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Außerordentliche KündigungSexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Abo-Inhalt24.10.20243232 Min. Lesedauer

| Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – auch heute leider noch immer ein Thema. Umso bemerkenswerter ist ein Urteil des Arbeitsgerichts Solingen, dass in seinem Leitsatz in 10 Aussagen mehr als deutlich wird. |

Sachverhalt

Auslöser für die fristlose sowie hilfsweise fristgerecht erklärte Kündigung waren die vom ArbG behaupteten mehrfachen und sich steigernden sexuellen Übergriffe eines ArbN gegenüber einer Auszubildenden. Der ArbN ist seit 2021 in der Lagerlogistik zunächst als Leih-ArbN und ein Jahr später unbefristet tätig. Ein Betriebsrat ist eingerichtet.

Frau M. ist seit 2022 beim ArbG in Ausbildung. Sie durchläuft verschiedene Bereiche, so war sie u. a. dem Logistikzentrum zugeordnet. Dort gibt es einen Pausenraum, der von den Mitarbeitern des Lagers genutzt wird, so auch von Frau M. Die Auszubildenden haben keine Schlüssel für die Pausenräume. Sie dürfen bestimmte sicherheitsrelevante Bereiche auch nicht betreten, ohne von einer befugten Person begleitet zu werden. Zu einer solchen Begleitung durch den ArbN kam es am letzten Tag (7.7.23) der Ausbildung in der Station. Der ArbN wollte vormittags Frau M. zu einem Beurteilungsgespräch beim Vorgesetzten bringen. Auf diesem Weg liegt u. a. das Kleinteilelager, das vom ArbN betreten wurde und in dem sich kurz darauf auch Frau M. befand. Dieses Lager wurde zu diesem Zeitpunkt nicht videoüberwacht, was der ArbN wusste. Insbesondere ist streitig, ob es in dem Kleinteilelager zu einem massiven, strafrechtlich relevanten Übergriff seitens des ArbN auf Frau M. gekommen ist. Unstreitig erschien Frau M. kurze Zeit später zum angesetzten Beurteilungsgespräch bei ihrem Vorgesetzten.

Am 28.8.23 informierten Kolleginnen der Auszubildenden Herrn A., Vorgesetzter im Bereich S. Product Supply darüber, dass Frau M. durch den ArbN mehrfach sexuell belästigt worden sein solle. Daraufhin wurde der Sachverhalt, insbesondere durch Einschaltung des Werkschutzes, im Folgenden G., ermittelt. Hier kam es zu verschiedenen Vernehmungen, zunächst zu einer Vernehmung der Frau M. Ein erstes Gespräch mit dem ArbN erfolgte einen Tag später, ebenfalls durch den Werksschutz. Ein zweites Gespräch mit der Auszubildenden wurde am 6.9.23 durchgeführt und schließlich erfolgte ein zeugenschaftliches Interview mit der Mitauszubildenden Frau R. Z. (im Folgenden Z.). Im Anschluss an diese „Interviews“ überprüfte der ArbG die angefallenen Arbeiten im Kleinteilelager für den 7.7.23 und holte Eindrucksvermerke der ermittelnden Personen der G. ein. Etwa 14 Tage nach seiner Anhörung, machte der ArbN per E-Mail ergänzende Angaben zu den streitigen Vorfällen.

Am 18.9.23 hört der ArbG den Betriebsrat zur außerordentlich fristlosen sowie vorsorglich fristgerechten Kündigung des Arbeitsverhältnisses an. Dem Anhörungsschreiben an den Betriebsrat waren alle relevanten Unterlagen beigefügt. Der Betriebsrat widersprach der fristgerechten Kündigung am 21.9.23. Am 22.9.23 stellte der ArbG die fristlose, vier Tage später die fristgerechte Kündigung zu. Einen Tag nach Anhörung des Betriebsrats erstattete der ArbN Anzeige gegen Frau M. wegen übler Nachrede. Dieses Ermittlungsverfahren wurde unter Hinweis auf § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Der ArbN behauptet, er habe Frau M. zu keinem Zeitpunkt sexuell belästigt. In der mündlichen Verhandlung machte er präzise Angaben zur Räumlichkeit des Kleinteilelagers. Er trug vor, er habe nicht gewusst, dass die Tür am Ende des Kleinteilelagers dauerhaft verschlossen sei. Seiner Ansicht nach sei diese Tür am 7.7.23 benutzbar gewesen. Er bezeichnet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe durch die Auszubildende Frau M. als frei erfunden. Er sei glücklich verheiratet und die Auszubildende sei möglicherweise in ihn verliebt gewesen.

