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StrafrechtDie Rechtsprechung in Verkehrs-OWi-Sachen zum materiellen Recht in 2023

Abo-Inhalt16.02.2024917 Min. LesedauerVon RA Detlef Burhoff, RiOLG a. D., Leer/Augsburg

| Der Beitrag stellt Ihnen im Anschluss an VA 23, 70 die wichtigsten Entscheidungen aus dem Jahr 2023 aus dem Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten vor. Erfasst sind hier zunächst nur die Entscheidungen zum materiellen Recht und zu den Rechtsfolgen. Ausgenommen sind weitgehend Entscheidungen zur Verhängung eines Fahrverbots. Darüber haben wir zuletzt in VA 22, 183 und VA 23, 107 berichtet. Über die Rechtsprechung zum OWi-Verfahrensrecht werden wir gesondert berichten. |

Rechtsprechungsübersicht / Verkehrsstrafrechtliche Entscheidungen 2023

Bedienungsanleitung/Rohmessdaten

Werden dem Verteidiger Rohmessdaten und Bedienungsanleitung trotz eines entsprechenden Antrags und auch entgegen der Anordnung des Gerichts vorenthalten, so ist das Verfahren nach § 47 OWiG einzustellen, wenn eine Durchsuchung des Polizeipräsidiums unverhältnismäßig erscheint (AG Dortmund 14.12.23, 729 OWi-260 Js 2315/23-135/23, Abruf-Nr. 239088).

Drogenfahrt

Ob im Blut nachgewiesenes Amphetamin auf einer Einnahme des Medikaments Elvanse 70 mg Hartkapseln oder (zusätzlich) auf einem sonstigen Amphetaminkonsum beruht, steht ohne eine gaschromatographische Untersuchung der Blutprobe nicht hinreichend sicher fest (VG Düsseldorf 29.9.23, 6 L 2377/23, Abruf-Nr. 238190).

Wem Cannabis als Medikament für eine ADHS-Erkrankung ärztlicherseits verschrieben worden ist, kann sich im Falle seiner bestimmungsgemäßen Einnahme, auf die sogenannte „Medikamentenklausel“ (§ 24a Abs. 2 S. 3 StVG) beim Führen eines Kraftfahrzeugs unter dem Einfluss von THC berufen (OLG Oldenburg 14.3.23, 2 ORbs 16/23, DAR 23, 584 = zfs 23, 591).

Elektronisches Gerät

Ein durch § 23c Abs. 1 S. 3 StVO verbotenes Verwenden der zur Anzeige oder Störung von Verkehrsüberwachungsmaßnahmen bestimmten Funktion eines technischen Geräts, das auch zu anderen Nutzungszwecken verwendet werden kann, liegt auch vor, wenn ein anderer Fahrzeuginsasse mit Billigung des Fahrzeugführers auf seinem Mobiltelefon eine App geöffnet hat, mit der vor Verkehrsüberwachungsmaßnahmen gewarnt wird (OLG Karlsruhe 7.2.23, 2 ORbs 35 Ss 9/23, VA 23, 103). Der Führer eines Kraftfahrzeugs verstößt auch dann nicht gegen § 23 Abs. 1a StVO, wenn er während der Fahrt ein Smartphone, mit dem er gerade ein Gespräch über eine Bluetooth-Freisprecheinrichtung des Fahrzeugs führt, ausschließlich zu dem Zweck aufnimmt, um es – etwa zum Schutz vor Beschädigungen – umzulagern (OLG Karlsruhe 18.4.23, 1 ORbs 33 Ss 151/23, VA 23, 136).

Auch ein mit einem mobilen Diagnosegerät verbundenes Auslesegerät kann unter das in § 23 Abs. 1a StVO enthaltene Verbot der Benutzung eines „elektronischen Geräts, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist“, fallen, wenn dieses Gerät beim Führen eines Fahrzeugs aufgenommen oder gehalten wird (OLG Schleswig 28.3.23, II ORbs 15/23, VA 23, 101).

