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CBChefärzteBrief

ArzthaftungFehlende Risikoaufklärung und nicht erkannter Herzinfarkt – so hoch ist das Schmerzensgeld

Abo-Inhalt30.11.202210078 Min. LesedauerVon RA, FA für MedR Dr. Rainer Hellweg, Hannover

| Wenn ein Patient Haftungsklage erhebt, wird regelmäßig Schadenersatz und Schmerzensgeld verlangt. Wie aber wird eigentlich die Höhe des Schmerzensgelds bemessen? In zwei aktuellen Urteilen hat der Bundesgerichtshof (BGH) hierzu Wegweisendes entschieden. |

Schadenersatz vs. Schmerzensgeld

In aller Regel verlangen Patienten, wenn sie Klinikträger oder Ärzte vor dem Zivilgericht verklagen, Schadenersatz und Schmerzensgeld: Der Schadenersatz soll dabei den materiell entstandenen Schaden ausgleichen, also den Sachschaden (z. B. Verdienstausfall, Behandlungsfolgekosten, Haushaltsführungsschaden oder Fahrtkosten). Beim Schmerzensgeld hingegen geht es um den Ausgleich des immateriell entstandenen Schadens – also den, der sich nicht exakt in Geld beziffern lässt.

Daher verlangt die anwaltliche Vertretung des Patienten im Prozess Schmerzensgeld „in angemessener Höhe“. Üblicherweise gibt sie einen Mindestbetrag an, den sich die Patientenseite vorstellt. Letztlich aber steht die Höhe des Schmerzensgelds im Ermessen des Gerichts – soweit ein Behandlungs- oder Aufklärungsfehler und die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.

BGH-Urteil zur unterlassenen Risikoaufklärung vor der Geburt

Wegen unterlassener Risikoaufklärung einer werdenden Mutter verurteilte der BGH einen Gynäkologen (Krankenausarzt) zur Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld (Urteil vom 22.03.2022, Az. VI ZR 16/21). Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Kriterien zur Bemessung des Schmerzensgelds.

Sachverhalt

Bei der Mutter der Klägerin war bei einer früheren Geburt drei Jahre zuvor eine elektive Sectio erfolgt. Bei der nunmehr mithilfe von Prostaglandin eingeleiteten Vaginalgeburt kam es zur plötzlichen Uterusruptur. Das Kind musste per Notsectio zur Welt gebracht werden und trug schwerste Schäden davon.

Ausmaß der Schädigung

Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt im Jahr 2006 unter einer infantilen globalen dyskinetischen Cerebralparese mit Störung des Bewegungsapparats und gravierenden Koordinationsstörungen. Betroffen sind die psychischen und kognitiven Bereiche sowie die Persönlichkeitsbildung. Es liegt eine deutliche Mikrozephalie vor und die Klägerin leidet unter Epilepsie. Sie kann nicht sprechen, nicht ohne Hilfe essen, nicht lesen und schreiben. Sie kann keine gezielten Bewegungen ausführen, nicht laufen, nicht stehen und nur mit Hilfsmitteln sitzen. Ferner liegen eine Inkontinenz sowie eine ausgeprägte Intelligenzminderung vor. Sehkoordination und Hörfähigkeit sind herabgesetzt. Sie kann ihren Kopf nicht länger als 60 Sekunden gerade halten.

Entscheidungsgründe

Die Richter attestierten dem Gynäkologen einen Behandlungsfehler. Nach früherem Kaiserschnitt und bei Einleitung der Vaginalgeburt mittels Prostaglandin sei das Risiko einer Uterusruptur erhöht. Der Arzt hätte die Mutter der Klägerin über eine Sectio als Alternative zur Vaginalentbindung aufklären müssen. Dies habe er nicht getan, obwohl ihm die aufklärungspflichtige Risikoerhöhung bei Geburtseinleitung bekannt gewesen sein müsse.

Der BGH zur Höhe des Schmerzensgelds

Vorprozessual war bereits ein Schmerzensgeld i. H. v. 300.000 Euro gezahlt worden. Die Patientenseite forderte vor Gericht einen höheren Schmerzensgeldbetrag i. H. v. insgesamt mindestens 680.000 Euro. Die Richter erkannten letztlich nur 500.000 Euro zu – abzüglich der bereits gezahlten 300.000 Euro. Diese Begrenzung begründete der BGH wie folgt:

Merke | Die Patientenseite hatte ihr Verlangen nach einem noch höheren Schmerzensgeld damit begründet, dass die Methode der taggenauen Berechnung außer Acht gelassen worden sei. Hiernach stünde der Klägerin bei einer Lebenserwartung von 83 Jahren und einem Ansatz von 40 Euro pro Tag ein Schmerzensgeldanspruch i. H. v. 1,2 Mio. Euro zu.

