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ArzthaftungGeburtshilfe: weder Anspruch auf eigene Hebamme noch auf Liegendtransport nach Blasensprung
| Werdende Mütter haben grundsätzlich weder einen Anspruch auf Betreuung durch eine eigene Hebamme noch auf einen Liegendtransport nach einem Blasensprung. Eine Schmerzensgeldklage wegen einer vermeintlich fehlerhaften geburtshilflichen Behandlung scheiterte (Landgericht [LG] Flensburg, Urteil vom 16.12.2022, Az. 3 O 313/20). Das Urteil erlaubt wichtige Folgerungen für die Organisationsstruktur in Geburtshilfekliniken. |
Schmerzensgeldklage des Patienten gescheitert ...
Nach Entbindung aus Schädellage in der Geburtsklinik wurde der Neugeborene unter dem Verdacht eines Amnioninfektionssyndroms in die Kinderklinik verlegt. Mittels MRT wurde ein „frischer Infarkt im Versorgungsgebiet des Ramus calcarinus und Ramus parietooccipitalis rechts“ diagnostiziert. In seiner Klage forderte der zur Welt gebrachte Patient 150.000 Euro Schmerzensgeld. Er rügte im Prozess das Geburtsmanagement als fehlerhaft in mehrfacher Hinsicht. Aufgrund des Infarkts leide er lebenslang unter Atemaussetzern mit dauerhaften Einschränkungen.
Das Gericht wies die Klage ab. Dabei betonten die Richter allerdings, dass bei Behandlungsverträgen über die Geburtshilfe immer auch das Kind in den Schutzbereich des Behandlungsvertrags mit der Mutter einbezogen sei.
Merke | Mit der Einbeziehung des Neugeborenen in den Schutzbereich wird haftungsrechtlich „die Brücke geschlagen“ von der Mutter, mit der der Behandlungsvertrag abgeschlossen wird, zum Nasciturus. Deshalb können nicht nur die Gebärenden selbst, sondern auch die Neugeborenen später Haftungsansprüche gegenüber Ärzten und Hebammen geltend machen. |
... weil Sachverständiger alle Vorwürfe entkräften konnte!
Die Richter konnten im konkreten Fall jedoch keinen Behandlungsfehler erkennen und stützten sich dabei auf das im Verfahren eingeholte medizinische Sachverständigengutachten. Sämtliche Behandlungsfehlervorwürfe der Patientenseite im Hinblick auf die im Jahr 2016 erfolgte Geburt wurden zurückgewiesen. Die einzelnen Vorwürfe wurden wie folgt entkräftet:
Liegendtransport nach Blasensprung nur bei besonderer Komplikation
Dass der Mutter nach dem Blasensprung kein Liegendtransport vom Schwesternwohnheim auf dem Krankenhausgelände zum Kreißsaal angeboten worden sei, sei nicht behandlungsfehlerhaft gewesen. Hierzu wies der Gerichtsgutachter auf die aktuelle S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ von 2020 hin (online unter iww.de/s7715), die keine solche Empfehlung ausspreche.
Hintergrund des früher oft gegebenen Rates eines Liegendtransports nach Blasensprung sei die theoretische, praktisch aber extrem seltene Komplikation eines Nabelschnurvorfalls, also eines Verrutschens der Nabelschnur am führenden Teil des Kindes vorbei in den Geburtskanal. Wegen der drohenden Kompression der Nabelschnur sei dies ein geburtsmedizinischer Notfall. Der Sachverständige führte jedoch aus, dass es bei einem Blasensprung einer Erstgebärenden in der Nähe des errechneten Geburtstermins, bei der ohne Wehen der Muttermund noch geschlossen oder nur leicht geöffnet sei und der führende kindliche Teil den Ausgang der Gebärmutter am Muttermund verschließe, keinen triftigen medizinischen Grund gebe, der Patientin einen Liegendtransport zu empfehlen.
8 mg Ropivacain für die PDA war in Ordnung
Ebenso wenig sah das Gericht die Rüge der Patientenseite als gerechtfertigt an, die Dosierung von 8 mg Ropivacain zur PDA der Mutter sei zu hoch gewesen. Nach Erklärung des Sachverständigen habe die Dosierung von 8 mg Ropivacain zur PDA der Mutter dem ärztlichen Standard entsprochen und habe sogar eher im unteren Bereich der üblichen Dosierungspanne gelegen.
Eine Hebamme darf mehrere Schwangere gleichzeitig betreuen
Der Umstand, dass die diensthabende Hebamme mehrere Schwangere gleichzeitig und nicht die Mutter des Klägers allein behandelte, stelle ebenfalls keine Unterschreitung des geburtshilflichen Standards dar – so die Auffassung der Richter. Der Gerichtsgutachter habe überzeugend dargestellt, dass in der aktuellen S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ von 2020 (s. o.) zwar erste Hinweise auf eine interventionsarme Geburt bei einer 1:1-Betreuung ausgewertet worden seien. Gleichwohl gebe es weder 2016 noch heute einen festgeschriebenen Standard zu einem genauen Hebammen- oder Arztschlüssel im Kreißsaal. Es entspreche sowohl 2016 als auch heute dem geburtshilflichen Standard und der Realität in der Geburtsmedizin, wenn eine diensthabende Hebamme mehrere Schwangere gleichzeitig betreue.
Befunderhebung mittels CTG wurde nicht beanstandet
Ferner sei weder eine unzureichende Befunderhebung mittels CTG noch eine unzureichende Befunderhebung für die Diagnosestellung eines aufkommenden Amnioninfektionssyndroms zu konstatieren. Auch im Übrigen sei das Vorgehen der Klinikmitarbeiter lege artis erfolgt – so die Conclusio der Flensburger Richter. Da schon ein Behandlungsfehler verneint wurde, musste das Gericht keine Feststellungen treffen zur Ursache der Gesundheitsbeeinträchtigung des Klägers und zur Genese des Infarkts im Versorgungsgebiet des Ramus calcarinus und Ramus parietooccipitalis rechts.
Urteil wichtig für Klinikorganisation, jedoch entscheidet der Einzelfall! FAZit | Insbesondere die Ausführungen zum Liegendtransport und zur Auslastung der Hebammen sind bedeutsam für die Organisationsstruktur und die Dienstplaneinteilungen in Geburtshilfekliniken: Nicht für jeden Blasensprung sind Kapazitäten für einen Liegendtransport vorzuhalten und es reicht grundsätzlich aus, wenn eine Hebamme für mehrere Entbindungen verantwortlich ist. Allerdings mag etwas anderes gelten, wenn besondere Risikofaktoren bei der Schwangeren vorliegen, die vorhersehbar eine besondere Betreuung erfordern. Hier kommt es für die Bewertung auf den konkreten medizinischen Einzelfall an. |
AUSGABE: CB 4/2023, S. 14 · ID: 49219380