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WertminderungDie Wertminderungs-Nebelkerze des BGH zum „Netto“ beim beschädigten Privatfahrzeug
| Die Entscheidungen des BGH zur Behandlung der Wertminderung an einem Fahrzeug, für das der Geschädigte zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, war vorhersehbar: Weil es um die Auswirkung der Wertminderung in der Vermögensbilanz des Geschädigten geht und die Wertminderung als Position ohne Leistungsaustausch beim gedachten Verkauf des Fahrzeugs zu einem verminderten Verkaufspreis mutiert (also mit Leistungsaustausch), sind 19 Punkte abzuziehen, wenn der Schadengutachter nicht bereits von einem gedachten Netto-Verkaufspreis ausgegangen ist. |
1. Der Blick auf die Privaten als Geschädigte verblüfft
Doch die große Überraschung der Urteile war: Auch bei einem Fahrzeug eines Privaten soll für die Ermittlung des merkantilen Minderwerts stets nur der Netto-Verkaufspreis eine Rolle spielen (BGH 16.7.24, VI ZR 205/23 und VI ZR 243/23, Abruf-Nr. 243145 und 243146). Denn für den Privaten gebe es insoweit immer nur die Kategorie „netto“, weil nach § 1 Abs. 1 Ziffer 1 UStG Umsatzsteuer nur auf Lieferungen und Leistungen von Unternehmern im Inland erhoben wird. Weil der private Verkäufer also niemals eine Mehrwertsteuer aufschlagen darf, sei sein Verkaufspreis immer ein Netto-Verkaufspreis.
Das irritiert durch den Sprachgebrauch. Bisher nannten alle Beteiligten und die Steuerrechtler einen Betrag, auf den aus Rechtsgründen keine MwSt. aufgeschlagen werden kann, nicht „netto“, sondern „steuerneutral“. „Netto“ gibt es nach dem allgemeinen fachsprachlichen Gebrauch nur dort, wo es auch ein „Brutto“ geben kann, vice versa.
Diese durch den Senat ausgelöste Begriffsverwirrung mag man nun beklagen. Sinnvoll wird es sein, dass der BGH das bei Gelegenheit klarstellt. Aber da trotz des irritierenden Sprachgebrauchs klar wird, was gemeint ist, kann man das auch unter „falsa demonstratio non nocet“ einordnen und auf dieser Grundlage weiterdenken.
2. Zweimal „Netto“ muss nicht zweimal dasselbe sein
Also soll, so Leitsatz 1a gleichlautend in beiden Entscheidungen, der Schadengutachter sowohl in der Fallgruppe zum Vorsteuerabzug berechtigter wie in der Fallgruppe nicht zum Vorsteuerabzug berechtigter Geschädigter stets vom gedachten Netto-Verkaufspreis ausgehen: „Grundlage für die Schätzung des merkantilen Minderwerts ist ein hypothetischer Verkauf des Fahrzeugs. Dabei ist von Netto-, nicht von Bruttoverkaufspreisen auszugehen.“
Doch schwant auch dem Senat, dass der erzielbare (gedachte) Netto-Verkaufspreis, den der Unternehmer erzielt, nicht immer identisch ist mit dem Netto-Verkaufspreis (besser: dem steuerneutralen) Verkaufspreis, den der private Verkäufer für das gedacht identische Fahrzeug erzielen wird.
Daher findet man in beiden Urteilen (Rn. 20 bzw. Rn. 18) eine Passage, die besagt: „Eine andere – nicht rechtliche, sondern tatsächliche – Frage ist es allerdings, welche Preise eine Privatperson bei einem Verkauf erzielen würde, insbesondere, ob diese Preise, obwohl netto, betragsmäßig an die von Unternehmern erzielbaren Bruttopreise heranreichen würden.“
„Eine andere – nicht rechtliche, sondern tatsächliche – Frage …“ bedeutet: Eine nicht vom Juristen, sondern vom Gutachter zu entscheidende Frage …“
3. Was meint der BGH damit?
Stellen wir uns ein sehr typisches Firmenfahrzeug vor, z. B. einen zwei Jahre alten VW Passat Kombi. Ein potenzieller Käufer, der selbst Unternehmer ist, würde nie und nimmer dem Privaten 35.700 EUR zahlen, wenn er auf viele andere zugreifen könnte, die ihn nach Geltendmachung der in der Rechnung ausgewiesenen und an den unternehmerischen Verkäufer gezahlten MwSt. als Vorsteuer im Ergebnis nur 30.000 EUR kosten würden.
Ein privater Käufer hingegen kann – wenn man nur auf den Kaufpreis schaut – den einen nehmen wie den anderen. Mangels Möglichkeit zum Vorsteuerabzug ist es ihm egal, ob er 30.000 EUR plus MwSt., also brutto 35.700 EUR an den unternehmerischen Verkäufer bezahlt oder 35.700 EUR ohne MwSt.-Ausweis an den Privaten.
