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ArzthaftungBGH definiert Maßstäbe zur hypothetischen Einwilligung: Was müssen (Chef-)Ärzte beweisen?
| Liegt keine oder keine wirksame Einwilligung des Patienten vor, kann sich die Arztseite darauf berufen, dass der Patient hypothetisch in die Therapie eingewilligt hätte, wenn er ordnungsgemäß aufgeklärt worden wäre (CB 08/2021, Seite 7). Welche Maßstäbe hierfür gelten, hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einem kürzlich veröffentlichten wegweisenden Urteil entschieden (BGH, Urteil vom 07.12.2021, Az. VI ZR 277/19). Um die verschiedenen Rechtsauffassungen der Gerichte zu verdeutlichen, beschreibt dieser Beitrag auch die Sichtweise der Vorinstanzen. |
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte: Nervschädigung durch Katheter bei Knie-OP
Die damals 56-jährige Patientin ließ sich im Jahr 2011 im Rahmen eines stationären Aufenthalts eine Kniegelenksendoprothese implantieren. Haftungsrechtlich angegriffen wurde dabei die anästhesiologische Behandlung. Für die OP wurde der Patientin ein Schmerzkatheter angelegt, und zwar in der Art eines Doppelkatheters.
Bereits unmittelbar nach der Operation litt die Patientin unter Schmerzen und einem Taubheitsgefühl im Fuß sowie Sensibilitätsstörungen in den Zehen des linken Fußes. Schließlich wurden irreparable Schädigungen des Nervus peroneus, des Nervus tibialis und des Nervus suralis bestätigt. Die Patientin verklagte sowohl den Klinikträger als auch mehrere der behandelnden Ärzte auf Schadenersatz mit der Behauptung, fehlerhaft behandelt und vor der Operation nicht hinreichend aufgeklärt worden zu sein.
Vorinstanzen: Es liegt eine hypothetische Einwilligung vor, daher keine Haftung
Die Vorinstanzen (Landgericht Bielefeld, Urteil vom 14.08.2019, Az. 4 O 119/14 und Oberlandesgericht Hamm, 28.05.2019, Az. 16 U 166/18) hatten die Haftungsklage der Patientin noch abgewiesen. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob ein Aufklärungsfehler bzgl. der Anästhesie der Klage zum Erfolg verhelfe.
Es gab aufklärungspflichtige Alternativen bei der Anästhesie, aber ...
Der vom Gericht beauftragte anästhesiologische Sachverständige gab an, dass es in Bezug auf die Anästhesie mehrere Alternativen gegeben habe, die durchaus gleichwertig und damit aufklärungspflichtig seien. Nach der Rechtsprechung sei eine Aufklärung über Behandlungsalternativen geboten, wenn es für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere Behandlungsmethoden gebe, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führten oder unterschiedliche Risiken hätten und/oder unterschiedliche Erfolgschancen böten.
Merke | Der Sachverständige wies darauf hin, dass es neben der Anlage eines Doppelkatheters auch die Möglichkeit gebe, nur mit Schmerzmitteln zu arbeiten, was in einigen Kliniken auch heute noch gemacht werde. Darüber hinaus wäre auch die alleinige Anlage eines Femoraliskatheters mit zusätzlicher Schmerzmedikation anstatt des hier verwendeten Doppelkatheters möglich gewesen. Dabei würde man im Regelfall zwar nicht alle Nerven im Knie ausreichend mit Schmerzmitteln versorgen, dennoch sei es dem Patienten überlassen, ob er angesichts des Risikos eines Nervschadens dieses Risiko lieber halbieren möchte. |
Dass die gebotene Aufklärung über diese Alternativen durchgeführt worden wäre, ließ sich weder der Dokumentation entnehmen noch konnte die Behandlerseite dies anderweitig beweisen. Somit war ein Aufklärungsfehler juristisch zu unterstellen.
