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ProzessrechtHierauf müssen Sie beim Urteil im Bußgeldverfahren achten

Abo-Inhalt17.10.20242081 Min. LesedauerVon RA Detlef Burhoff, RiOLG a. D., Leer/Augsburg

| Verteidigung im straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren ist immer auch eine Verteidigung auf Zeit. Denn mit zunehmender Dauer zwischen Tat und Urteil wird es z. B. immer einfacher, ggf. allein wegen der langen Zeitdauer, ein Absehen vom Fahrverbot zu erreichen. Deshalb kann die Aufhebung des Bußgeldurteils durch das OLG von entscheidender Bedeutung sein. Dadurch und die dann erforderliche neue Hauptverhandlung beim AG kann nämlich ggf. so viel Zeit vergehen, dass dann das Fahrverbot allein wegen der langen Dauer des Verfahrens aufgehoben wird. Deshalb wird der Verteidiger, vor allem in Fahrverbotsfällen, im Zweifel Rechtsbeschwerde einlegen (müssen). |

Sollen keine Verfahrensfehler geltend gemacht werden, reicht zur Begründung der Rechtsbeschwerde zwar die allgemeine Sachrüge. Sie sollten aber besser konkrete Fehler geltend machen. So können Sie erreichen, dass sich das OLG damit auseinandersetzen muss. Wir wollen Ihnen daher mit den folgenden Ausführungen zeigen, wo Sie ansetzen können, wenn es um die allgemeinen Anforderungen an das tatrichterliche Urteil und an die tatrichterliche Beweiswürdigung geht.

Praxistipp | Übersehen werden dürfen auch nicht Fehler bei der Formulierung des Urteilstenors (Urteilsformel). Auch die können zur Aufhebung führen (vgl. OLG Jena VRS 121, 44). Nicht ausreichend ist z. B. eine nur pauschale Kennzeichnung der Tat. Vielmehr ist der Tatbestand in geeigneter Weise begrifflich – nicht durch Beschreibung des tatsächlichen Tatverhaltens – präzise und für die Prozessbeteiligten und die Öffentlichkeit griffig und verständlich zu bezeichnen (s. aber auch OLG Düsseldorf 1.10.20, 2 RBs 129/20, VA 21, 12).

Checkliste / Allgemeine Fragen

Frage

Antwort

  • 1. Welche allgemeinen Anforderungen werden an die Urteilsgründe in einem (straßenverkehrsrechtlichen) Bußgeldverfahren gestellt?

Die Anforderungen an das Urteil sind nicht sehr hoch, da es sich um Massensachen handelt. Darauf wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung unter Verweis auf BGHSt 39, 291 immer wieder hingewiesen (zuletzt u. a. KG 28.9.20, 3 Ws (B) 192/20; OLG Düsseldorf 13.7.20, IV-4 RBs 46/20, VA 20, 199; OLG Frankfurt a. M. 25.2.20, 1 Ss-OWi 1508/19, zfs 20, 410; siehe auch; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl., § 71 Rn. 42; weitere Hinweise bei Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., 2024, Rn. 3739 ff.).

  • 2. Wie müssen die Urteilsgründe konkret beschaffen sein?

Die Gründe des AG-Urteils müssen so beschaffen sein, dass das OLG ihnen zur Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung, und zwar sowohl hinsichtlich aller objektiven als auch subjektiven Tatbestandsmerkmale, entnehmen kann, welche tatsächlichen Feststellungen das AG getroffen hat (st. Rspr., vgl. die vorstehend zitierte Rechtsprechung und z. B. auch noch OLG Hamburg NZV 22, 494). Es muss den Gründen auch zu entnehmen sein, welche tatrichterlichen Erwägungen der Bemessung der Geldbuße und der Anordnung oder dem Absehen von Nebenfolgen zugrunde liegen (u. a. BayObLG 18.10.23, 202 StRR 76/23, DAR 24, 36).

  • 3. Kommt es nur auf das an, was das AG erkennbar unter den „Feststellungen“ ausgeführt hat?

Nein. Der Verteidiger muss berücksichtigen, dass die Urteilsgründe eine Einheit bilden und tatsächliche Angaben auch dann berücksichtigt werden müssen, wenn sie sich in solchen Zusammenhängen befinden, in denen sie nach dem üblichen Urteilsaufbau nicht erwartet werden (KG 23.6.22, 3 Ws 172/22).

  • 4. Kann in den Urteilsgründen auf die Akten, den Bußgeldbescheid oder andere Quellen Bezug genommen werden?

