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ZRZahnmedizinReport

ZR-Fachgespräch„Die Bedeutung der Mundgesundheit bei Pflegebedarf ist immens!“

Abo-Inhalt22.03.20232430 Min. Lesedauer

| Es gibt viele Möglichkeiten, Mundgesundheit und Wohlbefinden von Senioren zu verbessern. Hier stehen Praxen angesichts des demografischen Wandels vor großen Herausforderungen. Dr. med. dent. Elmar Ludwig gründete zusammen mit Dr. med. dent. Horst Gebhardt bereits im Jahr 2005 in Ulm den Arbeitskreis Pflegezahnheilkunde und hat sich seitdem insbesondere den Menschen mit Unterstützungsbedarf verschrieben. Denn gerade bei ihnen ist es wichtig, die Mundgesundheit aufrechtzuerhalten, da sonst die Gebrechlichkeit schnell voranschreiten kann. Im Gespräch mit dem ZR gibt uns Dr. Ludwig zahlreiche Tipps und Erläuterungen zur Behandlung dieser Patientengruppe. |

Frage: Herr Dr. Ludwig, aufgrund der demografisch bedingten Morbidität der Bevölkerung in Deutschland, den aktuellsten Zahlen zufolge sind in Deutschland ca. 5 Mio. Menschen pflegebedürftig, wird auch die zahnärztliche Betreuung von Patienten außerhalb der Praxis wichtiger. Dabei gibt es einiges zu beachten – was sind aus Ihrer Sicht die Knackpunkte?

Ludwig: Wenn die „Pflegekarriere“ beginnt, reißt der Faden der zahnärztlichen Betreuung häufig ab. Bevor wir über die Betreuung außerhalb der Praxis sprechen, sollten wir nicht vergessen: Über die Hälfte dieser Menschen hat Pflegegrad 1 oder 2 und könnte ohne größeren Aufwand in die Praxis kommen. Deshalb sollten wir jede Gelegenheit auch in der Praxis nutzen, die Mundgesundheit zu verbessern. Gute Mundgesundheit stabilisiert die allgemeine Gesundheit und beugt dem Fortschreiten der Gebrechlichkeit vor. Der Gesetzgeber hat für vulnerable Patientengruppen mit den präventionsorientierten Leistungen Mundgesundheitsstatus, individueller Plan, Mundgesundheitsaufklärung sowie Zahnsteinentfernung zweimal im Jahr zulasten der GKV wichtige Weichen gestellt. Der G-BA hat dazu übrigens Informationsmaterialien entwickelt [1]. Ausdrucken, aufhängen und auslegen – so einfach kann es sein. Und ganz wichtig: Diese Leistungen können in der Häuslichkeit, in der Pflegeeinrichtung, aber eben auch in der Praxis erbracht werden.

Der Einsatz außerhalb der Praxis ist für die meisten von uns bis heute keine Routine. Die Knackpunkte dabei sind: Welche Ausrüstung brauche ich? Wie sieht das mit der Hygiene aus? Was muss, soll oder kann ich außerhalb der Praxis leisten? Was ist versicherungstechnisch zu beachten, wenn das Praxisteam außerhalb der Praxis tätig ist? Was ist bei Kooperationsverträgen mit stationären Einrichtungen zu beachten? [2] Wie gelingt eine möglichst „geräuscharme“ Kommunikation? Wie werden Hausbesuche abgerechnet?

Frage: Wann sollte ein Zahnarzt eine Besuchsbehandlung ablehnen?

Ludwig: Ein Hausbesuch ist immer auch eine Chance, sich von der Versorgungssituation vor Ort insgesamt ein Bild zu machen. Was viele vielleicht gar nicht wissen: Besuche sind nach den Vereinbarungen der Zahnärzte mit den Krankenkassen bei vulnerablen Patientengruppen ausdrücklich erwünscht. Vor allem dann, wenn der Besuch in der Praxis für alle Beteiligten mit großem Aufwand und Belastungen verbunden ist. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass jeder Eingriff außerhalb der Praxis erfolgen soll. Behandlungen müssen sachgerecht und gewissenhaft unter Berücksichtigung der individuellen Risiken durchgeführt werden können.