E-Scooter

Zum E-Scooter im Bußgeldverfahren siehe auch VA 24, 15

Fahrtenbuchauflage

Über die Fahrtenbuchauflage haben wir in VA 23, 122 berichtet (vgl. auch noch zum Fuhrparkhalter OVG Saarland 19.4.23, 1 B 25/23, VA 23, 156; außerdem OVG Münster 31.5.23, 8 A 2361/22, VA 23, 159 und OVG Münster 3.5.23, 8 B 185/23, VA 23, 159; OVG Lüneburg 18.7.23, 12 ME 77/23, VA 23, 172 und 23.11.23, 12 ME 98/23; OVG Rheinland-Pfalz 20.6.23, 7 B 10360/23, VA 23, 172; zusammenfassend OVG Münster 6.10.23, 8 B 960/23, VA 24, 14).

Geldbuße, Allgemeines

Die freiwillige Teilnahme des Betroffenen an einer verkehrspsychologischen Maßnahme ist nicht schlechterdings ungeeignet, im Rahmen der Bemessung der Geldbuße Berücksichtigung zu finden und gegebenenfalls zu einer Reduzierung der Regelgeldbuße zu führen (OLG Zweibrücken 8.3.23, 1 OWi 2 SsRs 64/22, VA 23, 101; zu Abzügen nach dem Nettoprinzip bei der Ermittlung des wirtschaftlichen Vorteils im Rahmen der Bemessung der Geldbuße OLG Frankfurt a. M. 24.3.23, 3 ORbs 8/23, zfs 23, 412).

Das Abtun eines Handyverstoßes als „Kleinigkeit“, eine ausgesprochene Drohung gegenüber Polizeibeamten sowie das Schlagen mit der flachen Hand auf die Motorhaube des Streifenwagens rechtfertigen bei der Bußgeldbemessung die Verdoppelung des Regelsatzes (AG Ellwangen 14.4.23, 7 OWi 36 Js 5096/23, VA 23, 138).

Die Verhängung einer Gesamtgeldbuße ist im Bußgeldverfahren nicht zulässig (KG 18.8.23, 3 ORbs 172/23, 122 Ss 40/23, Abruf-Nr. 237209).

Äußert sich der den abwesenden Betroffenen (§ 73 OWiG) vertretende Rechtsanwalt in einer Abwesenheitsverhandlung nicht zu dessen Vermögensverhältnissen, ist die Bußgeldbemessung auch dann nicht zu beanstanden, wenn das AG den Regelsatz des Bußgeldkatalogs wegen einer Vorbelastung um einen moderaten Betrag erhöht hat (KG 12.10.23, 3 ORbs 211/23 – 162 Ss 104/23, Abruf-Nr. 238706).

Geldbuße, wirtschaftliche Verhältnisse

Auch bei einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit i. S. d. § 17 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 OWiG sind bei Verhängung der Regelgeldbuße in der Regel keine näheren Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen erforderlich (u. a. BayObLG 10.7.23, 201 ObOWi 621/23, VA 23, 214; OLG Saarbrücken 8.5.23, 1 Ss [OWi] 8/23, VA 23, 138).

Geschwindigkeitsüberschreitung, Messverfahren

Nicht jede Abweichung von der Bedienungsanleitung nimmt einer Messung den Charakter als standardisiertes Messverfahren (OLG Karlsruhe 16.2.23, 2 ORbs 35 Ss 4/23, VA 23, 119). Die Einhaltung der Bedingungen für ein standardisiertes Messverfahren kann auch anders als durch das Messprotokoll, wie z. B. durch die Vernehmung des Messbeamten, nachgewiesen werden (OLG Karlsruhe 29.8.23, 2 ORbs 37 Ss 506/23, VA 23, 214). Für die Auswertungsperson einer Messung ist nicht zwingend ein förmlicher Schulungsnachweis erforderlich (KG 18.9.23, 3 ORbs 170/23 – 162 Ss 85/23, Abruf-Nr. 238704, NZV 23, 558; AG Tiergarten 23.5.23, [297 OWi] 3041 Js-OWi 2801/22 [367/22], NZV 23, 366).

