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ApothekenentwicklungWohin geht die Reise auf lange Sicht – Life-Science-Markt top, Apotheken flop?

Top-BeitragAbo-Inhalt12.11.20243408 Min. LesedauerVon Apotheker und Unternehmensberater Prof. Dr. Reinhard Herzog, Tübingen

| Schuld am Stillstand ist die Politik, denn sie verweigert hartnäckig die substanzielle Honorarerhöhung, auf die man seit Jahren ein Anrecht hat. Dieser offiziellen Lesart der (in diesem Punkt bisher erfolglosen) Standespolitik mag man zustimmen. Aber macht man es sich nicht zu einfach? Hinter der Zukunft der Apotheke stehen viele Fragen, die dringend einer Antwort bedürfen. |

Marktentwicklung

Werfen wir einen Blick auf die Marktentwicklung: Der Vor-Ort-Apothekenmarkt ist nach Umsatz in den letzten zehn Jahren um 49 Prozent gewachsen, die Zahl der so bedeutsamen Rx-Packungen nur um 8 Prozent und der Absatz aller Arzneimittelpackungen stagniert sogar fast auf das Prozent genau. Darin manifestiert sich die wachsende Bedeutung des Versands im Non-Rx-Bereich. Rund 15.000 Non-Rx-Packungen verliert die durchschnittliche Apotheke inzwischen jährlich an diesen Vertriebsweg. Schaut man in die Auswertungen der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), beträgt das durchschnittliche Verordnungswachstum nur 0,4 Prozent pro Jahr, während der Bruttoumsatz um fast 52 Prozent gestiegen ist. Und so geht es (voraussichtlich) weiter:

AH-Grafik_Langfrist-Prognose Apothekenbranche_Herzog.eps (© IWW Institut)
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© IWW Institut
  • Bei den Umsätzen legt die Branche regelmäßig um 3 bis 5 Prozent jährlich zu, das Rx-Segment gern überproportional. Rein demografiebedingt fällt der Umsatzzuwachs (real in Preisen des Ausgangsjahrs) jedoch erstaunlich gering aus, wie Modellrechnungen zeigen (siehe Abbildung), und damit geringer, als gemeinhin vermutet. Größter Treiber war und ist die Innovationskomponente, die als Hochpreiser mit allen Implikationen in den Apotheken aufschlägt: rund 40 Prozent des Rx-Umsatzes bei nur gut 0,7 Prozent der Rx-Packungen. Dieses Segment spielt 8 bis 9 Prozent des Rx-Rohertrags einer normalen Apotheke ein (und 5 bis 6 Prozent des Gesamtertrags) – nicht die Welt, aber auch nicht zu vernachlässigen.
  • Nach Menge wird die reine demografische Komponente trotz konstantem Zuwanderungsszenario (350.000 Jüngere p. a.) nur zu einem Zuwachs von ca. 0,7 Prozent pro Jahr führen, ohne Zuwanderung wären es gut 0,5 Prozent.
  • Auch im „Brot-und-Butter-Segment“ der Generika werden wir höhere Preise sehen. Die internationale Nachfrage nach Medikamenten steigt samt Zahlungsbereitschaft, sodass Deutschland nicht mehr die erste Adresse als Absatzmarkt für Hersteller aus Fernost ist. Das verblasst aber gegenüber der Hochkostenmedizin. Ein Euro Zuschlag auf den Herstellerpreis jedes Generikums (das wäre schon eine ganze Menge angesichts der typischen Industriepreise) würde am Ende rund 800 Mio. Euro für die Krankenkassen bedeuten – und damit etwas über 1 Prozent der gesamten Arzneiausgaben.

Brennpunkt Hochkostenmedizin

Die „Fortschrittskostenfalle“ erweist sich als die größte Herausforderung. Reformen werden dort sinnvollerweise stärker als heute ansetzen: Reduktion der teilweise abenteuerlichen Preise durch Verhandlungen oder Abschlagsmodelle, zunehmend „Pay for Performance“ (erfolgsorientierte Erstattung) und ganz am Schluss eine mehr oder weniger offene Rationierung bzw. der Aufbau von Zugangshürden. Die Apotheken können indirekt durch niedrigere Verrechnungspreise in überschaubarem Maße getroffen werden.

