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AbstammungsrechtDrei Eltern und ein Kind

Abo-Inhalt22.05.2024369 Min. LesedauerVon RA Dr. Marko Oldenburger, FA Familienrecht, FA Medizinrecht (Hamburg), Mitglied Gesetzgebungsausschuss FamR im DAV (Berlin)

| Das BVerfG hat entschieden, dass § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 S. 1 BGB mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar ist. Bis zum 30.6.25 muss der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Regelung einführen. Es ging darum, ob ein leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater trotz einer sozial-familiären Beziehung des Kindes zu (s)einem rechtlichen Vater zur Elternstelle werden kann. |

Sachverhalt

Eine Mutter M wurde von ihrem Lebensgefährten V schwanger. Nach der Geburt des Kindes K trennten sie sich. K blieb bei der M. Der V beantragte, seine Vaterschaft festzustellen, da die M dieser nicht zugestimmt hatte. Einen Monat danach erkannte der neue Lebensgefährte der M (L) mit ihrer Zustimmung die Vaterschaft für K an. Das FamG beseitigte aufgrund eines genetischen Abstammungsgutachtens die Vaterschaft des L und stellte die Vaterschaft des V fest (AG Halle Beck RS 2021, 61917). Die dagegen eingelegte Beschwerde von M und L war erfolgreich (OLG Naumburg NZFam 23, 664). Auf die Verfassungsbeschwerde des V hob das BVerfG die Entscheidung des OLG auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung über den Anfechtungsantrag zurück (BVerfG 9.4.24, 1 BvR 2017/21, Abruf-Nr. 241007).

Entscheidungsgründe

Aus fachrechtlicher Sicht kann nicht rückwirkend bewertet werden, ob eine sozial-familiäre Beziehung zum rechtlichen Vater besteht.

§ 1600 Abs. 2, 3 BGB sieht nicht vor, die Bemühungen des leiblichen Vaters, ebenfalls Elternverantwortung zu tragen, einzubeziehen. Dieser kann ohne fremde Hilfe nicht in eine rechtliche Elternstelle gelangen. Es ist zwar denkbar, dass eine sozial-familiäre Beziehung zu einem nur rechtlichen Vater schützenswert ist und der Gesetzgeber diese insoweit dem leiblichen Vater vorziehen kann. Die aktuelle Rechtslage stellt dem leiblichen Vater aber kein effektives Verfahren zur Verfügung, Elternstelle zu werden. Insbesondere werden im Anfechtungsverfahren weder eigene sozial-familiäre Beziehungen noch Bemühungen des leiblichen Vaters, Elternverantwortung zu tragen, berücksichtigt. Entfällt die sozial-familiäre Beziehung zum rechtlichen Vater später, kann er auch dann nicht die rechtliche Elternstellung erlangen. Dem leiblichen Vater muss es deshalb ermöglicht werden, die Voraussetzungen des § 1600 Abs. 2 Alt. 1 BGB zu beeinflussen und damit das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG mit der Elternverantwortung zu harmonisieren und zu installieren.

Elternschaft kann nicht von Zufällen und zeitlichen Abläufen abhängen. Sie kann auch nicht allein dem Willen der Mutter unterfallen. Mit jedem gesetzlich möglichen Wettlauf um die rechtliche Vaterstellung verletzt der Gesetzgeber seine Pflicht, das Abstammungsrecht verfassungskonform auszugestalten.

Es ist nicht zu beanstanden, dass im herkömmlichen Sinn leibliche Eltern auch rechtliche Eltern i. S. v. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG werden. Gemeint sind Mann und Frau, die das Kind durch Geschlechtsverkehr mit ihren Keimzellen gezeugt haben, wenn die Frau anschließend das Kind geboren hat. Damit verbunden ist die Annahme, dass diese Personen von Natur aus bereit und berufen sind, die Verantwortung für die Pflege und Erziehung des Kindes zu übernehmen. Jeder leibliche, d. h. genetisch oder biologische, Elternteil wird damit vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG erfasst. Leibliche Väter sind also neben rechtlichen Vätern Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.

Das Elterngrundrecht ist ohne eine Verantwortungsübernahme der Eltern nicht möglich. Davon zu unterscheiden sind Ausübungsrechte im Verhältnis zum und im Umgang mit dem Kind, etwa Sorge- und Umgangsrechte aus §§ 1626, 1684 BGB. Die Verantwortungsübernahme beinhaltet, dafür zu sorgen, dass es dem Kind physisch, psychisch und wirtschaftlich gut geht. Es ist dafür zu sorgen, dass das Kind sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft als Ausfluss des Rechts des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit entwickeln kann. Diese Verantwortungsübernahme ist unabhängig davon, ob die Elternstellung auf Abstammung oder auf einer fachrechtlich begründeten Zuordnung beruht. Ein leiblicher Elternteil, der elterliche Verantwortung tragen will, wird, auch wenn diese noch nicht ausgeübt worden ist oder werden konnte, damit als Träger des Elterngrundrechts angesehen. Diese Grundrechtsposition besteht auch, wenn bereits zwei andere Personen Elternschaft erlangt haben, z. B. die Mutter und der mit ihrer Zustimmung eingesetzte Vater (§ 1592 Nr. 2, § 1595 Abs. 1 BGB). Das bedeutet, dass auch drei Personen Elternschaft innehaben können, die sich in der Ausgestaltung einschließlich der elterlichen Verantwortung unterscheiden können.