Der ArbG legte mehrere Chatverläufe vor, in denen die Frau M. ihre Mitauszubildenden vor den sexuellen Übergriffen des ArbN warnt. Der ArbG behauptet, am 6.7.23 sei der ArbN mit Frau M. allein im Pausenraum gewesen. Er habe sie aufgefordert, seinen Schritt anzufassen. Sie habe dies getan. Bei einem weiteren Übergriff am 7.7.23 sei es zu einer erzwungenen oralen Befriedigung des ArbN gekommen. Er habe sich an diesem Morgen von sich aus bereit erklärt, Frau M. zum Büro des Herrn F. zu ihrem Beurteilungsgespräch zu bringen. Die Tat sei auf dem Weg zum Vorgesetzten im Kleinteilelager erfolgt.

Entscheidungsgründe

Das Arbeitsgericht Solingen (11.4.24, 2 Ca 1497/23, Abruf-Nr. 244303) kam zum Ergebnis, dass die fristlose Kündigung das Arbeitsverhältnis mit Ablauf desselben Tages aufgelöst hat. Die Kündigung sei als Tatkündigung gerechtfertigt gemäß § 626 Abs. 1 BGB. Dem ArbG sei nicht zumutbar gewesen, den ArbN nur einen einzigen Tag weiter zu beschäftigen, denn er habe in mindestens fünf Fällen die Auszubildende sexuell belästigt. Dabei sei er zielgerichtet und taktisch sowie mit sich deutlich steigernder Intensität vorgegangen. Insoweit sei die Formulierung sexuelle „Belästigung“ für den Übergriff am 7.7.23 im Kleinteilelager eine mehr als unpassende Verniedlichung.

Nach § 3 Abs. 4 AGG sei eine sexuelle Belästigung eine Benachteiligung, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen gehörten, bezwecke oder bewirke, dass die Würde der betreffenden Person verletzt werde. Das gelte insbesondere, wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen werde.

Mit Ausnahme des unerwünschten Zeigens oder sichtbaren Anbringens von pornografischen Darstellungen, habe der ArbN die gesamte Bandbreite des § 3 Abs. 4 AGG zulasten der Auszubildenden Frau M. innerhalb einer Arbeitswoche einzig und allein zu seinem sexuellen Vergnügen verwirklicht. Im Nachhinein sei er nicht einmal davor zurückgeschreckt, nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ die Auszubildende mit einer Strafanzeige zu überziehen, eine geschmacklose Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben und schließlich gegenüber dem Arbeitsgericht die Unwahrheit vorzutragen.

Ohne großen Subsumtionsaufwand ließen sich alle weiteren Akte des ArbN am 4.7., 5.7., 6.7. und 7.7.23 als massive sexuelle Belästigung der Auszubildenden einordnen. Dabei sei es irrelevant, ob man sich sympathisch sei oder nicht. Eine solche Verletzung der Intimsphäre – zumal auf der Arbeit, wo damit nicht zu rechnen sei – sei schlicht untragbar. Erst recht gelte das für die unverschämten und zielgerichteten Handgriffe des ArbN. Diese zeigen, wie unverfroren, übergriffig, egozentrisch und roh er unter Ausnutzung der Unterlegenheit der Auszubildenden und der von ihm selbst kreierten Überrumpelungssituation bereits an diesem Tag vorgegangen sei.