Perspektivisch werden etliche innovative Präparate nicht mehr über Apotheken vertrieben werden, wie z. B. Gen-, Zell- oder DNA/RNA-Therapeutika. Darüber hinaus ersetzen oder mindern diese kausal-kurativen Ansätze (hoffentlich) langwierige, oft lebenslange Dauerbehandlungen. Angesichts von global bisher rund 50.000 CAR-T-Zelltherapien (und einem Bruchteil von Gentherapien), ist dies ein verschwindend kleiner Anteil, auch wegen der exorbitanten Fallkosten. Aber die Tür ist aufgestoßen, um für die eine oder andere Revolution zu sorgen. Man denke nur an Diabetes, wenn man ihm zelltherapeutisch (und kostengünstig!) zu Leibe rücken könnte.

Prävention trifft auf Hochtechnologie

Der nächste große Handlungsstrang: frühzeitig erkennen ist besser als später teuer behandeln (predictive analytics). Tests aller Art nehmen enorm zu, so z. B. Krebstests, die Dutzende relevanter Krebsarten erkennen. Die Testgenauigkeit lässt teilweise noch zu wünschen übrig. Es enttäuschen die positiv-prädiktiven Werte, sodass sich zehn positive Tests oft nur in vier Fällen bestätigen. Die Abwesenheit von Krebs wird jedoch präzise detektiert (Spezifität von 99 Prozent). Die Tests werden ständig verbessert, auch für andere Krankheiten. Die Herausforderung liegt darin, die Erkrankung noch abwenden, herauszögern oder frühzeitig minimalinvasiv angehen zu können, sonst nützt die Früherkennung nicht viel. Und die Reise geht weiter: Ob Voll- oder Teilsequenzierung des eigenen Genoms für bald kleines Geld, pharmakogenomische Analysen auf Verträglichkeit und Wirksamkeit, immer mehr „Allerwelts-Tests“ – der Zug rollt. Überlagert wird dies durch die sich rasant entwickelnden Fähigkeiten der Technik mitsamt künstlicher Intelligenz.

Zahlenrealität spricht (noch) für Apotheken

So mancherlei „Visionen“ scheitern jedoch – vorerst – an der Realität, denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.

Konkurrenz durch den Versandhandel

Die Geschäftsberichte von Redcare Pharmacy (Shop-Apotheke) weisen einen Umsatz von 1,8 Mrd. Euro, eine Rohertragsmarge von 24,5 Prozent, 10,8 Mio. Kunden, etwa 50 Euro Nettoumsatz je Sendung (ohne Verordnungen), 29,4 Mio. Bestellungen bzw. Päckchen und 0,84 kg CO2 je Sendung aus. Es ergeben sich damit rein operative Aufwendungen vor Kapitalkosten von gut 13 Euro je Bestellung (mit Kapitalkosten um 15 Euro) und ein Rohertrag von knapp 15 Euro. Die Gewinne sind nur auf operativer Ebene (EBITDA) mit 3 Prozent knapp im Plus, unter dem Strich noch leicht negativ. In den DACH-Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz; 81 Prozent Umsatzanteil) liegt das EBITDA mit 4,5 Prozent etwas höher. Das bedeutet: Der Versand hat pro Bestellung immer noch höhere Kosten als die Apotheke vor Ort mit rund 10 Euro je Bonkunde bei meist etwa 12 bis 15 Euro „Bonertrag“. Insofern ist die Apotheke auf heutigem Niveau wettbewerbsfähig und das sicher auch mit einem Euro mehr Rx-Packungshonorar – mit plus 4 Euro (= Wunsch!) aber wohl nicht mehr.

Konkurrenz durch Drogeriemärkte

Blicken wir auf mögliche Hauptkonkurrenten, die Drogeriemärkte. Long story short: Da es sich um personenbesetzte Outlets handeln würde, selbst als „Prescription Corner“ („Rezept Ecke“) auf den gern 700 oder 800 qm, bleiben doch ähnliche Herausforderungen wie bei unseren Apotheken. Mit jeweils über 2.000 Filialen und rund 250.000 bis 300.000 Kunden pro Jahr und Filiale würden die größten Betreiber dm und Rossmann tatsächlich große Teile der Republik abdecken. Angesichts dortiger Bonumsätze im Bereich von 15 Euro und Erträgen um 5 Euro locken die viel höheren Apothekenwerte (die genannten 12 bis 15 Euro pro Kunde). Der Aufwand im heutigen Rechts- und Versorgungsrahmen wäre jedoch kaum niedriger. Mit anderen Worten: Selbst die beiden größten Drogeriemarktketten könnten dies in der gesamten Breite des Versorgungsspektrums nicht nennenswert billiger umsetzen, wie Modellbetrachtungen zeigen. Einige „Rosinen“ könnten sicherlich preiswerter werden, vieles aber müsste ein nüchtern kalkulierender Kaufmann (und so funktionieren solche Märkte) deutlich teurer einpreisen – oder gar nicht erst anbieten.

