Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Feb. 2023 abgeschlossen.
UmsatzsteuerEuGH zur umsatzsteuerlichen Organschaft: Das „Aus“ der nicht steuerbaren Innenumsätze?
| In zwei Verfahren hat der EuGH auf Vorlagen des BFH zu zentralen Fragestellungen des deutschen Organschaftsrechts Stellung genommen. Dabei hat der EuGH – anders als die Schlussanträge der Generalanwältin dies vermuten ließen – das deutsche Organschaftsrecht nicht schlechthin verworfen. Gleichwohl enthalten die Aussagen erhebliches Konfliktpotenzial, insbesondere für nicht vorsteuerabzugsberechtigte Konzerne. SB zeigt, wie sich das Urteil auswirkt und das deutsche Recht zu reformieren ist. |
Das deutsche umsatzsteuerliche Organschaftsrecht
Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 UStG wird die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbstständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Das setzt nach ständiger Rechtsprechung des BFH voraus, dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft als „untergeordneter Person“ besteht.
- Unter der finanziellen Eingliederung einer juristischen Person ist der Besitz der entscheidenden Anteilsmehrheit an der Organgesellschaft zu verstehen. Diese ermöglicht es dem Organträger, durch Mehrheitsbeschlüsse seinen Willen in der Organgesellschaft durchzusetzen (Eingliederung mit Durchgriffsrechten, BFH, Urteil vom 02.12.2015, Az. V R 15/14, Abruf-Nr. 183312).
- Wirtschaftliche Eingliederung bedeutet, dass die Organgesellschaft nach dem Willen des Unternehmers im Rahmen des Gesamtunternehmens, und zwar in engem wirtschaftlichen Zusammenhang mit diesem, wirtschaftlich tätig ist (BFH, Urteil vom 22.06.1967, Az. V R 89/66). Für eine wirtschaftliche Eingliederung ist es charakteristisch, dass die Organgesellschaft im Gefüge des übergeordneten Organträgers als dessen Bestandteil erscheint.
- Eine organisatorische Eingliederung setzt nach der Rechtsprechung des BFH voraus, dass der Organträger die mit der finanziellen Eingliederung verbundene Möglichkeit der Beherrschung der Tochtergesellschaft in der laufenden Geschäftsführung wahrnimmt. Dabei muss er die Organgesellschaft durch die Art und Weise der Geschäftsführung beherrschen und seinen Willen bei der Organgesellschaft durchsetzen können (siehe auch BFH, Urteil vom 28.01.1999, Az. V R 32/98.... der einzige Steuerpflichtige des Organkreises
Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Organträger der einzige Steuerpflichtige und Vertreter des Organkreises. Er nimmt dann auch die umsatzsteuerlichen Pflichten gegenüber den Steuerbehörden wahr. Die Leistungen innerhalb des Organschaftsverbunds unterliegen nicht der Umsatzsteuer, sie sind nicht steuerbar. Organgesellschaften werden umsatzsteuerlich, quasi wie Betriebsstätten behandelt.
Beispiel |
Die Krankenhaus-GmbH ist Alleingesellschafterin einer GmbH, die für das Krankenhaus die Wäsche reinigt (Wäscherei-GmbH). Die Wäscherei-GmbH „fakturiert“ ihre Leistungen als nicht steuerbaren Innenumsatz ohne Umsatzsteuer. Ein Vorsteuerabzug auf die Eingangsleistungen der Wäscherei-GmbH besteht nicht, sofern die Krankenhausleistungen, für die die Wäsche gereinigt wird, nach § 4 Nr. 14b UStG umsatzsteuerfrei erbracht werden. |
Deutsches Umsatzsteuerrecht konform mit Unionsrecht?
Die beiden Urteile des EuGH vom 01.12.2022 (Rs. C-141/20, Abruf-Nr. 232748 Finanzamt Kiel gegen Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH und Rs. C 269/20, Abruf-Nr. 233285 Finanzamt T gegen S) basieren auf der älteren Grundlage der Sechsten Richtlinie 77/388 der EG. Diese war zum 01.01.2007 von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) abgelöst worden. Die Urteilsgründe sind auf die heutige Fassung der MwStSystRL übertragbar.
Inhalt des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie
Nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie kann jeder Mitgliedstaat mehrere Einheiten zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln, wenn sie im Gebiet dieses Mitgliedstaats ansässig sind, und zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Dieser Artikel macht seine Anwendung nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig. Er sieht für die Mitgliedstaaten auch nicht die Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern weitere Bedingungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe aufzubürden (Kommission/Schweden, EuGH, Urteil vom 25.04.2013, Rs. C‑480/10, Rz. 35, Abruf-Nr. 233331 und dort angeführte Rechtsprechung).