Eine Ersteinschätzung, eine Verlaufskontrolle oder auch die Unterfütterung einer Prothese kann in vielen Fällen ohne Probleme außerhalb der Praxis erfolgen. Aber vor allem umfangreiche invasive Behandlungen mit aufwendiger Instrumentierung werfen viele Fragen auf und öffnen mitunter die Pandorabüchse der Risiken. Uns muss klar sein: Wir führen Behandlungen und Eingriffe im Hochrisikogebiet der Mundhöhle mit der Gefahr der Aspiration durch. Niemand wird behaupten wollen, dass wir in der kompromittierten Umgebung der Häuslichkeit oder selbst einer Pflegeeinrichtung im Gegensatz zur eigenen Praxis Komplikationen besser beherrschen. Zugleich führen wir diese Eingriffe bei Menschen durch, die aufgrund ihrer Gebrechlichkeit und eingeschränkten Mobilität sowie aufgrund ihrer eingeschränkten Kooperationsfähigkeit ein grundsätzlich höheres Risiko mitbringen. Ich spreche hier gerne von Hochrisikopatienten. Jeder muss sich selbst fragen, welche Risiken er oder sie eingehen möchte. Wichtig ist, dass man sich dieser Risiken bewusst ist. Ich stelle in diesem Zusammenhang auch gerne mal die Frage: Wo ist denn beim Hausbesuch Ihr Notfallkoffer?

Frage: Ist es sinnvoll, in Arbeitsverträge die Häuslichkeit und Pflegeeinrichtung mitaufzunehmen? Wie motivieren und bereiten Sie Ihr Personal für die „Außeneinsätze“ fachlich vor?

Ludwig: Zunächst möchte ich betonen, dass wir Zahnärzte und Zahnärztinnen bei Hausbesuchen viele Dinge gut allein und ohne Personal machen können. Und ich möchte umgekehrt ausdrücklich davor warnen, die Delegation zu „weit“ auszulegen und nicht ärztliche Mitarbeiterinnen der Praxis allein „rauszuschicken“, sei es auch nur, um eine Prothese wiedereinzugliedern. Das mag in den allermeisten Fällen gutgehen, ist aber nicht durch das Zahnheilkundegesetz gedeckt, da die unmittelbare Eingriffsmöglichkeit nicht gegeben ist. Vor allem ist es auch nicht sinnvoll! Gerade diese Menschen können heute „lammfromm“ wirken und am nächsten Tag ist derselbe Mensch unerwartet verunsichert, abwehrend und aggressiv. Oder was machen Sie, wenn die Prothese aufgrund einer unerwarteten Bewegung oder eines Hustenanfalls beim Ein- oder Ausgliedern in den Rachen rutscht – dann haben wir einen Aspirationsnotfall mit akuter Lebensgefahr. Wenn dann die Mitarbeiterin auf sich allein gestellt ist, das will man sich gar nicht vorstellen.

Aber natürlich gibt es Situationen, in denen mich mein Personal begleitet – z. B. bei Kontrolluntersuchungen in der Pflegeeinrichtung, wenn wir viele Menschen an einem Tag sehen. In jedem Fall sollten die Arbeitsverträge Angaben zum Arbeitsort enthalten, z. B. in der Art: „Arbeitsort ist die Praxis sowie alle Orte im Rahmen der aufsuchenden zahnärztlichen Betreuung (Häuslichkeit, Pflegeeinrichtung).“ Dann ist gewährleistet, dass z. B. Wegeunfälle oder Unfälle vor Ort durch die Berufsgenossenschaft als Arbeitsunfälle anerkannt werden.

Und zur Motivation: Das Team sollte zuerst in der Praxis behutsam an die „neuen“ Patienten herangeführt werden. Es macht Sinn, Hausbesuche im Vorfeld und im Nachgang zu besprechen. Neue Mitarbeiterinnen nehmen wir erst einmal zusätzlich mit, damit diese die Möglichkeit haben, die Abläufe aufmerksam zu beobachten. So machen wir das doch in der Praxis auch; beim Hausbesuch sollten wir da keine „Abkürzung“ nehmen.

Frage: Wie sollten sich zahnärztliche Kollegen selbst fachlich vorbereiten? Ich denke da an Ihren Hinweis aus einer Referententätigkeit, dass man bei Schluckstörungen in der Behandlung nicht „die Lunge flutet“.