Die Geschwindigkeitsmessung mittels des ProVida-Systems durch ein während des Messvorgangs in Schrägfahrt nachfahrendes Polizeimotorrad genügt nicht den Anforderungen, welche an ein standardisiertes Messverfahren zu stellen sind (OLG Hamm 9.1.23, 5 RBs 334/22, Abruf-Nr. 233523). Es liegt vielmehr ein individuelles Messverfahren ohne die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit vor. Daher muss das Gericht individuell prüfen, ob das Messergebnis korrekt ist. Die Geschwindigkeitsmessung aus einem nachfahrenden Fahrzeug mittels Stoppuhr ist grundsätzlich unzulässig, wenn die Weg- und Zeitmessung von nur einem Beamten aus einem nachfahrenden Fahrzeug erfolgt und der Sicherheitsabzug von der ermittelten Durchschnittsgeschwindigkeit bei einer Messstrecke von 500 m nicht mindestens 10 Prozent beträgt (OLG Oldenburg 19.12.22, 2 Ss [OWi] 183/22, VA 23, 65). Bei der Geschwindigkeitsfeststellung durch nachträgliche Auswertung eines ProViDa-Videos und Bestimmung der Geschwindigkeit anhand einer nachträglich frei anhand des Videos gewählten Messstrecke durch nachträgliche Weg-Zeit-Berechnung handelt es sich um ein anerkanntes und zulässiges Verfahren. Da es sich nicht um ein standardisiertes Messverfahren handelt, müssen im Urteil allerdings nähere Feststellungen zur Messung und zur Auswertung getroffen werden (AG Dortmund 14.2.23, 729 OWi-264 Js 110/23 -12/23, Abruf-Nr. 236218).

Die Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit ungeeichtem Tacho ist kein standardisiertes Messverfahren. Daher muss sich das Tatgericht in jedem Einzelfall mit der Zuverlässigkeit der Messung und der Einhaltung der Voraussetzungen für die Verwertbarkeit auseinandersetzen. Bei einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren zur Nachtzeit müssen die Urteilsgründe grundsätzlich Feststellungen zu den Beleuchtungsverhältnissen enthalten. Außerdem muss dargelegt werden, ob der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug durch Scheinwerfer des nachfahrenden Fahrzeugs oder durch andere Lichtquellen aufgehellt war und damit ausreichend sicher erfasst und geschätzt werden konnte. Etwas anderes kann gelten, wenn die Beleuchtungsverhältnisse gerichtsbekannt sind (KG 27.2.23, 3 ORbs 31/23, NZV 23, 428).

Es gibt keinen Rechtssatz, der eine Geschwindigkeitsüberschreitung wegen dichten Auffahrens durch das nachfolgende Fahrzeug rechtfertigt oder entschuldigt (KG 2.8.23, 3 ORbs 158/23 – 122 Ss 71/23, Abruf-Nr. 237208).

Zur Geschwindigkeitsüberschreitung siehe auch noch VA 23, 141 und 160.

Geschwindigkeitsüberschreitung, Vorsatz

Bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 Prozent kann in der Regel von vorsätzlicher Tatbegehung des Betroffenen ausgegangen werden, wenn dieser die zulässige Höchstgeschwindigkeit kannte (u. a. BayObLG 10.7.23, 201 ObOWi 621/23, VA 23, 214; KG NZV 23, 428).

Die Möglichkeit, ein die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn anordnendes Verkehrszeichen übersehen zu haben, ist stets dann in Rechnung zu stellen, wenn sich hierfür Anhaltspunkte ergeben oder im Verfahren von dem Betroffenen eingewandt wird, die beschränkenden Vorschriftzeichen übersehen zu haben. Ist ein solcher Fall gegeben, müssen die tatrichterlichen Feststellungen deshalb selbst bei einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung eindeutig ergeben, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und entweder bewusst dagegen verstoßen oder aber den Verstoß zumindest billigend in Kauf genommen hat (BayObLG 6.9.23, 202 ObOWi 910/23, DAR 23, 711).

Halterhaftung (§ 25a StVG)

Wir haben über die sog. Halterhaftung nach § 25a StVG beim E-Scooter in VA 23, 14 berichtet (vgl. dazu auch noch AG Hamburg 23.1.23, 327b OWi 1/23, VA 23, 83 und einerseits AG Berlin-Tiergarten 6.9.23, 297 OWi – 812/23, Abruf-Nr. 238181 sowie andererseits AG Tiergarten DAR 18, 398).

