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ZRZahnmedizinReport

ZR-Fachgespräch„Hauptsache, ich kann kauen!“ – Geschlechterunterschiede in der Praxis

Abo-Inhalt04.04.2024488 Min. Lesedauer

| Neben der Theorie und der Wissenschaft zur Genderzahnmedizin interessiert uns, welche Rolle der Genderaspekt in der täglichen Praxis spielt. Dazu berichtet uns Dr. med. dent. Jeannine Bonaventura, 2. Stellvertretende Bundesvorsitzende des FVDZ (Freier Verband Deutscher Zahnärzte e. V., fvdz.de) und in eigener Praxis in Sankt Wendel niedergelassen, im ZR-Fachgespräch. Dabei erläutert sie u. a. auch, dass man mit Männern und Frauen unterschiedlich kommunizieren sollte. |

Frage: Frauen und Männer unterscheiden sich Studien zufolge hinsichtlich der Schmerzsensitivität: Laut LeResche [1] geben Frauen bis zum 65. Lebensjahr häufiger Schmerzen und mehr Schmerzlokalisationen als Männer an. Deckt sich das mit Ihren Praxiserfahrungen und verschreiben Sie deshalb in der Schmerztherapie bei Frauen, auch prophylaktisch, anders als bei Männern?

Antwort: Frauen leiden Studien zufolge tatsächlich generell öfter und mehr unter Schmerzen. Dieses Verhalten kann ich in meinem Praxisalltag auch erkennen. Das Alter sowie soziale und psychische Faktoren spielen dabei eine unterstützende Rolle. Auch der Einfluss von Hormonen lässt einen Mehrbedarf an Schmerztherapie erkennen. Frauen sind meines Erachtens auch schmerzempfindlicher. Es liegt der Verdacht nahe, dass bei Frauen Schmerzsensoren empfindlicher eingestellt sind. Auch gibt es vielleicht geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Verarbeitung der Schmerzreize im Gehirn.

Ich habe im Praxisalltag einen leicht erhöhten Bedarf an Medikamenten zur Schmerztherapie nach Eingriffen bei Frauen bemerkt. Allerdings gehen Frauen auch offener mit ihren Schmerzen oder ihren Erwartungen zu Schmerzen um als Männer. In meiner Praxis habe ich ebenfalls festgestellt, dass Schmerzmittel bei Frauen wohl schneller wirken als bei Männern. Männer brauchen dagegen öfter mal eine höhere Dosierung. Die Art der Schmerztherapie ist aber geschlechtsunabhängig und bei Männern und Frauen gleich. Weder verschreibe ich Frauen prophylaktisch Schmerzmittel noch andere Schmerzmittel als Männern.

Frage: Auch die Prävalenz oraler Erkrankungen ist unterschiedlich, denn Frauen haben häufiger Karies (und weniger Speichel), Männer mehr Wurzelkaries und deutlich häufiger Parodontalerkrankungen. Trotzdem scheint man nicht den Eindruck zu haben, dass Frauen in der Mundhygiene anders beraten werden – sollte man das nicht tun und wie gehen Sie auf diese geschlechterspezifischen Unterschiede in Ihrer Praxis ganz konkret ein?

Antwort: Ja, Mundgesundheit und Mundhygiene weisen geschlechterspezifische Unterschiede auf, wobei bei Studien Männer schlechter abschneiden. Männer gehen tendenziell seltener zum Zahnarzt und Frauen zeigen ein größeres Bewusstsein für Mundgesundheit. Studien lassen erwarten, dass geschlechtsspezifische Strategien in der Prophylaxe das Potenzial haben, die Mundgesundheit und damit die Gesundheit zu verbessern. Frauen sind oft gesundheitskompetenter als Männer, fragen in meiner Praxis häufiger in Aufklärungsgesprächen explizit nach, kommen oft von sich aus mit Fragen auf mich als Zahnärztin zu.

In unserer Praxis empfehlen wir allen Patienten, unabhängig von Alter und Geschlecht, regelmäßige Kontrolltermine und einen Termin bei unseren Prophylaxeassistentinnen. In der Prophylaxeabteilung meiner Praxis bekommt jeder Patient individuell die Beratung und Anleitung zur Mundhygiene, die er speziell braucht. Wir gehen dabei auf die Bedarfe der Individuen ein und geben beispielsweise die Anleitung zur Zwischenraumpflege mit Zwischenraumbürstchen oder zur Reinigung der Zunge mittels Zungenschaber. Dabei spielt das Geschlecht keine Rolle. Ernährungsberatung ist dabei für beide Geschlechter gleich.

Frage: Sie bieten in Ihrer Praxis u. a. Fläsh (Bleachen) an. Was sind hier die Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Klientel?

Antwort: Vor allem Frauen im Alter von unter 30 Jahren fragen in meiner Praxis nach Methoden zur Zahnaufhellung. Mehr Frauen als Männer haben sich laut interner Statistik in meiner Praxis einem Bleaching unterzogen. Männer kommen öfter anlassbezogen (wie z. B. vor dem Urlaub oder der Hochzeit) zur Zahnaufhellung, Frauen das ganze Jahr über. Und nicht zu vergessen: Frauen sind eher bereit, für Zahnkosmetik Geld auszugeben.