Es kommt also nun entscheidend darauf an, wie die Nachfrage ist: Wird so ein Fahrzeug überwiegend von Unternehmern nachgefragt, wird der private Verkäufer kaum die 35.700 EUR erzielen. Hinzu kommt: Mancher Verbraucher wird den Kauf beim Unternehmer vorziehen, weil er dort in den Genuss der verpflichtenden Sachmangelhaftung kommt. Das ist ein Grund mehr, warum der Private möglicherweise nicht denselben Preis durchsetzen kann wie der Unternehmer.
Denken wir uns hingegen einen acht Jahre alten Dacia Logan Kombi, der von den vielen privaten Verkäufern für 6.000 EUR angeboten wird. Dann wird der „einzige Unternehmer“, der so einen anbietet, sicher keine 6.000 EUR plus MwSt. erzielen, sondern auch nur 6.000 EUR – also 5.042 EUR plus MwSt. Hier erzielt der Private also genauso viel wie der Unternehmer. Und wenn der Unternehmer doch vor dem Hintergrund der Sachmangelhaftung einen höheren Betrag erzielen kann, fällt „das eine Fahrzeug“ in der Masse der anderen nicht ins Gewicht, wenn der WBW für „so ein Fahrzeug“ zu ermitteln ist.
4. Massengeschäftstauglicher Vorschlag für den Gutachter
Und damit hat der Schadengutachter nun eine neue Aufgabe: Er muss ermitteln, zu welchem Preis ein Unternehmer und zu welchem Preis ein Privater das Fahrzeug vor dem Unfall einerseits und nach der gedachten Reparatur nach dem Unfall andererseits verkaufen könnte.
Für ein massengeschäftstaugliches Verfahren kann hier der Verkaufspreis mit dem Wiederbeschaffungswert (WBW) gleichgesetzt werden. Der eine verkauft und der andere kauft. Der WBW ist der Betrag, für den man „so ein Fahrzeug“ kaufen kann, der Verkaufspreis ist spiegelbildlich der Betrag, für den man „so ein Fahrzeug“ verkaufen kann. Die Tauglichkeit für das Massengeschäft darf bei der Suche nach einem sinnvollen Weg für die Schadengutachter nicht aus den Augen verloren werden. Dieses Ziel deckt sich mit der Arbeitsweise des Senats, der dem Einwand „Vielleicht verkauft der Geschädigte ja auch mehrwertsteuerfrei ins Ausland“ damit begegnete, dass er auf den „typischen“ Verkauf im Inland abgestellt hat.
5. Die Schubladen: steuerneutral, differenz- und regelbesteuert
Nichts Neues und gut eingeübt ist bei den Schadengutachtern die Einteilung der Wiederbeschaffungswerte in die drei Schubladen „Steuerneutral“, „Differenzbesteuert“ und „Regelbesteuert“. Dabei bleibt es. Und daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
- Die Steuerneutralen sind in aller Regel vom Alter und Zustand her jenseits der Wertminderung und damit irrelevant. Und wenn nicht, ist „steuerneutral“ gleich „netto“. Denn „ohne MwSt.“ ist ja in der Sprache des BGH „netto“. Der Betrag wird also so in die Ermittlung der Wertminderung eingestellt.Steuerneutral ist zumindest gleich netto
- Bei den Differenzbesteuerten wird der MwSt.-Anteil mit Billigung des BGH (BGH 9.5.06, VI ZR 225/05, Abruf-Nr. 061792) nur geschätzt und nicht einzelfallbezogen ermittelt. Auch das dient der Massengeschäftstauglichkeit. Dabei geht man von 19 % MwSt. auf 15 bis 20 Prozentpunkte Handelsspanne aus. Das sind im Dreisatz 2,5 bis 3 % vom Endpreis.Auf Netto-Ermittlung kann verzichtet werden
- Die Wertminderung ist ohnehin keine centgenaue Position. Sie ist Ergebnis einer wissens- und zahlenbasierten Schätzung. Hundert EUR rauf oder runter sind dabei oftmals nicht falsch, sondern im Rahmen des Schätzungsermessens des Gutachters „anders richtig“. Bei einer ohnehin mithilfe des „dicken Daumens“ ermittelten Schadenposition kann es folglich kaum darauf ankommen, ob die Ausgangsbasis zweieinhalb oder drei Prozentpunkte auseinanderliegt.
- Also kann der Schadengutachter nach hier vertretener Auffassung im Hinblick auf die Massentauglichkeit eine „Nettorisierung“ des differenzbesteuerten Verkaufspreises unterlassen. Denn 1.000 EUR oder 970 EUR Wertminderung ist schlichtweg „über den dicken Daumen“ dasselbe. Wenn 1.000 EUR richtig sind, sind 970 EUR nicht falsch. Vice versa.
- Gerechtigkeitsfanatiker mögen jetzt aufstöhnen, aber den Senat hat es ja nun auch nicht interessiert, dass ein einzelner Vorsteuerabzugsberechtigter sein Fahrzeug vielleicht innergemeinschaftlich mehrwertsteuerfrei verkaufen könnte.
- Bei den Regelbesteuerten ist die Sache klar: Brutto ist brutto und netto ist netto.Brutto bleibt brutto und netto bleibt netto
AUSGABE: VA 11/2024, S. 187 · ID: 50196602