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UmsatzsteuerLieferungen einer Blindenwerkstätte ins EU-Ausland: Ist ein Vorsteuerabzug möglich?
| Das FG Niedersachsen hat über zwei konkurrierende Steuerbefreiungsvorschriften und deren Auswirkungen auf den Vorsteuerabzug entschieden. Betroffen waren die Lieferungen einer Blindenwerkstätte ins EU-Ausland. Mit dieser Entscheidung betrat das FG Neuland. Die für den Inhaber der Blindenwerkstätte günstige Rechtsansicht des FG zum Vorsteuerabzug ist jedoch nicht verallgemeinerungsfähig. SB zeigt, weshalb dies der Fall ist. |
Um diesen Fall ging es beim FG Niedersachsen
Der Inhaber einer anerkannten Blindenwerkstätte i. S. v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Blindenwarenvertriebsgesetzes in der bis zum 13.09.2007 geltenden Fassung stellte Blinden- und Zusatzwaren her und vertrieb diese im In- und EU-Ausland, hier vorrangig an seine in Österreich sitzende Tochtergesellschaft.
Seine inländischen Umsätze behandelte er als umsatzsteuerfrei nach § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG. Danach sind umsatzsteuerfrei die Umsätze von anerkannten Blindenwerkstätten und der anerkannten Zusammenschlüsse von Blindenwerkstätten für die Lieferungen von Blinden- und Zusatzwaren. Für seine diesbezüglichen Eingangsleistungen machte er keine Vorsteuer geltend. Die Lieferung an die österreichische Tochtergesellschaft erklärte der Inhaber als umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen und ordnete diese für Zwecke der Vorsteueraufteilung den Umsätzen zu, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen.
Das Finanzamt meinte, dass eine Vorsteuerabzugsberechtigung für die Lieferungen nach Österreich nicht bestehe.
FG bejaht Berechtigung um Vorsteuerabzug
Dies sieht das FG Niedersachsen (Urteil vom 14.11.2024, Az. 5 K 17/24, Abruf-Nr. 246327) anders. Das Finanzamt habe den Vorsteuerabzug zu Unrecht versagt.
Grundsatz: Wann der Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist
Das FG betrachtet dazu das (komplizierte) Normengeflecht. Ein Unternehmer kann nach § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 1 UStG die für bezogene Dienstleistungen und Waren (sog. Eingangsleistungen) gezahlte Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend machen. Ausgeschlossen ist der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UStG für Leistungen, die der Unternehmer für steuerfreie Umsätze verwendet. Hängen also die Eingangsleistungen mit steuerfreien (Ausgangs-)Umsätzen oder mit nicht vom Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer erfassten Umsätzen zusammen, kommt es nicht zum Vorsteuerabzug (EuGH, Urteil vom 08.09.2022, Rs. C-98/21, Finanzamt R, Abruf-Nr. 248771).
Sonderbestimmung für den innergemeinschaftlichen Lieferverkehr
Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG besteht für Eingangsleistungen ein Vorsteuerabzug, wenn sie für Zwecke bestimmter steuerfreier Umsätze verwendet werden. Zu diesen steuerfreien Umsätzen gehören die nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG i. V. m. § 6a UStG steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen von Gegenständen im Sinne der §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 UStG.
Zu dessen Auslegung hat der EuGH (Urteil vom 07.12.2006, Rs. C-240/05, Eurodental, Abruf-Nr. 248772) für die Anfertigung und Reparatur von Zahnersatz entschieden: Für Umsätze, die nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. e MwStSystRL innerhalb eines Mitgliedstaats von der Mehrwertsteuer befreit sind, besteht kein Recht auf Vorsteuerabzug, selbst wenn es sich um innergemeinschaftliche Umsätze handelt, d. h. dass für Lieferungen, die nach der MwStSystRL bzw. den diese umsetzenden nationalen Regelungen steuerbefreit sind, kein Vorsteuerabzug besteht. Die Regelungen zum steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferverkehr mit Vorsteuerabzug haben keinen Vorrang. Diese Auslegung ergibt sich – so der EuGH – aus dem Wortlaut der MwStSystRL. Außerdem verbiete der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Leistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.
Deshalb: Für umsatzsteuerbefreite Lieferungen kann kein Vorsteuerabzug geltend gemacht werden – auch bei Lieferung ins EU-Ausland. Nach Ansicht der Finanzverwaltung soll dies für alle Steuerbefreiungen nach §§ 4 Nr. 8 bis 29 UStG gelten. § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG greift nicht (Abschn. 4.19.2 Abs. 3 UStAE, Abschn. 6a.1 Abs. 2a UStAE und Abschn. 15.13 Abs. 5 UStAE). Folge: Aufgrund des Nachrangs der Bestimmungen zum innergemeinschaftlichen Lieferverkehr bestünde für den Inhaber trotz der Sonderbestimmung des § 15 Abs. 3 UStG keine Berechtigung zum Vorsteuerabzug.
Das FG vertritt hier aber eine differenziertere Auffassung: Die Umsätze der Blinden und Blindenwerkstätten sind unionsrechtlich nach der MwStSystRL an sich steuerpflichtig. Beim Tatbestand des § 4 Nr. 19 UStG handelt es sich um eine nicht harmonisierte innerstaatliche Regelung, sodass die Überlegungen des EuGH im Urteil vom 07.12.2006 auf den Fall hier nicht übertragbar sind. Die Regelung in § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG beruht auf der Ermächtigung in Art. 371 MwStSystRL, wonach Mitgliedstaaten, die am 01.01.1978 die in Anhang X Teil B MwStSystRL genannten Umsätze von der Steuer befreit haben, diese Umsätze unter gewissen Bedingungen weiter befreien dürfen. Deutschland gehört – anders als etwa Österreich – zu den Mitgliedstaaten, die die in § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG genannten Umsätze weiter von der Steuer befreien.
Im Ergebnis ist daher im konkreten Fall die echte Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG i. V. m. § 6a UStG, die den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG nicht ausschließt, vorrangig vor § 4 Nr. 19 Buchst. b anzuwenden. Andernfalls würde dies eine systemwidrige Mehrfachbelastung mit Umsatzsteuer über alle Wertschöpfungsstufen hinweg bedeuten.
Das letzte Wort hat in dem Sonderfall nun der BFH Praxistipp | Die Gründe des FG zeigen u. E., dass es sich hier um einen Ausnahmefall handeln dürfte und eine Abkehr von den herkömmlichen Grundsätzen nicht erwartbar ist. Die Bezugnahme auf das Urteil sollte daher sorgfältig geprüft werden. Der Fall ist beim BFH unter dem Az. XI R 33/24 anhängig. SB bleibt dran. |
AUSGABE: SB 8/2025, S. 158 · ID: 50462008