Die Umsetzung der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Regelung verlangt, dass es die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung gestattet, dass sich Einheiten, zwischen denen finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Verbindungen bestehen, zusammen als ein Steuerpflichtiger behandeln lassen können (und nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige). Somit können die untergeordnete Einheit oder die untergeordneten Einheiten im Sinne dieser Vorschrift nicht als Steuerpflichtiger oder Steuerpflichtige i. S. v. Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gelten, wenn ein Mitgliedstaat von dieser Bestimmung Gebrauch macht (Ampliscientifica und Amplifin, Rs. C‑162/07, Rz. 19, Abruf-Nr. 233332 und die dort angeführte Rechtsprechung)“.
Generalanwältin betonte EU-Rechtswidrigkeit der deutschen Organschaft
Mit den Schlussanträgen der zuständigen Generalanwältin beim EuGH zu den Rs. C-141/20 sowie C-269/20 wurde für Deutschland ein „umsatzsteuerlicher Paradigmenwechsel“ für das umsatzsteuerliche Organschaftsrecht befürchtet. Denn Generalanwältin Laila Medina ging davon aus, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegenstehe, wonach nur die herrschende Gesellschaft der Mehrwertsteuergruppe (Organträger) als der Steuerpflichtige angesehen werden kann, während die anderen Mitglieder der Gruppe nicht steuerpflichtig wären.
Eine Bestätigung durch den EuGH hätte dazu führen können, dass Umsatzsteuerrückzahlungen in Milliardenhöhe an die Unternehmen hätten erfolgen müssen. Die Nervosität war daher groß. Der Empfehlung der Generalanwältin hat der EuGH insofern widersprochen.
EuGH-Urteil offenbart Reformbedarf deutschen Rechts
Die EuGH-Äußerungen zu den weiteren Vorlagefragen (Voraussetzungen der finanziellen Eingliederung und der nichtsteuerbaren Innenumsätze) zeigen aber, dass das deutsche Organschaftsrecht reformiert werden muss.
Bestimmung des Organträgers als Steuerpflichtigen
Für beide Vorlageverfahren hat der EuGH bejaht, dass Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, anstelle einer Mehrwertsteuergruppe ein Mitglied der Gruppe (hier: den Organträger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen.
Entgegen der Ausführungen der Generalanwältin zu den Vorlageverfahren sieht der EuGH in der deutschen Regelung keinen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388. Diese sei dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen. Vorausgesetzt dieser ist in der Lage, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und vorausgesetzt, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
Da die Organgesellschaften über § 73 AO für ihre Umsatzsteuerschulden und ggf. für solche Steuern der anderen Mitglieder der Gruppe, der sie angehören, einschl. des Organträgers haften, drohen keine Steuerausfälle für den Fiskus. Auch kann der Organträger aufgrund der erforderlichen Eingliederung nach deutschem Recht seinen Willen in den Organgesellschaften durchsetzen. Daher ist es nach Ansicht des EuGH möglich, ein Mitglied des Organkreises, also den Organträger, als Steuerschuldner für die Umsatzsteuern des gesamten Organkreises zu bestimmen.
Fortführung des Beispiels |
Die Krankenhaus-GmbH ist Steuerschuldnerin der Umsatzsteuer auch der Wäscherei-GmbH. Sämtliche mehrwertsteuerlichen Pflichten lasten damit auf dem Organträger als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe vor den Finanzbehörden. |
Finanzielle Eingliederung
Auch wenn das deutsche Organschaftsrecht im Grundsatz bestätigt wird, beurteilt der EuGH das deutsche Verständnis zur finanziellen Eingliederung als zu restriktiv. Die deutsche Rechtspraxis erfordere eine doppelte Mehrheit von Anteilen und Stimmrechten. Entsprechen die Beteiligungsverhältnisse
- den Stimmrechtsverhältnissen, ist die finanzielle Eingliederung nach Abschn. 2.8 Abs. 5 S. 2 UStAE gegeben, wenn die Beteiligung mehr als 50 Prozent beträgt, sofern keine höhere qualifizierte Mehrheit für die Beschlussfassung in der Organgesellschaft erforderlich ist (BFH, Urteil vom 01.12.2010, Az. XI R 43/08, Abruf-Nr. 111202);
- nicht den Stimmrechtsrechtsverhältnissen, etwa bei der Einräumung von Mehrfachstimmrechten, kam es bislang auf die Stimmrechtsverhältnisse an. Denn nur so kann – nach deutschem Verständnis – der Organträger seinen Willen in den Tochtergesellschaften umsetzen.
Nach Ansicht des EuGH erfordert die Bekämpfung von Steuerhinterziehung oder -umgehung eine derartige Interpretation jedoch nicht. Die zusätzliche bzw. maßgebende Voraussetzung der Stimmenmehrheit neben der Mehrheitsbeteiligung bei der finanziellen Eingliederung stehe daher nicht in Einklang mit dem EU-Recht. Demzufolge könnte eine finanzielle Eingliederung bereits dann gegeben sein, wenn der Organträger Mehrheitsgesellschafter ist, aber nicht über die Mehrheit der Stimmen verfügt.
