FeedbackAbschluss-Umfrage
CBChefärzteBrief

PatientenversorgungRassismus in der Medizin: Strukturreformen statt erhobener Zeigefinger gefragt

Abo-Inhalt20.01.20231949 Min. LesedauerVon Alexandra Buba M. A., Wirtschaftsjournalistin, Fuchsmühl

| Zuletzt tauchte das Thema „Rassismus in der Medizin“ immer wieder in der Fach- und Publikumspresse auf. Das signalisiert ein wachsendes Bewusstsein für ein Problem, das vor allem auf der strukturellen Ebene wirkt – und nicht vorrangig in Form von extremen Einzelfällen existiert. |

Wer darf aus welcher Perspektive sprechen ...?

Über Rassismus sprechen oder schreiben ohne Klärung der eigenen Zugehörigkeit geht – zumindest momentan – kaum. Viele aus der älteren Generation unterstellen der jüngeren gern ein Zuviel an Wokeness (= Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus). Und viele aus der jüngeren Generation heben sofort die Hand, wenn eine privilegierte weiße Frau über die strukturelle Benachteiligung etwa von People of Colour schreibt. Diese wiederum vermuten Rassismus bei derselben Schreibenden, wenn diese den Begriff „Rasse“ kritisch sieht, da dieser ja letztlich für die Diskriminierung über Jahrhunderte maßgeblich war. Sie bezeichnen sich als „BIPoC” – Black, Indigenous and People of Color – im Sinne einer positiv besetzten, politischen Selbstbezeichnung als rassistisch diskriminierte Personen. Das ist nicht nur anstrengend, sondern erschwert auch die sachliche faktenbasierte Auseinandersetzung mit dem Thema.

... und forschen?

„Wir geraten alle schnell in komplexe Dilemmata“, sagt Univ.-Prof. Dr. phil. Ulrike Kluge. Sie leitet das Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie (ZIPP) und die AG Transkulturelle Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Was für die Gesellschaft im Allgemeinen, für Behandelnde und Behandelte gilt, spiegele sich auch in der Gesundheitsversorgung und der Forschung wider. „Natürlich brauchen wir in Deutschland mehr Forschung zu dem Thema, aber wir müssen auch fragen: Wer forscht zu welchen Inhalten mit welcher Brille?“ Viel Grundlegendes sei nach wie vor ungeklärt, so Kluge. Zum Beispiel, wie wir die verschiedenen rassifizierten Gruppen definieren und worin sich diese Gruppen in der Forschung zum Beispiel von Menschen mit Migrationshintergrund unterscheiden. Das macht Messungen und Quantifizierungen schwierig. Sie rät daher dazu, dass das, was bislang als gesicherte Forschung angesehen werde, vielmehr als begründete Hypothesen zu lesen und mit Zahlen und vermeintlich Faktischem vorsichtig umzugehen.

„Lassen Sie jemand anrufen, der Deutsch spricht!“

In der medizinischen und therapeutischen Praxis spielen diese Dinge erst einmal keine Rolle, nämlich insbesondere dann nicht, wenn im übervollen Alltag das Telefon klingelt und Mitarbeitende wenig Zeit und Lust haben, sich mit der nur gebrochen Deutsch sprechenden Person am anderen Ende der Leitung über Symptome, Dringlichkeit und Versicherungsfragen zu unterhalten. Die Folge ist dann gelegentlich schlichtweg kein Termin. Falls doch, kann es im Behandlungszimmer mit „einem liebevollen Wuscheln im lustigen Lockenschöpfchen“ weitergehen, sagt der Münchener Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Dr. Mathias Wendeborn, „das ist nicht böse gemeint – im Gegenteil – und kann doch tief verletzen.“

Um dieses Bewusstsein bei seinen Kolleginnen und Kollegen zu wecken, hat er vor einiger Zeit einen Artikel im Bayerischen Ärzteblatt veröffentlicht. Wendeborn weiß, wovon er spricht, er hat mit Beginn der großen Fluchtbewegung 2014 den Verein „refudocs e. V.“ (refudocs.de) ins Leben gerufen, um eine erste Versorgung der Geflüchteten sicherzustellen. Er richtete damals gemeinsam mit anderen Medizinerinnen und Medizinern Pop-up-Sprechzimmer in den großen Gemeinschaftsunterkünften ein, heute kümmert sich der Verein unter anderem um Ukrainerinnen und Ukrainer und afghanische Ortskräfte, die zwar sofort Anspruch auf eine Krankenkassenkarte haben – darauf aber manchmal wochenlang warten und in dieser Zeit wieder durchs Raster fallen.

Echte Erfahrung oder Zuschreibung?