Der Gesetzgeber muss gewährleisten, dass leibliche Väter ihre Elternverantwortung auch wahrnehmen können. Ihm steht es frei, neben dem rechtlichen auch den leiblichen Vater als Elternstelle zu bestimmen. Denn den Begriff Eltern definiert Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht. Deshalb muss der Gesetzgeber bestimmen, wer Träger des Elterngrundrechts sein soll. Neben der Eigenschaft, als Elternstelle überhaupt Grundrechtsträger zu sein, folgt aus der Verpflichtung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, die Verantwortung in einem weiteren Rechtsakt auf die Eltern als Grundrechtsträger zu übertragen. Der Gesetzgeber kann insoweit bei der statusrechtlichen Zuordnung rechtliche, biologische und soziale Tatsachen unterschiedlich gewichten, wenn Elternschaft begründet wird. Er darf allerdings nicht von vornherein Bemühungen des leiblichen Vaters, Elternverantwortung zu übernehmen, und möglicherweise sogar eine sozial-familiäre Beziehung zum Kind unberücksichtigt lassen (Rn. 91). Der leibliche Vater muss daher gem. Art. 6 Abs. 1 GG beim Aufbau und Erhalt einer Beziehung zu seinem Kind geschützt werden, und zwar auch, wenn ihm die gewollte Verantwortungsübernahme für das Kind unmöglich gemacht wird. Erhält der leibliche Vater selbst keine Möglichkeiten, sein Elterngrundrecht zu bekommen und damit Elternverantwortung zu übernehmen, liegt kein angemessener Ausgleich zwischen den gesetzgeberisch verfolgten Zwecken des auch am Kindeswohl orientierten Schutzes der Familie und dem Elterngrundrecht des leiblichen Vaters vor (Rn. 93).

Relevanz für die Praxis

Die zweite Elternstelle – derzeit nur Vater, künftig auch Mutter – wird entweder durch die Ehe mit der Mutter, gerichtliche Feststellung aufgrund genetischer Abstammung oder durch Anerkennungserklärung, der die Mutter zustimmen muss, begründet, § 1592 BGB. Besteht eine Vaterschaft nach Nrn. 1 und 2, muss diese angefochten werden, wenn ein anderer Mann diese für sich beansprucht. Der Anfechtende muss genetisch mit dem Kind verwandt sein. Eine Vaterschaft durch Anerkennung oder Ehe ist an keinerlei weitere Bedingungen geknüpft. Eine erweiterte Vaterschaft von zwei Personen (neben der Mutter) gibt es bislang nicht, sondern nur eine Zwei-Elternschaft.

Eine Anfechtung durch den leiblichen Vater ist gem. § 1600 Abs. 2 BGB nur möglich, wenn zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Diese wird als tatsächliche Verantwortungsübernahme bei einer Ehe oder häuslichen Gemeinschaft unterstellt. Bisher wurde Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht entnommen, dass sich die leibliche stets gegenüber der rechtlichen Elternschaft durchsetzen muss. Der rechtliche Vater wurde nicht aus seiner Vaterposition verdrängt (BVerfG NJW 03, 2151, 2154). Dass der Gesetzgeber mit § 1600 Abs. 2, 3 BGB dem rechtlichen, nicht leiblichen, Vater bei bestehender sozial-familiärer Beziehung aber sogar einen Vorrang eingeräumt hat, akzeptierte das BVerfG seinerzeit nur unter Hinweis darauf, dass mit einer sonst eintretenden rechtlichen Neuzuordnung der Zusammenhalt des Familienverbands, in dem das Kind lebt, beeinträchtigt würde, wenn die Rechtsbeziehungen seiner Mitglieder aufgelöst würden. Da rechtliche Zuordnung und sozial-familiäre Beziehung divergieren, könnten Konflikte entstehen, die eine Erziehung des Kindes zu seinem Wohl gefährden und dem Kind die Orientierung erschweren, zu wem es gehört (BVerfG NJW 03, 2151, 2155).