Der EuGH lässt offen, inwieweit sich diese Feststellung allerdings mit seiner gleichzeitigen Forderung verträgt, dass der Organträger in der Lage sein muss, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe durchzusetzen.
Wichtig | Aus dem Urteil folgt: Die Finanzverwaltung muss jedenfalls die bisherige Meinung zur finanziellen Eingliederung in Abschn. 2.8 Abs. 5 S. 2 UStAE überarbeiten.
Weiter hat der EuGH klargestellt, dass das vom deutschen Gesetzgeber geforderte Über- und Unterordnungsverhältnis nicht dem EU-Recht entspricht. Vielmehr muss grundsätzlich auch eine Organschaft zwischen Schwestergesellschaften, d. h. ohne „Umweg“ über den übergeordneten Gesellschafter möglich sein.
Innenumsätze
Für nicht vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmen könnten die Feststellungen des EuGH zur (Un)Selbstständigkeit der Organgesellschaften erhebliche Konsequenzen haben. Im deutschen Steuerrecht gelten die Organgesellschaften steuerlich als unselbstständig.
Nach der Vorstellung des EuGH soll für jedes Gruppenmitglied, also für jede Organgesellschaft, auch bei Einbezug in eine Mehrwertsteuergruppe geprüft werden, ob dieses Mitglied selbstständig tätig ist. Das beurteilt sich danach, ob es seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung, in eigener Verantwortung ausübt und das mit der Ausübung dieser Tätigkeit einhergehende wirtschaftliche Risiko trage. Mitglieder seien nicht allein im Wege der Typisierung aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe als „nicht selbstständig“ einzustufen.
Für das Eingangsbeispiel könnte dies Konsequenzen haben:
Fortführung des Beispiels |
Wäscherei-GmbH könnte künftig als selbstständigbehandelt werden ... Die Wäscherei-GmbH könnte künftig trotz Zugehörigkeit zum Organkreis als selbstständig gelten. Dies hätte zur Konsequenz, dass die GmbH gegenüber dem Organträger die Leistungen mit Umsatzsteuer fakturieren muss, der Organträger aus diesen Eingangsleistungen aber keinen Vorsteuerabzug hat. Zwar hat die Organgesellschaft für ihre Eingangsleistungen einen Vorsteuerabzug. Dieser hat aber nur teilweise neutralisierende Funktion. Insbesondere für Bereiche mit besonders hohem Personalanteil – wie etwa im Bereich der Reinigungsdienste – wäre in der Gesamtbetrachtung mit einer erheblichen Verteuerung zu rechnen. ... mit entsprechend eingeschränktem Vorsteuerabzug Wichtig | Die teilweise vertretende Auffassung, dass es sich hierbei nur um ein künstliches Aufblähen von sich im Ergebnis neutralisierenden Eingangs- und Ausgangsumsätzen handle, kann daher nicht geteilt werden. Eine Abkehr von den nationalen Grundsätzen würde daher erheblichen Einfluss auf die konzerninternen Verrechnungspreise derjenigen Unternehmen haben, die umsatzsteuerfreie Leistungen erbringen. |
Wie reagieren BFH und Finanzverwaltung?
Auch wenn der EuGH der Auffassung der Generalanwältin, dass das nationale Recht und hier insbesondere die Regelung zur Bestimmung des Organträgers gegen EU-Recht verstößt, eine Absage erteilt hat, wird das deutsche Organschaftsrecht gleichwohl insgesamt zu überprüfen sein.
Allem voran wird mit Spannung erwartet, wie der BFH in den bislang aufgrund der Vorlageverfahren ausgesetzten Verfahren entscheiden wird. Die Vorgaben des EuGH sind für ihn bindend, sodass mit gravierenden grundsätzlichen Abweichungen nicht zu rechnen ist. Zu hoffen bleibt aber, dass der BFH in der Interpretation der EuGH-Urteile wichtige und insbesondere hilfreiche Hinweise geben wird, z. B. ob und unter welchen Voraussetzungen nicht steuerbare Innenumsätze möglich bleiben. Ebenso bleibt abzuwarten, wie Gesetzgeber und Finanzverwaltung auf die neuen Aspekte reagieren.
Aus den Entscheidungen des EuGH hat sich bereits jetzt herauskristallisiert, dass die Idealvorstellung nach dem EU-Verständnis die Mehrwertsteuergruppe mit eigener und für die Gruppe einzigen Steuernummer ist. Dem steht die deutsche Praxis mit eigenen USt-IDNr. (Umsatzsteueridentifikationsnummern) der Organgesellschaften entgehen. Auch die Abgabe von Zusammenfassenden Meldungen (ZM) werden anzupassen sein. Da dem Organkreis nur eine USt-IDNr. zu erteilen ist, kann auch nur eine ZM abgegeben werden. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
AUSGABE: SB 2/2023, S. 31 · ID: 49017227