Durch die Vereinsarbeit hat er im Laufe der Jahre zahlreiche Geflüchtete selbst behandelt, war an bürokratischen Stellen mit unterschiedlichen Haltungen konfrontiert und hat nicht zuletzt eine Menge kultureller Unterschiede selbst kennengelernt. „Die gibt es ja zweifelsohne, die Frage ist immer nur, wo beginnt die rassistische Zuschreibung?“, sagt der Arzt. Im Umgang mit Behandelten hält er vor allem eine stete Frage für hilfreich: „Unterstelle ich das jetzt oder fußt es auf meinen echten Erfahrungen?“

Seiner Meinung nach fehle es der Mehrheitsgesellschaft zudem schlicht an Erfahrung des am eigenen Leibe erlebten Rassismus. „Dadurch ist das Bewusstsein dafür so wenig ausgeprägt. Wenn Sie als weißer Mann in die U-Bahn einsteigen, werden Sie in der Regel nicht beobachten, wie die anderen ihre Handtaschen näher an sich heranziehen“, sagt er. Deshalb komme der Selbstreflexion der Ärztinnen und Therapeuten diese bedeutsame Rolle zu.

Sichtweise der betroffenen Behandelten

Die gesamte Forschung in Deutschland dazu steht theoretisch und empirisch noch am Anfang. Zwei aktuelle Forschungsprojekte führen gerade Dr. Hans Vogt und Tanja Gangarova am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung e. V. (DeZIM) in Berlin (dezim-institut.de) durch. „Unsere Projekte versuchen, sich den verschiedenen Perspektiven von betroffenen Patienten beziehungsweise Ausbildung und Perspektive von betroffenen Studierenden und Ärzte anzunähern“, so Dr. Vogt. Im Mittelpunkt des ersten Projekts stehen Erfahrungen schwarzer, afrikanischer und als Muslime markierter Menschen, das zweite behandelt die Frage, inwieweit Rassismus ein Thema in der medizinischen Ausbildung ist.

Erste Zwischenergebnisse signalisieren bereits eine Bestätigung bekannter Phänomene, insbesondere im Hinblick auf die unterstellte übersteigerte oder reduzierte Schmerzempfindlichkeit der Angehörigen der beiden Gruppen. „Unsere Befragungen haben immer wiederkehrende Muster ergeben, die nahelegen, dass rassistische Verhaltensweisen keine Einzelfälle sind. Das hat verschiedene Ursachen und kann sowohl bewusst als auch unbewusst passieren“, erklärt Tanja Gangarova.

Dr. Hans Vogt verweist darauf, dass es in Deutschland nach wie vor keine repräsentativen Zahlen dazu gebe, man nur auf internationale Studien blicken könne, wenn man die Verbreitung rassistisch geprägter Phänomene einschätzen wolle. Sichtbar werde aber in seiner Arbeit gerade, dass die medizinische Ausbildung die Stereotype nicht etwa aktiv thematisiere, sondern eher noch weiter verfestige. Dazu hat er unter anderem Lehrbücher analysiert, aber auch gemeinsam mit Felicia Lazaridou (NaDiRa) rassifizierte oder von Rassismus betroffene Studierende und Ärzte befragt. „Allerdings beginnt sich das langsam zu ändern, es gibt erste Bemühungen an den medizinischen Fakultäten in Köln, Oldenburg, Göttingen und Berlin, die sich des Themas annehmen“, so Vogt, „in der Mitte der Medizin ist Rassismus aber nach wie vor kein Thema.“

Unendliche Nächstenliebe und grenzenloser Rassismus

Es passe schlichtweg so ganz und gar nicht ins Selbstbild der Care-Berufe, zur grenzenlosen Nächstenliebe, selbst rassistische Denk- und Handlungsweisen zu verwirklichen, so Vogt. Das sieht auch Kinder- und Jugendarzt Wendeborn so und weiß: „Wir alle sind mit diesen Dingen aufgewachsen, im Schulatlas waren da, wo Afrika liegt, eben kleine Giraffen, Elefanten und Löwen.“

Der Lösungsansatz liege aber nicht nur auf der Ebene der interpersonellen Kommunikation, so Wissenschaftlerin Gangarova. Ihrer Ansicht nach spielt auch die Ökonomisierung des Gesundheitssystems eine große Rolle, die bislang noch nicht ausreichend erforscht sei. Und Wendeborn erklärt: „Wo keine Zeit ist, Quantität und nicht Qualität honoriert wird und pro Behandeltem acht Minuten reichen müssen, ist ein Nicht-Muttersprachler einfach nur kompliziert und unrentabel.“

