Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Apr. 2022 abgeschlossen.
Fachkräftemangel„Kliniken müssen mehr Anreize für die Weiterbildung erhalten!“
| Viele Arztserien aus Hollywood stecken voller Klischees. Sie transportieren ein antiquiertes Image der Orthopädie und Unfallchirurgie, sagt Prof. Dr. med. Michael J. Raschke, Past Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) sowie stellvertretender Past Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). Er ist Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Münster. Mit ihm sprach Ursula Katthöfer (textwiese.com). |
Frage: Herr Professor Raschke, was müsste ein Drehbuch beinhalten, um Orthopädie und Unfallchirurgie realistisch darzustellen?
Antwort: In einer Folge der Serie „Dr. House“ gibt es eine OP-Szene, in der das Organ vor einer Lebertransplantation in großer Hektik auf den Boden fällt. Das ist Fiktion. In der Realität ist in Stresssituationen sowohl im OP als auch im Schockraum das Gegenteil der Fall: Je schlechter es dem Patienten geht, desto ruhiger und strukturierter wird er versorgt. Es ist Ausdruck unserer Professionalität, dass jeder Handgriff sitzt. Wenn die Arbeit eines Chirurgen ganz einfach wirkt, dann beherrscht er sein Fach.
Frage: In den Serien gilt zudem häufig eine starre Hierarchie. Wie ist es tatsächlich in der sogenannten Königsdisziplin?
Antwort: Wenn Patienten mich fragen, wer sie operiert hat, antworte ich, dass es das Team war und dass ich dem angehörte. Es ist heute nicht mehr der Chirurg oder die Chirurgin, sondern das Team aus Operateur, Anästhesie, OP-Assistenz und Pflegekräften. In unserem Simulationszentrum trainieren nicht nur Studierende, sondern z. B. auch Anästhesisten, Unfallchirurgen und die Pflege gemeinsam. Dieser Teamansatz kommt bei Mitarbeitenden gut an; für die Patienten bedeutet das erhöhte Professionalität und mehr Sicherheit.
Frage: Dennoch wächst der Fachkräftemangel. Wird zu wenig weitergebildet?
Antwort: Es muss weitere Anreize dafür geben, dass die Kliniken weiterbilden. In anderen Ländern wird Weiterbildung honoriert. Bei uns argumentieren die Krankenkassen, dass dies bereits im DRG-System implementiert sei. Obwohl wir die Elite von morgen ausbilden, erhalten wir dafür kein Honorar. Folglich kaufen einige Häuser lieber Fachärzte ein als selbst auszubilden. Das ist sicherlich lukrativer als in einen jungen Menschen, der für eine Operation noch viel Zeit braucht, zu investieren. Längerfristig ist das aber kurzsichtig.
Frage: Wie ließen sich die langen Weiterbildungszeiten effizienter gestalten?
Antwort: Gewisse OP-Formen werden künftig an Modellen trainiert werden. Wir üben bereits heute eine relativ komplizierte Frakturversorgung wie die eines Schienbeinkopfbruchs mit vorfrakturierten Knochen. Auch bei bestimmten Formen von Knie- oder Schulterchirurgie lässt sich ein sehr reales Szenario am Modell entwickeln, um die OP zu ersetzen. Dieses Training wird von den Ärztekammern möglicherweise bei der Zulassung zum Facharzt anerkannt werden. Noch ist das Zukunftsmusik. Doch sehe ich uns auf dem Weg dahin, dass eher nach Kompetenzen als nach der Anzahl der OPs gefragt wird.
Frage: Werden junge Fachärzte regelrecht abgeworben?
Antwort: Sobald öffentlich ist, dass jemand die Facharztprüfung bestanden hat, kommen die Angebote. Wir hatten einen Mitarbeiter, der auch wissenschaftlich sehr gut war. Er wollte zurück in seine Heimatregion. Dort wurde ihm nicht nur ein besseres Gehalt, sondern auch ein Baugrundstück angeboten. Da können und wollen wir nicht mithalten. Doch ist die Situation beim Ärztenachwuchs noch relativ entspannt. Ich erwarte, dass wir mehr über Abwerbeversuche diskutieren werden, wenn der Versorgungsmangel noch stärker wird. Bei Pflegekräften ist es heute bereits so, dass vierstellige Provisionen an die Vermittler, zu denen auch Privatpersonen zählen, gezahlt werden.
Frage: Wie lässt sich so etwas bei ärztlichem Personal verhindern?
Antwort: Die Situation ist ambivalent. Einerseits werden wir als Chefärzte daran gemessen, wie viele gute Leute wir in anderen Häusern platziert haben. Andererseits beginnt die Weiterbildung dann wieder von vorn. Wer gute Leute behalten möchte, muss dem Nachwuchs etwas anbieten. Bei den Gehältern ist kaum Spielraum, doch können Kliniken mit Inhalten motivieren und Sichtbarkeit schaffen. Wenn ein Patient wegen eines künstlichen Hüftgelenks vom Chefarzt operiert werden möchte, kann der dafür sorgen, dass ein talentierter junger Chirurg Teile der Operation übernimmt.
Frage: Was tun Krankenhäuser inzwischen, für eine gute Work-Life-Balance?
Antwort: Wir haben in unserer Klinik über 40 Prozent Ärztinnen. Für ein Fach wie die Orthopädie und Unfallchirurgie ist das ein sehr hoher Anteil. Wer junge Eltern, die aus der Elternzeit zurückkehren, halten will, muss flexible Arbeitszeitmodelle anbieten. Das ist schwierig, weil unfallchirurgische Notfälle sich nicht nach familienfreundlichen Arbeitszeiten richten. Doch wir brauchen diese Medizinerinnen. Sie sind extrem gut, bestens organisiert.
Frage: Quarantänefälle während der Pandemie zeigen, wie schnell kleine Häuser ans Limit geraten. Was bedeutet das für die Orthopädie und Unfallchirurgie?
Antwort: Größere Kliniken können Notfallsituationen, in denen gleichzeitig mehrere Mitarbeitende ausfallen, besser auffangen. Nicht, weil sie mehr Leute haben, sondern weil sie flexibler sind. Deshalb wird es in Zukunft größere Strukturen geben. Es werden zudem Verbünde entstehen, sodass die Weiterbildung über mehrere Häuser verteilt und noch viel strukturierter sein wird als heute. Wenn allerdings von acht Beschäftigten drei ausfallen und das Arbeitszeitgesetz eingehalten werden soll, muss eine Abteilung vom Netz gehen.
Herr Professor Raschke, vielen Dank für das Gespräch!
AUSGABE: CB 4/2022, S. 16 · ID: 47959983