  • Das Schwergewicht der Betrachtung liege auf der Lebensbeeinträchtigung des geschädigten Patienten. Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgelds seien im Wesentlichen
    • die Schwere der Verletzungen,
    • das durch diese bedingte Leiden,
    • dessen Dauer,
    • das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und
    • der Grad des Verschuldens des Schädigers.
  • Dabei gehe es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung.
  • Bei Geburtsschäden könne das Schmerzensgeld besonders hoch ausfallen. Bei der besonderen Fallgruppe der Schwerstverletzungen mit schweren Hirnschädigungen im Rahmen einer Geburt, die mit der Einbuße der Persönlichkeit, dem Verlust an personaler Qualität einhergingen, sei zusätzlich zu berücksichtigen: Bereits diese mehr oder weniger weitgehende Zerstörung der Persönlichkeit an sich sei ein auszugleichender immaterieller Schaden. Es sei unerheblich, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfinden könne oder nicht. Die Zerstörung der Grundlagen für die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit treffe den Verletzten „in seiner Wurzel“ und habe für ihn deshalb existenzielle Bedeutung.
  • Die „Methode der taggenauen Schmerzensgeldberechnung“ (s. u.) sei nicht anwendbar. Mit der taggenauen Berechnung würden zwar zutreffend die Dauer der Schmerzen, des Leidens und der Entstellungen berücksichtigt. Sie führe aber zu einer rechtsfehlerhaften Betonung der Schadensdauer. Daher sei diese Methode keine geeignete Berechnungsarithmetik bei der Bemessung des Schmerzensgelds.

BGH-Urteil zum nicht erkannten Herzinfarkt mit Todesfolge

In einem weiteren Urteil hat der BGH die von der Vorinstanz festgesetzte Schmerzensgeldzahlung an die Witwe eines verstorbenen Patienten für zu niedrig erachtet: Auch der Gesichtspunkt der Genugtuung dürfe nicht außer Betracht bleiben (Urteil vom 08.02.2022, Az. VI ZR 409/19).

Sachverhalt

Ein 71-jähriger Patient wurde nach Aspiration von Nahrung notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz hinreichender Diagnostik (Röntgen-Thorax verwies auf Herzproblematik, ST-Streckensenkungen im EKG legten einen Herzinfarkt nahe, Troponin-Wert war deutlich erhöht) wurde der Patient auf die Normalstation verlegt. Dort kam es etwa eine Stunde später zur kardialen Dekompression und zu Kammerflimmern mit anschließendem Herzstillstand. Nach Reanimation des Patienten wurde eine Herzkatheteruntersuchung eingeleitet, der Patient wurde mit zwei Stents versorgt. Am nächsten Morgen verstarb der Patient nach erneutem Herzstillstand. Seine Witwe verklagte den Klinikträger und forderte 30.000 Euro Schmerzensgeld (siehe Kasten am Ende des Beitrags). In zweiter Instanz erhielt sie 2.000 Euro zugesprochen. Dies erachtete der BGH als zu niedrig und verwies den Fall an die Vorinstanz zurück.

Entscheidungsgründe

Die Richter bejahten einen Behandlungsfehler, da der Patient nicht spätestens zehn Minuten nach EKG und Vorliegen der Blutwerte auf den nächsten freien Katheterplatz verbracht worden sei. Dass dies unterblieben sei, habe zu Kammerflimmern und schließlich zum Tode des Patienten geführt.

Der BGH zur Höhe des Schmerzensgelds

Die Richter hoben hervor, dass bei der Bemessung des Schmerzensgelds zwar der Ausgleichsgedanke im Vordergrund stehe. Jedoch dürfe auch die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgelds nicht außer Acht gelassen werden. Die Genugtuungsfunktion bringe eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck.

Dabei sei auch der Grad des Verschuldens des Schädigers zu berücksichtigen. Im hiesigen Fall sei ein grober Behandlungsfehler unterlaufen. In welchem Ausmaß die mehr als zweistündige Verzögerung der unverzüglich durchzuführenden Herzkatheter-Untersuchung den behandelnden Ärzten auch subjektiv vorwerfbar sei, müsse die Vorinstanz noch weiter aufklären.

Rechtstipp: Schmerzensgeld ist vererbbar

Auch wenn der Geschädigte tragischerweise verstorben ist, können die Hinterbliebenen Schmerzensgeldansprüche geltend machen, denn Schmerzensgeld ist vererbbar! Die Angehörigen können somit den Schmerzensgeldanspruch des Getöteten auch nach dessen Ableben einfordern. Dabei können neben den Schmerzen anspruchserhöhend auch noch die psychischen Belastungen von Todesängsten zu berücksichtigen sein, die entstehen, wenn der Sterbende bei Bewusstsein ist und ihm klar wird, dass er sein Leben verlieren wird. Kurios: Wenn ein Patient tragischerweise infolge eines Behandlungsfehlers verstirbt, kann der Schmerzensgeldanspruch trotzdem niedriger ausfallen, je schneller der Patient verstorben ist und je kürzer er noch gelebt hat. Dies deshalb, weil sich die Höhe des Schmerzensgelds vor allem am Leiden des Geschädigten und an der Dauer des Leidens ausrichtet.

AUSGABE: CB 12/2022, S. 8 · ID: 48725552

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