Einig ist Wendeborn mit Gangarova auch im Bezug auf das Thema Bürokratie: Diese führe zur Nichtversorgung. „Aussagen von teilnehmenden Geflüchteten zeigen, wie die gesetzlich vorgeschriebene Vergabe von Behandlungsscheinen durch die Sozialämter – eine gängige Praxis in vielen Bundesländern – zur Verzögerung oder sogar Verhinderung der medizinischen Behandlung von kranken Menschen führt und wie nicht medizinisch qualifiziertes Personal über die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung entscheidet“, sagt Gangarova. Deshalb hält sie es für sinnvoll, die Behandlungsscheine für Asylsuchende durch elektronische Gesundheitskarten (eGK) in allen Bundesländern zu ersetzen, Wendeborn sammelt weiter Spenden, und Prof. Kluge sieht die fehlende Sprachmittlung als ein wichtiges Nadelöhr für die Versorgung.

Sprachmittlung als zentrales Nadelöhr

„Fehlende Sprachmittlung führt zu Unter-, Über- oder Fehlversorgung“, sagt sie, das sei überhaupt keine Frage. Wie nonchalant mit dieser Problematik in weiten Teilen umgegangen werde, zeige, dass Aufklärungsgespräche, die nicht in der Sprache des Behandelten angeboten werden können, zwar juristisch nicht korrekt seien, aber in der Praxis vielfach nicht problematisiert werden. Dass Sprachmittlung in der Gesundheitsversorgung dennoch bislang nicht gewährleistet sei (vgl. CB 06/2018, Seite 4 f.), sei aber nicht nur struktureller Rassismus, sondern auch volkswirtschaftlich nicht nachvollziehbar. Zur Sprachmittlung im Gesundheitswesen wurde am 14.12.2022 ein Positionspapier veröffentlicht, in dem die Zusammenhänge zwischen sicherer Verständigung und Behandlungsqualität ausgeführt werden (online unter iww.de/s7444). Federführend ist ein bundesweites Netzwerk aus 30 führenden Gesundheitseinrichtungen, zu denen auch die Charité gehört.

Welche medizinische Versorgung wollen wir in Deutschland?

„Sprachmittlung ist mit Kosten verbunden. Aber: Wenn in unserem Fachgebiet für eine Patientin schon mehrfach MRTs durchgeführt wurden, weil man sich nicht mit ihr über ihre Kopfschmerzen adäquat verständigen konnte und sie eigentlich eine Psychotherapie benötigt, dann ist das vergleichsweise teurer und eine Fehlversorgung“, erklärt sie. Für rundum kultursensible Versorgungsstrukturen plädiert sie im Übrigen nicht. Mehr Sensibilität für Diversität sei wichtig, aber nicht die Lösung aller Schwierigkeiten. „Denn wir beobachten auch, dass manche Patienten die Behandlung durch eine Person aus der eigenen Community explizit nicht wünschen, weil die Herkunftscommunity mit negativen, unter Umständen auch mit biographisch potenziell traumatischen Erfahrungen verbunden wird.“

Auch die refudocs haben aus ihrer Erfahrung bereits auf dem Bayerischen und dem Deutschen Ärztetag die Forderung als Antrag eingebracht, dass Dolmetscherkosten von den Kassen übernommen werden müssen. Doch das sei im strengen Sinne eigentlich kein Rassismus-. sondern ein allgemeines Kommunikationsproblem, das hier der adäquaten Behandlung entgegensteht, betont Dr. Wendeborn, „das sollte meines Erachtens nicht vermischt werden.“ Studien aus den USA hätten gezeigt, dass auch bei gemeinsamer Sprache die medizinische Versorgung und der Gesundheitszustand der schwarzen Bevölkerung signifikant schlechter seien als bei den Weißen. „Die Sprache allein ist es also nicht“, so der Arzt.

Fazit | Auf der Lösungsebene stehen am Ende ohnehin über allem folgende politische Fragen: Welche medizinische Versorgung wollen wir in Deutschland? Wie solidarisch soll das Gesundheitssystem sein? Und wie viel High-End-Medizin brauchen wir, wenn wir dadurch Grundlegendes nicht mehr finanzieren können, etwa dass Behandelnde und Behandelte sich verständigen können?

Weiterführende Hinweise
  • „Kulturelle Kompetenz zu ermöglichen, ist Chefsache!“ (CB 08/2020, Seite 18 f.)
  • Behinderung oder Sprachbarriere: Krankenkasse muss keine Kosten für Dolmetscher übernehmen (CB 06/2018, Seite 4 f.)

AUSGABE: CB 2/2023, S. 15 · ID: 48974827

Favorit
Teilen
Drucken
Zitieren

Beitrag teilen

Hinweis: Abo oder Tagespass benötigt

Link
E-Mail
X
LinkedIn
Xing
Loading...
Loading...
Loading...
Heft-Reader
2023

Bildrechte