Allgemein gilt, dass eine Bezugnahme auf andere Quellen grundsätzlich nicht erlaubt ist (aus neuerer Zeit BayObLG 22.2.23, 201 ObOWi 66/23, VA 23, 137; OLG Zweibrücken 8.1.20, 1 OWi 2 SsBs 117/19; OLG Jena 21.9.20, 1 OLG 151 SsBs 72/20, VA 21, 32).

  • 5. Gilt dieses Verbot auch für die Begründung des Rechtsfolgenausspruchs?

Ja (OLG Hamm VRS 104, 370 = NZV 03, 295).

  • 6. Darf im Urteil ggf. auf ein Messprotokoll mit Messdaten verwiesen werden?

Nach h. M. ist das nicht zulässig. Bei dem Messprotokoll handelt es sich nämlich nicht um eine „Abbildung“, sondern um eine Urkunde. Diese muss im Wege des Urkundenbeweises, also gem. § 249 StPO durch Verlesung, in die Hauptverhandlung eingeführt werden (zuletzt BayObLG 31.1.22, 202 ObOWi 106/22, VA 22, 89; OLG Hamm 27.2.20, 5 RBs 63/20, VA 20, 197; 9.3.21, 4 RBs 44/21, VA 21, 89, weitere Nachweise bei Burhoff, OWi, Rn. 3746 ff.).

Von einigen OLG wird das anders gesehen (KG VA 16, 29 und 84; OLG Stuttgart NZV 17, 341; OLG Zweibrücken 28.2.18, 1 OWi 2 Ss Bs 106/17, zfs 18, 349). Danach soll Nichtverlesen erlaubt sein, wenn/weil sich der gedankliche Inhalt der Urkunde – z. B. die Rotlichtzeit bei einem Rotlichtverstoß – auf einen Blick erfassen lässt. Das ist m. E. schon deshalb unzutreffend, weil sich der gedankliche Inhalt des Messprotokolls eben nicht „auf einen Blick erfassen“ lässt.

  • 7. Darf auf Messfotos verwiesen werden?

Auf „Abbildungen“/Messfotos i. S. d. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO darf verwiesen werden (zum Begriff der Abbildung BGHSt 57, 53; OLG Saarbrücken VA 13, 104). Allerdings muss die Verweisung „prozessordnungsgemäß“ i. S. d. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO sein (zu allem eingehend KG 17.6.21, 3 Ws (B) 144/21; OLG Hamm 9.3.21, 4 RBs 44/21, VA 21, 89).

  • 8. Ist es ausreichend, wenn das AG nur das Datenfeld eines Messfotos in Augenschein genommen hat und das im Urteil mitteilt?

Die bloße Augenscheinnahme vom Datenfeld eines Messfotos ist nicht ausreichend (OLG Hamm 27.2.20, 5 RBs 63/20; 9.3.21, 4 RBs 44/21, zfs 21, 531; VA 21, 89; s. a. KG 17.6.21, 3 Ws (B) 144/21).

  • 9. Gilt das Verbot der Bezugnahme/Nutzung von anderen Quellen auch für allgemein zugängliche Internetquellen wie z. B. bei einem Rotlichtverstoß für Entfernungsangaben, z. B. zur Haltelinie oder zur Lichtzeichenanlage?

Die Frage ist in der Rechtsprechung nicht eindeutig geklärt. Das OLG Düsseldorf sieht diese Quellen als „allgemeinkundig“ und ihre Nutzung daher als zulässig an (OLG Düsseldorf 5.1.21, IV-2 RBs 191/20). Folge ist, dass im Internet bei Google Maps oder Google Earth abrufbare Luftbildaufnahmen als Quelle zu den örtlichen Gegebenheiten herangezogen werden können (OLG Oldenburg 20.4.21, 2 Ss (OWi) 88/21, DAR 21, 643 für Sonnenaufgangs-, Sonnenuntergangs- und Dämmerungszeiten). Das OLG Hamm hat die enger/kritisch gesehen (OLG Hamm 5.1.21, IV 2 RBs 191/20).

Praxistipp | Unabhängig davon, wie man sich in der Frage entscheidet. Eine Bezugnahme i. e. S. auf Erkenntnisse aus diesen Quellen ist natürlich nicht erlaubt.

Checkliste 2 /  Allgemeine Anforderungen an die Urteilsgründe

Frage

Antwort

  • 1. Wie muss der Verkehrsverstoß beschrieben werden?

I. d. R. muss der Verkehrsverstoß hinsichtlich der Örtlichkeit, der Verkehrsregelung, der Verkehrssituation und ggf. der Fahrweise der beteiligten Fahrzeuge beschrieben werden (OLG Düsseldorf 13.7.20, IV-4 RBs 46/20; OLG Hamburg 28.4.22, 6 RB 20/22, NZV 22, 494 jeweils für einen Rotlichtverstoß).