Das hält das BVerfG nicht mehr aufrecht, sondern stärkt die Position des leiblichen Vaters, rechtliche Elternstelle zu werden: Der Gesetzgeber kann nun den leiblichen Vater neben dem rechtlichen Vater als weitere Elternstelle anerkennen, was der Justizminister Buschmann aber bereits abgelehnt hat. Daher muss dem leiblichen Vater ein effektives Verfahren zur Verfügung gestellt werden, um seine rechtliche Elternschaft zu erlangen. Im Zweifel ist nun der leibliche Elternteil vorrangig vor dem rechtlichen. Bei vergleichbarer Verantwortungsübernahme ist die nur rechtliche Vaterschaft zugunsten der leiblichen zu verändern. Das stellt einen Paradigmenwechsel in der Statuszuordnung dar. Der Gesetzgeber muss diesen Vorgaben entsprechen.

Darüber hinaus muss er bei zunächst fehlenden ausreichenden Bemühungen einer Verantwortungsübernahme des leiblichen Vaters sicherstellen, dass der leibliche Vater in seine Elternposition gelangen kann, wenn dieser nachfolgend Verantwortung reklamiert (oder ausübt) und später die sozial-familiäre Beziehung zum rechtlichen Vater wegfallen sollte.

Aus Perspektive des Kindes dürfte daher alles für eine erweiterte Elternschaft sprechen, auch, um die statusrechtliche Zuordnung zum rechtlichen Vater neben die seines leiblichen Vaters zu stellen und Kompetenzstreitigkeiten auf der fachrechtlichen Ebene des Sorgerechts zu klären.

Übersicht / Folgen aus BVerfG (9.4.24, 1 BvR 2017/21)

  • Wer Eltern eines Kindes sein soll, bestimmt der Gesetzgeber in Ausgestaltung des Auftrags über Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.
  • Elternstellen können auch rein rechtlich installiert werden.
  • Leibliche Elternstellen sind Grundrechtsträger. Diese Position ist unabhängig von der rechtlichen Zuordnung, einschließlich der damit in Verbindung stehenden Verantwortungsübernahme.
  • Eltern, die keine Verantwortung tragen können oder wollen, scheiden als Grundrechtsträger aus, z. B. Eizellspenderinnen, Samenspender und Leihmütter.
  • Ideal ist, wenn rechtliche und leibliche Elternschaft übereinstimmt. Fällt dies auseinander, kann es verfassungsrechtlich drei, ggf. vier Elternstellen geben.
  • Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, mehr als zwei Elternstellen einzurichten.
  • Elternverantwortung ist Bestandteil der Grundrechtsträgereigenschaft, elterliche Verantwortung i. S. v. Sorgerecht dagegen fachgerichtliche Ausgestaltung von Ausübungskompetenzen. Statusrechtliche Elternschaft fällt damit nicht sogleich zusammen mit fachrechtlicher Sorgekompetenz. Idealtypisch fallen alle drei Komponenten zusammen. Denkbar ist aber auch, dass der Status bei aktuell ein bis vielleicht maximal vier Personen liegen kann, die nachrangigen sorgerechtlichen Kompetenzen ebenfalls zwischen einer und dann maximal vier Personen in abgestufter Art und Weise ausgestaltet werden könnten.
  • Wird eine Zwei-Elternschaft aufrechterhalten, gilt: Aufgrund der Grundrechtsträgereigenschaft auch zumindest des leiblichen Elternteils führt dies dazu, dass die rechtliche Elternstellung des leiblichen Elternteils erlangt werden muss, wenn die typisierende Schutzannahme einer sozial-familiären Beziehung entfällt. Gleichermaßen ist die leibliche Elternschaft bei ausreichendem Bemühen, auch rechtlich Verantwortung zu tragen, Anlass, eine nur rechtliche Elternschaft i. V. m. einer sozial-familiären Beziehung statusrechtlich aufzulösen.

Das BMJV hat im Eckpunktepapier zur Reform des Abstammungsrechts vorgeschlagen, nach Einleitung eines Feststellungsverfahrens (§ 1600d BGB) keine Vaterschaft mehr anzuerkennen. Dies erscheint im Lichte der BVerfG-Entscheidung bedenklich: Dem Kind ggf. über Jahre eine zweite Elternstelle vorzuenthalten, steht seinen Interessen entgegen. Denkbare Optionen sind in den Entscheidungsgründen für den Gesetzgeber dargelegt, wie z. B. eine Mehrelternschaft oder ein Zustimmungsvorbehalt des leiblichen Vaters bei der Anerkennung oder ein genereller abstammungsrechtlicher Vorrang des leiblichen Vaters (außerhalb des Sorgerechts), d. h., §§ 1600 Abs. 2, 3 BGB werden aufgehoben.

Praxistipp | Bis dahin sind in neuen oder anhängigen Anfechtungsverfahren Aussetzungsanträge zu stellen.

AUSGABE: FK 6/2024, S. 95 · ID: 49996811

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