Automaten-Apotheke

Somit bleibt noch die Automaten-Apotheke. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden: die „dumme“ Automaten-Apotheke (= heutiger Stand) und eine „intelligente“ Variante, die in der Lage ist, einen Großteil der Standardberatungen KI-gestützt zu erledigen. Ein gewisser Restanteil an persönlicher Kontaktaufnahme dürfte aber selbst dann bleiben. Der Entwicklungsaufwand für eine solche „intelligente“ Variante dürfte wegen enormer Zulassungserfordernisse sehr hoch sein und entsprechend auf die Anschaffungspreise durchschlagen. Hierbei handelt es sich um ein langfristiges Thema, das im internationalen Marktkontext zu denken ist. Die „dumme“ Variante ließe sich bereits heute installieren, würde aber bei der Abgabe von Arzneimitteln eine persönliche Kontaktaufnahme (Fernberatung per Video) erfordern. Die personellen Kapazitäten dafür müssten in der betreibenden Apotheke vorgehalten werden (Angstvariante: Callcenter erledigen das). Die Tabelle zeigt modellhaft mit plausiblen Annahmen für die Betriebs- und Investitionskosten, welche Kosten pro Kunde anfallen würden.

Automaten-Apotheken im Vergleich

„Dumme“ Variante

KI-Variante

Beträge in Euro

Investition

240.000

400.000

Warenlager

60.000

80.000

Kapitalkosten: 5 % Zinsen p. a. auf alles

15.000

24.000

+ Geräteamortisation auf acht Jahre

30.000

50.000

+ Raum-, Unterhalts- und Wartungskosten

50.000

50.000

+ 2 × tägliche Bestückung durch Apotheke

20.000

20.000

= Fixkostensumme jährlich gerundet

115.000

144.000

Fernberatung in % der Kunden

80 %

20 %

Ø (Fern-)Beratungszeit

5 Minuten

8 Minuten

= Ø Kosten je Kunde*

4,00

1,60

Summe Kosten je Kunde bei …

  • 10.000 Kunden jährlich (27 täglich)

15,50

16,00

  • 20.000 Kunden jährlich (55 täglich)

9,75

8,80

  • 30.000 Kunden jährlich (82 täglich)

7,83

6,40

  • 40.000 Kunden jährlich (110 täglich)

6,88

5,20

Der Richtwert für die Kosten pro Kunde in der heutigen Vor-Ort-Apotheke liegt bei ca. 10 Euro, in Lauflagen deutlich darunter. Bei geringer Auslastung (wenige Dutzend Kunden pro Tag) wäre selbst der „dumme“ Automat teurer, ab 50 und mehr Kunden pro Tag käme man in akzeptable Kostenbereiche, rentabel wird es erst bei deutlich mehr Kunden. Die müssen aber erst einmal kommen. Auch hier wird also manches durch die nackte Zahlenrealität ausgebremst. Dennoch ist die Automatisierbarkeit von Apothekentätigkeiten ein ernst zu nehmendes Thema.

Fazit | Der Life-Science-Markt ist und wird attraktiv bleiben, aber angesichts des enormen Veränderungstempos starke Anpassungen auch bei den Apotheken erfordern. Das heutige Geschäftsmodell wird auf den Prüfstand kommen. Neue Chancen bieten sich u. a. in der Prävention mitsamt entsprechender Analytik. Einstweilen ist die beste Zukunftsversicherung, mindestens zum oberen Drittel der Apotheken zu gehören oder sich in attraktiven Nischen zu etablieren, um den Strukturwandel auf Basis einer gesunden Rentabilität bestehen zu können.

AUSGABE: AH 12/2024, S. 2 · ID: 50217500

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