  • 2. Wie ist bei mehreren Verstößen vorzugehen?

Bei mehreren Verstößen sind für jede einzelne Tat die erwiesenen Tatsachen hinsichtlich der Zeit, des Ortes und der Art der Begehung anzuführen (Göhler/Seitz/Bauer, § 71 Rn. 42a). Das gilt auch bei einer größeren Zahl im Wesentlichen gleicher Verstöße, wie also z. B. mehrerer Geschwindigkeitsüberschreitungen.

  • 3. Müssen auch Feststellungen zu Rechtfertigungsgründen getroffen werden?

Ja, auch zu Rechtfertigungsgründen müssen ggf. nähere Feststellungen getroffen werden (wegen der Einzelheiten Burhoff, OWi, Rn. 2240 ff.).

  • 4. Was gilt hinsichtlich der Schuldform?

Auch zur Schuldform sind nähere Feststellungen zu treffen, und zwar muss der Tatrichter dazu Tatsachen feststellen (u. a. OLG Bamberg DAR 14, 38 für Vorsatz; OLG Bremen 15.11.21, 3 OWi 32 SsBs 239/21).

Praxistipp | Das Fehlen von Angaben zur Schuldform ist allerdings dann unschädlich, wenn sich die Schuldform dem sog. Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe einwandfrei entnehmen lässt (s. z. B. KG VA 14, 96; OLG Bamberg NStZ-RR 08, 119; OLG Hamm DAR 12, 218).

  • 5. Gelten Besonderheiten für die Beweiswürdigung?

Nein. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, auf welche Tatsachen das AG seine Überzeugung gestützt hat. Räumt der Betroffene die Tat nicht in vollem Umfang glaubhaft ein, müssen die Urteilsgründe die tragenden Beweismittel wiedergeben und sich mit ihnen auseinandersetzen (u. a. BayObLG 6.9.23, 202 ObOWi 910/23, DAR 23, 711; KG 28.1.21, 3 Ws (B) 18/21; 12.2.22, 3 Ws (B) 7/22; OLG Celle 9.4.20, 1 Ss (OWi) 4/20; OLG Düsseldorf 13.7.20, IV-4 RBs 46/20; OLG Koblenz 18.1.23, 4 ORbs 31 SsBs 17/23; OLG Oldenburg 9.11.23, 2 ORbs 188/23; OLG Saarbrücken 22.9.20, Ss BS 2/20 (14/20 OWi).

  • 6. Muss man dem Urteil entnehmen können, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt oder ob und inwieweit er die Einlassung für widerlegt ansieht?

Ja, insoweit gilt dasselbe wie im Strafverfahren (dazu u. a. BGH 12.12.19, 5 StR 444/19, NStZ 20, 625; 17.8.23, 2 StR 215/23). Darauf weisen die OLG immer wieder hin, weil an der Stelle häufig Fehler gemacht werden (z. B. KG 28.1.21, 3 Ws (B) 18/21; OLG Düsseldorf, 27.8.24, 2 ORbs 83/24; OLG Saarbrücken 22.9.20, Ss BS 2/20 (14/20 OWi); weitere Nachweise bei Burhoff, OWi, Rn. 3753). In einfach gelagerten Fällen kann von dem Erfordernis allerdings abgewichen werden; das gilt aber nicht für einen „Fahrverbotsfall“ (OLG Düsseldorf a. a. O.).

Praxistipp | Das gilt auch, wenn die Feststellung eines Verkehrsverstoßes auf einem standardisierten Messverfahren beruht (vgl. u. a. OLG Bamberg DAR 09, 655; zu den Anforderungen bei einem standardisierten Messverfahren Cierniak, zfs 12, 662 ff.).

  • 7. Was gilt, wenn die Verurteilung des Betroffenen (auch) auf einem Sachverständigengutachten beruht?

Das Urteil muss sich mit dem Sachverständigengutachten auseinandersetzen. Insoweit wird von den OLG gerade in OWi-Verfahren immer wieder beanstandet, dass die Tatrichter in den Urteilsgründen nur das Ergebnis eines SV-Gutachtens mitteilen (vgl. die Nachweise bei Burhoff, OWi, Rn. 3756 ff.). Das ist aber nicht ausreichend. In den Urteilsgründen muss vielmehr eine verständliche und in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung gegeben werden (BGH NJW 00, 1350; NStZ 05, 458; OLG Hamm 13.8.20, III-3 RBs 145/20; 10.5.22, 5 RBs 111/22).

Weiterführender Hinweis
  • Das müssen Sie zum Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nach den §§ 67 ff. OWiG wissen: VA 24, 179

AUSGABE: VA 11/2024, S. 198 · ID: 50151529

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