel mussten ausreichend weit im Vorfeld des ambulanten Therapietags angefordert werden, zu dem die Patientinnen sich noch oder wieder in stationärer Behandlung befanden. Es handelte sich um komplexe Kombinationstherapien, die gewichts- und statusadaptiert patientenbezogen individuell hergestellt wurden. Aufgrund der Vielzahl der anzugebenden Daten für die Arzneimittel war auf ein digitales System umgestellt worden, um das Risiko von Fehlern zu minimieren. Die Rezeptunterschrift war im Rahmen der Therapieanforderung ein ergänzender formaler Akt, der zeitlich unabhängig von der maßgebenden digitalen Therapieanforderung erfolgte. Das Arzneimittelanforderungssystem war qualitätsgesichert und zertifiziert.
Regress: Trotz erfüllter Voraussetzungen ...
Das Gericht hatte nun zu entscheiden, wie mit einer medizinisch korrekten, medizinisch indizierten Verordnung umzugehen ist, die unter Verletzung einer vertragsärztlichen Pflicht zustande gekommen ist. Nach § 48 BMV-Ä waren die Voraussetzungen für die Festsetzung eines Regresses wegen eines sonstigen Schadens im vorliegenden Fall erfüllt.
Erfüllte Voraussetzungen für einen Regress wegen eines sonstigen Schadens gemäß § 48 BMV-Ä | |
Voraussetzung | Voraussetzung erfüllt, weil ... |
Antrag Krankenkasse auf Festsetzung eines sonstigen Schadens | ... die Krankenkasse einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. |
Verletzung vertragsärztlicher Pflichten | ... die Unterschrift des ermächtigten Arztes auf den Verordnungen fehlte. |
Verschulden | ... dem Arzt eine Fahrlässigkeit zumindest unwiderlegbar vorzuwerfen war. |
Schaden | ... der Wert der Verordnungen die Bagatellgrenze weit überschritten hatte. ... das Vorbringen, dass Verordnungen inhaltlich korrekt waren, nicht greift. |
... entschied das Gericht zugunsten des Chefarztes!
Gemäß dem Grundsatz von Treu und Glauben wäre die Festsetzung eines Regresses allerdings eine unzulässige Rechtsausübung. Dieser Rechtsgrundsatz dient der Verwirklichung einer denklogischen, subjektiven Einzelfallgerechtigkeit, bei der die Interessen der Betroffenen nach überrechtlichen sozialethischen Prinzipien gegeneinander abzuwägen sind.
Interessenabwägung des Gerichts im vorliegenden Fall | |
Interesse der Krankenkasse ... | Interesse des ermächtigten Chefarztes ... |
... an der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zur Aufrechterhaltung des vertragsarztrechtlichen Systems ... am verantwortungsvollen Umgang mit finanziellen Mitteln der Mitglieder | ... an der Vermeidung von finanziellen Einbußen |
Im Ergebnis überwog das Interesse des Chefarztes, da ihn der Regress finanziell stark beeinträchtigen würde, ohne dass er hierfür Einkünfte erzielt hat. Das Interesse der Krankenkasse war zu vernachlässigen, da ausgeschlossen werden konnte, dass der Chefarzt weitere Leistungen an andere Personen delegiert hatte. Im Übrigen bestanden keine Zweifel an der grundsätzlichen Kostentragungspflicht der Krankenkasse für die verordneten Arzneimittel.
Fazit | Obwohl eigentlich alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Festsetzung eines Regresses vorlagen, ließ das Gericht den Regress an dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben scheitern – Glück für den Chefarzt, auf einen verständigen Richter gestoßen zu sein. |
AUSGABE: CB 4/2023, S. 6 · ID: 49218102