Frage: Männer haben eine deutlich erhöhte Prävalenz zu Oropharynx-Karzinomen als Frauen. HPV-Viren, Rauchen und besonders die Kombination aus beidem wie auch Alkohol sind als Ursachen bekannt. Gehört der Hinweis auf eine HPV-Impfung bei Teenagern nicht auch in den Verantwortungsbereich von Zahnärzten?

Antwort: Für Jugendliche sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechts ab neun Jahren ist die Impfung gegen HPV-Viren als Standardimpfung seitens der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlen. Bei einer ausreichend hohen Impfbeteiligung wird nicht nur Gebärmutterhalskrebs zurückgehen, sondern es kann auch effektiv mit einem Rückgang der oropharyngealen HPV-bedingten Karzinome gerechnet werden. Als Zahnärzte diagnostizieren wir Erkrankungen wie Oropharynx- und Tonsillenkarzinome, die HPV-assoziiert sind. Um solche Erkrankungen zu vermeiden, fällt es durchaus in die Leistungen eines Zahnarztes, auf die Präventionsmöglichkeiten durch eine Impfung hinzuweisen. Dies kann beispielsweise durch das Auslegen von Informationsbroschüren zum Thema HPV im Wartezimmer erfolgen.

Frage: Wie sieht es mit der Bereitschaft zu Implantaten bei Männern und Frauen aus? Frau Prof. Gleissner hat einst die geschlechtsspezifischen Unterschiede benannt: Frauen haben vor implantologischen Eingriffen signifikant mehr Angst und eine größere Schmerzerwartung, die auch nach dem Eingriff größer bleiben als Angst und Schmerzerwartung von Männern. Deshalb benötigen Frauen mit einem erhöhten Angstlevel eine höhere Medikamentendosis und erleiden häufiger Nebenwirkungen. Welche Erfahrungen konnten Sie hier sammeln?

Antwort: Bei der Bereitschaft, Zahnlücken mit Implantaten versorgen zu lassen, kann ich in meiner Praxis keinen Unterschied zwischen und Frauen und Männern erkennen. Frauen sind vielleicht etwas zurückhaltender bei kostenintensiven Versorgungen. Oft kommen in höherem Alter Erkrankungen und Medikamente bei Frauen zum Tragen, die einen Eingriff in den Knochenstoffwechsel mit sich bringen oder einen reduzierten Speichelfluss verursachen und somit bei einer Implantatplanung bereits zu berücksichtigen sind.

Ich kann keinen signifikanten Unterschied beim Bedarf an Schmerzmitteln nach einem zahnärztlich chirurgischen Eingriff in meiner Praxis ausmachen. Was ich feststellen kann, ist, dass Frauen einen höheren und intensiveren Beratungsbedarf vor großen zahnärztlichen Eingriffen haben. Und dass Frauen einen höheren Anspruch an die Ästhetik stellen als Männer. Männern ist oft die Funktion „Hauptsache, ich kann kauen“ wichtiger als ein gutes Aussehen.

Frage: Welche Tipps haben Sie für Kolleginnen und Kollegen bezüglich Kommunikation, Beratung, Aufklärung und Behandlung von Frauen und Männern? Gibt es klassische Fehler, die man vermeiden sollte?

Antwort: Das Gespräch ist ein sehr wichtiger Teil unserer zahnärztlichen Tätigkeit. Je besser die Arzt-Patienten-Kommunikation ist, desto besser sind der Informationsaustausch, die Patientenzufriedenheit, die Compliance und der Symptomverlauf – und desto seltener sind Fehldiagnosen. Während Männer häufig eher Fakten und kurze Sätze lieben, ist für Frauen solch eine Ansprache meist nicht die richtige. Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten deshalb unterschiedlich mit ihren Patienten kommunizieren, je nachdem, ob ihnen eine Frau oder ein Mann gegenübersitzt. Aus meiner Erfahrung kann ich berichten: Patientinnen beteiligen sich aktiver an einem medizinischen Gespräch und fragen gerne mal nach. Männer zeigen sich weniger interessiert an ihrem Gesundheitszustand.

Patienten erklären auch ihre Symptome in unterschiedlicher Weise oder versäumen dies. Zum Beispiel neigen Männer mehr als Frauen dazu, gesundheitliche Beschwerden einschließlich psychischer Probleme zu verleugnen. Frauen berichten dagegen früher und häufiger von gesundheitlichen Problemen. Frauen gehen beispielsweise deutlich häufiger und bei Beschwerden früher zum Zahnarzt.

Zu den häufigsten, allerdings geschlechtsunabhängigen Kommunikationsproblemen gehören Missverständnisse und Fehlinterpretationen. In unseren zahnärztlichen Beratungen sollten wir immer den Fokus darauf legen, dass der Patient dem Aufklärungsgespräch folgen konnte und zum Schluss wissentlich in die Behandlung einwilligen kann. Für die Zukunft sollten wir uns als Behandler einer evidenzbasierten, geschlechterspezifischen Zahnheilkunde zuwenden, um so jedem Patienten die bestmögliche Diagnostik, Behandlung und Prophylaxe zukommen zu lassen.

Weiterführender Hinweis
  • [1] LeResche, L. (2000). Epidemiologic perspectives on sex differences in pain. In: Fillingim RB (ed) Sex, gender and pain. IASP Press, Seattle, pp 233-249.

AUSGABE: ZR 4/2024, S. 8 · ID: 49921512

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