Parkverstoß

Das Auslegen eines Parkausweises im Inneren eines Fahrzeugs auf der Mittelkonsole auf Höhe der Sitzflächen ist nicht geeignet, um die Anforderungen an eine „gute Lesbarkeit“ zur erfüllen (AG Schwerin 8.5.23, 35 OWi 83/23, NZV 23, 523).

Rettungsgasse

Die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse gilt dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO nach nicht für den innerstädtischen Verkehr auf einer Bundesstraße (BayObLG 26.9.23, 201 ObOWi 971/23, Abruf-Nr. 238702).

Teilt das Urteil mit, Fahrzeuge hätten über eine lange Strecke (hier zumindest 500 m) eine „Rettungsgasse“ gebildet, so ist dem bei verständiger Würdigung zu entnehmen, dass die Fahrzeuge, wie es § 11 Abs. 2 StVO erfordert, „mit Schrittgeschwindigkeit“ fuhren oder sich „im Stillstand“ befanden (KG 15.3.23, 3 ORbs 43/23, NZV 23, 474). § 11 Abs. 2 StVO ist die gegenüber § 5 Abs. 1 StVO (Verbot des Rechtsüberholens) speziellere Vorschrift, sodass ein Überholen unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 StVO immer eine Verwirklichung dieser Norm bedeutet und die Regelvermutung des zugehörigen Rechtsfolgentatbestands der BKatV auslöst (KG, a. a. O.).

Rotlichtverstoß, Allgemeines

Eine Rotlichtmessung ist nicht allein schon deshalb unverwertbar, weil die verwendete Stoppuhr des privaten Mobiltelefons nicht geeicht war (OLG Dresden 25.5.23, ORBs 21 SsBs 54/23, VA 23, 190).

Die irrtümliche Annahme einer zum „Dauerrot“ führenden Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage ist als Fehlvorstellung im tatsächlichen Bereich als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum zu qualifizieren (OLG Hamburg 11.9.23, 5 ORbs 25/23, zfs 23, 647, Abruf-Nr. 237747 für eine Radfahrerin).

Täteridentifizierung, Urteilsgründe

Sieht der Tatrichter von der die Abfassung der Urteilsgründe erleichternden Verweisung auf das Beweisfoto gem. § 267 Abs. 3 S. 1 StPO ab, genügt es weder, wenn er das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung mitteilt, noch, wenn er die von ihm zur Identifizierung herangezogenen Merkmale auflistet. Vielmehr muss er durch eine entsprechend ausführliche Beschreibung die Prüfung ermöglichen, ob es für eine Identifizierung geeignet ist (OLG Düsseldorf 31.7.23, 1 Orbs 77/23, VA 23, 210; OLG Oldenburg 23.10.23, 2 ORBs 168/23).

Allein der Umstand, dass die Betroffene offensichtlich die Ehefrau des Fahrzeughalters ist, reicht für einen hinreichenden Tatverdacht hinsichtlich der Fahrereigenschaft nicht aus (AG Vaihingen 1.12.22, 2 OWi 25 Js 36850/22, VA 23, 67).

Trunkenheitsfahrt (§ 24a StVG)

Ein Absehen vom gesetzlichen Regelfahrverbot nach den § 24a Abs. 1 (i. V. m. Abs. 3), § 25 Abs. 1 S. 2 StVG i. V. m. § 4 Abs. 3 BKatV kann nur in einem Härtefall ganz außergewöhnlicher Art in Betracht kommen oder dann, wenn wegen besonderer Umstände äußerer oder innerer Art das Tatgeschehen ausnahmsweise derart aus dem Rahmen einer typischen Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 1 StVG herausfällt, dass die Anordnung des Regelfahrverbots als offensichtlich unpassend anzusehen wäre (BayObLG 28.9.23, 202 ObOWi 780/23, Abruf-Nr. 238703).

AUSGABE: VA 3/2024, S. 52 · ID: 49877376

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