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SozialrechtMann-zu-Frau-Transidentität: Krankenhaus ohne Gynäkologie darf Folge-OP abrechnen
| Ein Krankenhaus ohne eigene gynäkologische Abteilung darf bei einer Patientin mit Mann-zu-Frau-Transidentität einen Folgeeingriff nach der geschlechtsangleichenden Operation durchführen und diesen gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse abrechnen. Entscheidend ist dabei nicht allein der behördliche Versorgungsauftrag, sondern auch die ursprüngliche biologische Zuordnung der operierten Geschlechtsorgane (Sozialgericht [SG] Berlin, Urteil vom 13.09.2021, Az. S 56 KR 3604/18). |
Der Fall
Ein Mann hatte sich im Jahr 2013 zu einer Frau umoperieren lassen. Fünf Jahre später ließ er sich erneut in einem Krankenhaus behandeln, da eine Neuanlage der Neovagina medizinisch erforderlich geworden war. Das Krankenhaus hatte nur einen Versorgungsauftrag für Urologie, nicht aber für Gynäkologie. Die Operation wurde von einem Team aus Gynäkologen und Urologen durchgeführt und mit 4.216,87 Euro gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse abgerechnet. Die Krankenkasse verweigerte die Bezahlung. Begründung: Diese Behandlung sei vom Versorgungsauftrag des Krankenhauses nicht umfasst.
Das Krankenhaus erhob Zahlungsklage. Der Krankenhausträger trug vor, dass hier sowohl der gynäkologische als auch der urologische Versorgungsauftrag umfasst sei: Eine Entfernung des Penis, der Hoden und des Samenstrangs sowie die Bildung einer künstlichen Vagina aus dem Gewebe des Hodensacks seien urologische Eingriffe an einem biologischen Mann. Das gelte, so der Krankenträger – auch für die Folgeoperationen. Es läge auch bei einer entgegenstehenden personenstandsrechtlichen Einordnung eine männliche Anatomie vor, deren genaue Kenntnis für den Erfolg der Operation maßgeblich sei. Das Gericht gab der Klage statt und verurteilte die beklagte Krankenkasse zur Leistung.
Die Entscheidungsgründe
Das Gericht sah einen Anspruch des Krankenhauses auf Erstattung der Behandlungskosten. Die Operation sei in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt. Grundsätzlich bestehe ein Erstattungsanspruch nur, wenn die Krankenkasse einen Versorgungsvertrag mit dem Krankenhaus abgeschlossen habe. Eine Ausnahme vom Erfordernis eines Versorgungsvertrags bestehe, wenn das Krankenhaus nach § 108 Nr. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) V in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen worden sei. Das ergebe sich aus § 109 Abs. 1 S. 2 Halbsatz 2 SGB V.
Der Versorgungsauftrag eines Krankenhauses ergebe sich neben der Aufnahme in den Krankenhausplan auch durch die Feststellungsbescheide hinsichtlich der Durchführung der Versorgung. In diesen Feststellungsbescheiden sei das Krankenhaus mit einer bestimmten Bettenzahl im Fachbereich Urologie ausgewiesen. Daher habe das Krankenhaus einen Versorgungsauftrag im Fachbereich Urologie.
Entscheidend sei, ob der Fachbereich vom Krankenhausplan umfasst sei. Dabei reiche aber die Festlegung des Fachbereichs nicht aus, um den Versorgungsauftrag zu bestimmen. Zur Bestimmung des Versorgungsauftrags müssen auch die landesrechtlichen Weiterbildungsordnungen zur Auslegung herangezogen werden. Wenn es bei den Weiterbildungsordnungen zu Überschneidungen komme, sei maßgeblich, in welchen Kernbereich die Operation gefallen sei (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.11.2014, Az. B 3 KR 1/13 R).
Problematisch sei, dass die Weiterbildungsordnung keine Feststellungen zu Geschlechtsumwandlungen enthalte. Es werde nicht geregelt, ob die Begriffe „Frau“ und „Mann“ in einem biologischen oder personenstandsrechtlichen Sinne zu verstehen seien. Nach geltendem Personenstandsrecht handele es sich im vorliegenden Fall zwar um eine Frau, aber im biologischen Sinne um einen männlich gewachsenen Körper. Da die Weiterbildungsordnungen sich nicht zu Operationen bei Geschlechtsumwandlungen ausließen, könnten diese nach Ansicht des SG nicht unmittelbar zur Bestimmung des Kernbereichs herangezogen werden.
Ausführungen des SG zum Versorgungsauftrag bei Transidentität |
„Nach Überzeugung der Kammer ist für die Auslegung der Weiterbildungsordnung jedenfalls auch die ursprüngliche biologische Einordnung heranzuziehen, sodass Behandlungen von Geschlechtsorganen bei Personen mit Mann-zu-Frau-Transidentität jedenfalls auch in das Fachgebiet Urologie fallen. Die Kammer stützt sich dabei auf die S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung und Behandlung“ (AWMF Register-Nr. 138/001) der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 22. Februar 2019. (…) Nach Auffassung der Kammer erfolgt die Neubildung ebenso wie die Rekonstruktion einer Neovagina durch Behandlung von Gewebe des biologisch ursprünglich männlichen Geschlechtsorgans. Für die Behandlung männlicher Genitalien ergibt sich eine konkrete Zuordnung zum Fachgebiet der Urologie und damit ein Versorgungsauftrag von Krankenhäusern mit diesem Fachgebiet.“ |
Bedeutung des Urteils über Geschlechtsumwandlungen hinaus
Dieses Urteil ist nicht nur bei Geschlechtsumwandlungen, sondern auch bei der Überschneidung von anderen Weiterbildungsordnungen relevant. Wenn etwa ein Mann unter Brustkrebs oder Gynäkomastie leidet, ist aus medizinischer Sicht ein Gynäkologe zur Behandlung am besten ausgebildet. Da das SG Berlin im vorliegenden Fall im Ergebnis darauf abgestellt hat, dass diejenigen Fachärzte vom Versorgungsauftrag umfasst sind, die tatsächlich über die größte medizinische Kompetenz bei der Behandlung verfügen, muss das auch in anderen Bereichen gelten.
AUSGABE: CB 4/2022, S. 14 · ID: 47961443