... die Patientin konnte nicht glaubhaft machen, dass sie sich anders entschieden hätte
Dies sahen die Richter in den Vorinstanzen auch so, erachteten diesen jedoch als unerheblich, da von einer hypothetischen Einwilligung der Patientin auszugehen sei. Die Begründung der Richter: Die Patientin habe keinen echten Entscheidungskonflikt glaubhaft darstellen können. Nach ihren eigenen Bekundungen sei ihr damals erklärt worden, dass der Schmerzkatheter dafür sorgen würde, dass sie keine Bewegungsschmerzen habe und sich schneller würde bewegen können. Ein solches Verfahren werde oftmals angewandt. Die Patientin habe im Zeitpunkt vor der OP folglich auch in Kenntnis der dort aufgeführten Risiken durchaus eine gute Schmerzausschaltung gewollt, um schnell mobilisiert zu werden. Erst aus der heutigen Sicht, nämlich nach Eintritt des Schadens, habe sie ihre Meinung geändert und hätte eine andere Anästhesiemethode präferiert. Dies reiche aber nicht aus, um plausibel zu machen, dass sie sich damals anders entschieden hätte.
BGH: Vorinstanzen setzten falschen Maßstab an!
An dieser Stelle hakte der BGH juristisch ein. Zunächst sei es richtig, dass im Falle eines Aufklärungsfehlers die Behandlerseite im Prozess damit argumentieren könne, dass der Patient auch im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahmen eingewilligt hätte (sog. hypothetische Einwilligung). Dabei hätten die Gerichte in den Vorinstanzen aber falsche Maßstäbe angesetzt, was die Beweislast des Patienten und die Anforderungen an sein Gegenvorbringen angehe – so die BGH-Richter.
Der BGH stellte klar: Der Patient müsse in einer solchen Prozesssituation nicht glaubhaft machen, dass er sich damals tatsächlich anders entschieden hätte. Er müsse vielmehr lediglich darlegen, dass er sich – hypothetisch eine ordnungsgemäße Aufklärung unterstellt – in einem sog. echten Entscheidungskonflikt befunden habe. Ein solcher echter Entscheidungskonflikt ist zu bejahen, wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung ernsthaft erwogen hätte, auf den Eingriff oder die Behandlung zu verzichten oder einen anderen Arzt oder eine andere Behandlungsmethode zu wählen. Daher hob der BGH das Urteil der Vorinstanzen auf und verwies das Verfahren zur erneuten Verhandlung dorthin zurück.
Rechtstipp: Juristisches „Pingpong“ bei Aufklärungsrügen
Häufig in Arzthaftungsprozessen rügt die Patientenseite die vorgenommene Aufklärung vor einem operativen Eingriff oder einer sonstigen Behandlung als fehlerhaft. Der Vorwurf kann etwa dahin gehen, dass aufklärungspflichtige Inhalte vergessen worden seien oder die Dokumentation unvollständig sei. Dann kann es nach den Regeln der Beweislast im Gerichtsprozess zu einem argumentativen „Pingpong“ kommen.
Argumentatives „Pingpong“ im Arzthaftungsprozess |
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Fazit: BGH-Urteil macht es der Arztseite schwerer
In diesem Spannungsfeld hat das aktuelle BGH-Urteil im Hinblick auf den echten Entscheidungskonflikt die Gewichtung der Beweislast so verschoben, dass es für die Behandlerseite schwieriger wird. Für solche gerichtlichen Anhörungen werden Patienten von ihren Anwälten regelmäßig prozesstaktisch vorbereitet. Deshalb ist es für den Arzt umso wünschenswerter, wenn er im Falle eines Gerichtsprozesses gar nicht erst in diese „Pingpong-Schleife“ hineingerät, indem er eine hinreichende Aufklärung nachweisen kann.
... indem Sie die Aufklärung dokumentieren! Praxistipp | Es gilt die Empfehlung, bei der Aufklärung sorgsam auf eine ordnungsgemäße Durchführung und vor allem auf eine sorgfältige Dokumentation zu achten, um sich juristisch nicht angreifbar zu machen. Der Arzt sollte sich nicht auf die Unterzeichnung des vorgefertigten Bogens durch den Patienten beschränken, sondern kurze handschriftliche Ergänzungen vornehmen, um das mündlich Besprochene festzuhalten und den individuellen Charakter des Aufklärungsgesprächs für einen möglichen späteren Prozess zu dokumentieren. |
- Leistenbruchoperation: Arzt muss den Patienten über mögliche Nervenschädigungen aufklären (CB 01/2022, Seite 10 f.)
- Aufklärung und Einwilligung bei „Neulandmethoden“: BGH präzisiert Anforderungen (CB 08/2021, Seite 7 ff.)
- BGH urteilt: Chefarzt hätte bei unerwarteter OP-Erweiterung erneut aufklären müssen! (CB 10/2019, Seite 9 f.)
AUSGABE: CB 4/2022, S. 9 · ID: 48075234