Ludwig: Ich greife mal drei Beispiele heraus. Die meisten von uns haben im Studium nicht gelernt, wie man auf Menschen mit Demenz zugeht. In der Pflege nennt man das Beziehungsgestaltung, dafür gibt es übrigens einen eigenen Expertenstandard. Techniken der sogenannten Validation erlauben es, mit einfachen Mitteln der verbalen und non verbalen Kommunikation diese Menschen „abzuholen und mitzunehmen“. Oder nehmen wir die Schluckstörung. Wir haben zwar gelernt, wie der Schluckakt funktioniert, wie aber erkennen wir, ob eine Schluckstörung vorliegt und wie schwerwiegend diese ist – darüber haben wir in der Regel nicht viel gehört. Und als Drittes sind da die rechtlichen Aspekte zu nennen. Wir sind mit dem Betreuungsrecht nicht vertraut. Generalvollmacht und Betreuung, Geschäftsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit – worin liegt der Unterschied? Was hat es mit der partizipativen Entscheidungsfindung und der konkludenten Willenserklärung auf sich und welche Rolle spielt die Orientierungsfähigkeit bei alldem? Jede und jeder von uns muss sich ehrlich fragen: Bin ich in diesen Themen fit?

Frage: Empfehlen Sie eine konkrete „Ausrüstung“ für die aufsuchende Betreuung?

Ludwig: Wir stellen auf der Homepage der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg eine Materialcheckliste für Hausbesuche ohne mobile Behandlungseinheit als Download zur Verfügung. Es handelt sich um ein Word-Dokument und kann deshalb ohne großen Aufwand individuell angepasst werden. Grundsätzlich empfehle ich immer, die Ausrüstung erst einmal „klein“ zu halten. Dann sind auch die Erwartungen nicht groß und man begibt sich nicht so schnell „auf dünnes Eis“. Für komplexere Ausrüstungen haben wir ebenfalls eine Zusammenstellung, was es auf dem Markt aktuell gibt (Anm. d. Red.: Beide Übersichten finden Sie unter Shortlink iww.de/s7630 > Rüstzeug für den Hausbesuch).

Frage: Ins Seniorenheim nur mit einem Kooperationsvertrag oder auch so?

Ludwig: Erst einmal gerne auch so, wenn sich dazu die Gelegenheit ergibt. Kommt man gut miteinander klar, kann man den Vertrag immer noch schließen und beide Seiten haben eine bessere Vorstellung davon, was man voneinander erwarten kann und darf. Aber warum werden Verträge eigentlich nicht geschlossen? Einmal erhalten die Einrichtungen im Gegensatz zu uns Zahnärzten für die Erfüllung der vertraglichen Aufgaben kein Honorar. D. h., die Einrichtung geht Verpflichtungen ein und hat dabei mehr Arbeit ohne finanziellen Ausgleich. Und jetzt stellen Sie sich vor, da kommt eine Zahnärztin oder ein Zahnarzt, ohne die Ressourcen der Einrichtung im Blick zu haben – das wird schnell nervig. Ein Transfer hier, eine Mobilisierung da, die Mundgesundheitsaufklärungen, vielleicht auch noch in belehrendem Ton, nicht zu vergessen die Organisation der Transporte für zahnärztliche Behandlungen in der Praxis – die nehmen dann ja auch auf jeden Fall zu.

Dann gibt es da die Angst bei den Zahnärzten: „Oh Gott, da bin ich ja für alle Bewohner zuständig und werde Tag und Nacht gerufen, so, wie es da im Mund meist aussieht. Und was soll ich überhaupt machen, ich kann das doch gar nicht mit den Möglichkeiten der Praxis leisten.“ Ich bin noch nie am Wochenende, in der Nacht oder am Feiertag gerufen worden, obwohl alle Pflegekräfte meine Handynummer haben. Warum nicht? Weil der Notfall mit Gefahr für Leib und Leben, also z. B. der große submandibuläre Abszess, bis heute erstens selten und zweitens sowieso ein Fall für den Notarzt und die Klinik ist. Alles andere hat auch etwas länger Zeit und selbst wenn nicht – es wäre okay, wenn man mich anruft. Wir sind ja auch für unsere Patienten in der Praxis zuständig in den Zeiten, wenn kein Notdienst eingerichtet ist. Darüber hinaus sind bei dramatisch zerstörten Gebissen aufwendige Sanierungen aufgrund der häufig weit fortgeschrittenen Gebrechlichkeit oft gar nicht sinnvoll. Da geht es darum, Schmerzursachen wie Druckstellen oder scharfe Kanten im Blick zu haben. Bei den fitteren Patienten sind dagegen selbst aufwendige Behandlungen in der Praxis ganz gut machbar. Unter dem Strich ist Augenmaß wichtig!

