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Rechtliches GehörNicht eingeholtes Sachverständigengutachten stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar
| Das OLG Hamm hat entschieden, dass es einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, wenn das Gericht ein von Amts wegen einzuholendes Sachverständigengutachten nicht einholt. Der Beitrag zeigt, welche Konsequenzen diese Entscheidung hat. |
Sachverhalt
Abruf-Nr. 238608
Die Eltern M und V streiten darum, dass die Umgangskontakte des V mit dem gemeinsamen schwerbehinderten Sohn S ausgeweitet werden. Das Familiengericht hat einen Beweisbeschluss erlassen, um u. a. körperliche und seelische Risiken für S beim Umgang sowie pflegerische Maßnahmen für diesen zu klären. Der Sachverständige hat nur zu pflegerischen Maßnahmen Stellung genommen. Zuvor nahm die Richterin telefonischen Kontakt zur Kinderärztin von S auf und fertigte hierzu einen Vermerk. Ferner hat sie einen Umgangskontakt von S mit V in dessen Haushalt begleitet und anschließend den Haushalt der M aufgesucht, in den S gerade zurückgekehrt war. Dabei hat sie versucht, über ein von S genutztes Kommunikationsgerät Ja-Nein-Antworten auf Fragen von S zu erhalten. Nach erneuter Anhörung der Beteiligten hat das AG mit Beschluss ein 14-tägiges Umgangsrecht des V mit S bestimmt. Die Beschwerde der M führt zur Aufhebung und Zurückverweisung (OLG Hamm 17.10.23, 4 UF 89/23, Abruf-Nr. 238608).
Entscheidungsgründe
Nach § 69 Abs. 1 S. 2, 3 FamFG darf das Beschwerdegericht den angefochtenen Beschluss aufheben und auf Antrag an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückverweisen, soweit das Verfahren im ersten Rechtszug an einem wesentlichen Mangel leidet aufgrund dessen eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist.
Das Gericht hat nicht durch ein Sachverständigengutachten geklärt, ob die angestrebte Ausweitung des Umgangs mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
Ein Verfahrensmangel ist wesentlich, wenn der Mangel so erheblich ist, dass keine ordnungsgemäße Grundlage für eine die Instanz beendende Entscheidung vorliegt (BGH NJW-RR 15, 323 Rn. 17). Holt das Gericht ein von Amts wegen einzuholendes Sachverständigengutachten nicht ein, erschöpft es die Beweismittel nicht und verstößt gegen die Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren, Art. 103 Abs. 1 GG. Dies ist ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. d. § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG (OLG Naumburg FamRZ 14, 1884, 1885).
Hier war die Beweisaufnahme dazu erforderlich, zu klären, ob es mit dem Kindeswohl vereinbar ist, wenn V den Umgangs ausweitet. Dazu ist keine Beweisaufnahme erfolgt. Das Gutachten des Sachverständigen äußert sich dazu nicht. Das Telefonat der Richterin mit der Kinderärztin ist keine ordnungsgemäße Beweisaufnahme, da die Frage durch einen Kinder- und Jugendpsychologen zu klären wäre. Auch die Begleitung des Umgangskontakts durch die nicht psychologisch vorgebildete Richterin kann es nicht ersetzen, die Beweisfrage sachverständig zu klären.
Aufgrund dieses Mangels ist zudem eine umfangreiche Beweisaufnahme durch das Beschwerdegericht erforderlich. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn ein schriftliches Sachverständigengutachten geboten ist (OLG Hamm FamRZ 16, 1289). Bei der Prüfung, ob eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme erforderlich ist, ist dem Beschwerdegericht ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen (Sternal/Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 69 Rn. 25). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es erforderlich ist, sowohl medizinische als auch psychiatrische Gutachten einzuholen. Denn bei der Kindeswohlprüfung wird ggf. auch zu prüfen sein, wie die pflegerische Versorgung durch den V sich auf S sowohl psychisch als auch gesundheitlich auswirkt.
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung wirkt sich in zeitlicher und kostenmäßiger Hinsicht aus. Zwar können die Beteiligten den Rechtsstreit über zwei volle Tatsacheninstanzen führen. Die Aufhebung und Zurückverweisung verzögert und verteuert allerdings auch das Verfahren.
Das Gericht ist in Sorge- und Umgangssachen nicht stets gehalten gem. § 30 FamFG eine förmliche Beweisaufnahme durchzuführen und ein Sachverständigengutachten einzuholen. Wenn das Gericht davon absieht, ein Sachverständigengutachten einzuholen, muss es aber anderweitig über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfG BeckRS 2006, 21820). Im Hauptsacheverfahren ist insbesondere i. d. R. ein Gutachten erforderlich, wenn psychiatrische oder sonst medizinische Besonderheiten gegeben sind, die sich auf das Kindeswohl auswirken können. Darauf sollten die Anwälte bereits in der ersten Instanz hinweisen. Folge: Die Familiengerichte müssen es besonders begründen, wenn sie davon absehen, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Mit anderen Worten: Die Gerichte müssen begründen, warum sie über eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen.
Wenn das Familiengericht ein Sachverständigengutachten einholt, sollten die Anwälte darauf dringen, dass die vom Gericht zur Begutachtung zu setzende Frist eingehalten wird, § 30 Abs. 1 FamFG i. V. m. § 411 Abs. 1 ZPO. In der Praxis wird häufig entgegen der Sollregelung des § 411 Abs. 2 ZPO bei Fristüberschreitung nicht direkt ein Ordnungsgeld angedroht und eine Nachfrist gesetzt.
Merke | Fristüberschreitungen sind insbesondere in Kindschaftssachen kritisch. Bei einer Fremdunterbringung des Kindes kann sich z. B. dessen Entfremdung von den Eltern verfestigen, weil sich die Kinder an einen Wechsel des ständigen Aufenthalts gewöhnt haben. Die Anwälte sollten daher beim Familiengericht darauf dringen, dass § 411 Abs. 2 ZPO konsequent angewendet wird. |
AUSGABE: FK 3/2024, S. 48 · ID: 49827596