Und vor einiger Zeit habe ich gehört, dass in Fortbildungen abgeraten wird, Kooperationsverträge mit Einrichtungen der stationären Langzeitpflege zu schließen, weil die Abrechnungspositionen für Hausbesuche mit Kooperationsvertrag geringer honoriert sind. Dazu muss man wissen, dass bei regelmäßiger Besuchstätigkeit nach vorheriger Vereinbarung, wenn kein Kooperationsvertrag geschlossen wurde, die Besuchsposition BS3 in Ansatz zu bringen ist. Gegenüber den Besuchspositionen BS4 und BS5 unterscheidet sich die Besuchsposition BS3 im Zuschlag, der um 8 Punkte niedriger ausfällt. Werden nun viele Besuche durchgeführt, fällt das schon ins Gewicht. Schon allein deshalb macht der Kooperationsvertrag also Sinn.

Übrigens: Nach dem Pflegepersonalstärkungsgesetz sind stationäre Pflegeeinrichtungen eigentlich seit 2019 verpflichtet, Kooperationsverträge zu schließen [3]. Da haben bisher die Heimaufsichtsbehörden und der Medizinische Dienst der Krankenkassen mehr als ein Auge zugedrückt, weil in den letzten Jahren so viele gesetzliche Änderungen gleichzeitig die Pflege herausfordern. Und dann kam noch Corona. Mit dem aktuell veröffentlichten Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit werden auch die Kooperationsverträge wieder mehr ins Rampenlicht gerückt. Die Schonfrist dürfte also langsam ablaufen.

Teilweise höre ich von Zahnärzten, dass Sie gerne einen Vertrag schließen würden, aber alle Einrichtungen vor Ort seien schon „versorgt“. Grundsätzlich kann eine Einrichtung auch mit mehreren Zahnärzten einen Vertrag schließen. Das ist im Praxisalltag noch wenig verbreitet – aber möglich wäre es und teilweise auch sinnvoll. Was viele übrigens auch nicht wissen: Man kann auch mit Einrichtungen der Tagespflege Kooperationsverträge schließen.

Frage: Wie organisieren Sie das Mit- bzw. Nebeneinander von Behandlung in den Praxisräumen und Behandlung auswärts?

Ludwig: Zusammen mit meinem Kollegen Dr. Dirheimer bin ich in Gemeinschaftspraxis niedergelassen. Grundsätzlich sind Mehrbehandler-Praxen im Vorteil. Die Honorierung der Besuchstätigkeit mit den heute möglichen präventionsorientierten Positionen sowie der verkürzten Parodontitisbehandlung bei Versicherten nach § 22a SGB V erlauben es aber auch Einzelpraxen, diese Aufgaben zu erfüllen, ohne dabei finanziell benachteiligt zu sein. Mit etwas gutem Willen finden sich immer kreative Lösungen.

Frage: Welche Adressen, Hilfen oder Leitlinien wie die interdisziplinäre S2K-Leitlinie „Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen“ empfehlen Sie Kolleginnen und Kollegen, die in die aufsuchende Betreuung neu einsteigen, zur grundsätzlichen Orientierung und Information?

Ludwig: Orientierung bietet die Homepage der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg (Shortlink iww.de/s7563). Zudem kann ich nur empfehlen, eine unserer Fortbildungen zu besuchen. Ob Einsteiger oder Profis – da ist für jeden was dabei.

Frage: Was ist der individuelle Mundgesundheitsplan und warum ist er ein sinnvolles Instrument in der zahnärztlichen Betreuung von älteren Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf?

Ludwig: Der individuelle Mundgesundheitsplan [4] fasst Informationen hinsichtlich des Mundgesundheitsstatus, der bedarfsgerechten Pflegemittel sowie angezeigter Behandlungen unter Berücksichtigung spezieller koordinativer Aufgaben zusammen. Für den Alltagsgebrauch mag man den einen oder anderen Punkt infrage stellen. Insgesamt aber bildet der Mundgesundheitsplan die zahnärztliche Betreuung ganz gut ab. Besonders sinnvoll ist der Mundgesundheitsplan in der Praxis und in der Häuslichkeit, wenn es darum geht, vorausschauend Gewohnheiten zu dokumentieren. So können bei konkretem Unterstützungsbedarf diese Gewohnheiten bestmöglich berücksichtigt werden. Zwei Tipps möchte ich hier noch geben. Wir notieren bei den Pflegemitteln unter „Sonstiges“, ob ggf. vorhandene Prothesen über Nacht im Mund getragen werden. Und unten rechts setze ich neben die Unterschrift immer noch unseren Praxisstempel – dann weiß man genau, wer der Hauszahnarzt bisher war. Für den schnellen Überblick im Pflegealltag hat sich unsere „Pflegeampel“ [5] sehr bewährt. Vor allem in Pflegeeinrichtungen oder wenn ambulante Pflegedienste die Mundpflege ausführen. Die Pflegeampel fasst die wichtigsten Informationen auf einen Blick zusammen und kann im Bad oder im Schrank „nah am Menschen“ aufgehängt werden.

Frage: Gibt es aus Ihrer Sicht Therapiestrategien in der aufsuchenden Betreuung geriatrischer Patienten?

Ludwig: Es gibt in meinen Augen nicht das eine Kochrezept, da die Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf sehr unterschiedliche individuelle Möglichkeiten und Grenzen hinsichtlich Ihrer Kooperationsfähigkeit aufweisen. Ich würde auch weniger von Therapiestrategie, sondern vielmehr von Betreuungsstrategie sprechen. Zudem sind die Verläufe bei geriatrischen Patienten sehr dynamisch. Ein Sturz oder eine Lungenentzündung und schon ist von heute auf morgen alles ganz anders. Natürlich kann das jeden Menschen treffen, aber im Alter und bei Pflegebedarf steigt die Wahrscheinlichkeit exponentiell. Flexibilität und Augenmaß sind also gefragt. Dazu gehört, dass wir die Menschen einfach häufiger sehen. Dabei gilt aber: Weniger ist mehr! Klar sollten wir Schmerzursachen, wie z. B. Druckstellen bei Prothesen sowie scharfe Kanten an Zähnen oder Zahnersatz, im Blick haben. Vor allem aber müssen wir uns die Frage stellen, ob die tägliche Mundhygiene bedarfsgerecht durchgeführt wird. Schon eine Griffverstärkung für die Zahnbürste kann Wunder wirken. Und noch mal zur Behandlung: Natürlich ziehe auch ich hin und wieder einen stark gelockerten Zahn oder schmerzhafte Wurzelreste. Aber nicht jeder Wurzelrest beim geriatrischen Patienten muss raus. Kauen auf Wurzelresten – gegebenenfalls auch mit Prothesen darüber – funktioniert mitunter sogar besser. Und zugleich reduzieren wir Risiken wie z. B. Bissverletzungen infolge der Anästhesie, Blutungskomplikationen oder Wundheilungsstörungen. Am Ende muss das aber jede und jeder von uns für sich entscheiden und sorgfältig im Einzelfall abwägen.

Frage: Wie beziehen Sie den Pflegedienst oder die Angehörigen sinnvoll in die Prävention und Behandlung mit ein?

Ludwig: Das Unterstützungsumfeld sollte sensibilisiert sein für Probleme im Mundbereich. Dazu gehören Veränderungen im Verhalten wie Nahrungsverweigerung, Abwehr beim Eingeben des Essens, Abwehr bei der Mundpflege, bei der Ein- und Ausgliederung sonst gewohnter Zahnprothesen sowie konkrete Schmerzsignale wie Lautäußerungen, Grimassieren oder Auto- bzw. Fremdaggression. Auch die Inspektion der Mundhöhle mit einer Taschenlampe will geübt und gelernt sein. Und wenn die Mundhygiene gar nicht mehr selbst durchgeführt werden kann, gilt es, bei der Unterstützung ergonomisch zu arbeiten und Aspiration zu vermeiden. Dazu haben wir in den letzten Jahren einige Techniken mit viel Aufwand professionell fortentwickelt (iww.de/s7564). Bei der Behandlung muss man – wie bei Kindern auch – ein Gespür dafür entwickeln, wo das Unterstützungsumfeld wirklich eine Hilfe ist und wo es besser ist, wenn die Pflegekraft oder der bzw. die Angehörige nicht „dazwischenfunkt“.

Weiterführende Hinweise
  • [1] Patienteninformation zur Mundgesundheit beim G-BA unter iww.de/s7562
  • [2] Fachbeitrag: Die Kooperation nach § 119b SGB V zwischen dem niedergelassenen Zahnarzt und dem Pflegeheim (Abruf-Nr. 46311494 unter iww.de/zr)
  • [3] Informationen zum Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz (PpSG) unter 45427810
  • [4] Informationen zum Mundgesundheitsplan unter iww.de/zr > Abruf-Nr. 48561070
  • [5] Link zur Pflegeampel: iww.de/s7563 > Flyer & Formulare > Pflegeampel

AUSGABE: ZR 4/2023, S. 15 · ID: 49044020

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