Die geschilderten eklatanten sexuellen Belästigungen durch den ArbN ständen zur vollen Überzeugung der Kammer fest. Anderslautende Behauptungen des ArbN seien als reine Schutzbehauptungen unbeachtlich. Deshalb sei die Vernehmung der Auszubildenden Frau M. als Zeugin nicht notwendig. Dass der ArbN einzig und allein versucht habe, seine Prozessposition zu verbessern, um seinen Arbeitsplatz nicht zu verlieren, zeige sein gesamtes Verhalten im Zusammenhang mit den Ermittlungen, sein Nachtatverhalten, das Verhalten im Zusammenhang mit der Strafanzeige, sein Prozessverhalten sowie sein Verhalten im Rahmen der mündlichen Verhandlung.

Ein weiterer Punkt dafür, dass es sich bei dem Vorbringen des ArbN um frei erfundene Schutzbehauptungen handele, sei sein Nachverhalten bezüglich der Anzeige. Die Strafanzeige gegen die Auszubildende Frau M. wegen übler Nachrede sei exakt einen Tag, nachdem der Betriebsrat zur fristlosen Kündigung des ArbN angehört worden sei, erstattet worden. Es müsse nicht, könne aber zwischen der Betriebsratsanhörung und diesem Verhalten eine gewisse Kausalität bestanden haben. In dieser Anzeige habe der ArbN versucht, das eigentliche Opfer zu einer Täterin umzuwidmen. Erstmals werde hier das Wort „Vergewaltigung“ vom ArbN selbst genannt. In der gesamten arbeitsgerichtlichen Akte sei an keiner Stelle von „Vergewaltigung“ die Rede. Auch in der Ermittlungsakte sei seitens der Frau M. nie von einer Vergewaltigung gesprochen worden. Sie berichte stets von der sexuellen Nötigung, insbesondere von der erzwungenen oralen Befriedung am 7.7.23.

Auch das Prozessverhalten des ArbN zeige, dass die meisten seiner Behauptungen an der Wahrheit vorbeigehen würden. Er habe schriftsätzlich vortragen lassen, er sei zu keinem Zeitpunkt jemals unter vier Augen mit der Auszubildenden allein in einem Raum gewesen. Schließlich sei auch das Verhalten des ArbN in der mündlichen Verhandlung beeindruckend und habe zum wiederholten Male seine Tendenz gezeigt, die Auszubildende als unglaubwürdige Person darzustellen. So habe er komplett abweichend vom Betriebsleiter über die Lage und Ausstattung des Kleinteilelagers berichtet.

Schließlich habe er im Rahmen der mündlichen Verhandlung mehrfach erwähnt bzw. durch seinen Prozessbevollmächtigten vortragen lassen, die Auszubildende habe ihn mehrfach nach den angeblichen Übergriffen noch gebeten, ihn im Auto mitzunehmen. Da könne ja wohl von Angst keine Rede sein. Auch hier habe er wieder versucht, auf die Kammer und damit auf die Würdigung des Sachverhalts Einfluss zu nehmen.

Bei der Auszubildenden habe es sich um eine Lügnerin gehandelt, die aus verschmähter Liebe dafür Sorge getragen habe, dass er seinen Arbeitsplatz verliere. Denn seiner Meinung nach sei jemand, der im Auto mitgenommen werden wolle, ja schließlich nicht ängstlich. Er habe auch nicht davor zurückgeschreckt, zum wiederholten Male seine Ehefrau zu instrumentalisieren, in dem er in leidendem Tonfall davon berichtete, dass er mit seiner „Ehefrau“ ja im Urlaub gewesen sei. Die „Ehefrau“ habe der ArbN mehrfach im Rahmen seiner Vernehmungen angeführt und zwar immer für die von ihm behauptete Tatsache, dass er keinerlei übergriffiges Verhalten an den Tag gelegt habe. Offensichtlich wollt er damit zum Ausdruck bringen, dass er „es nicht nötig“ habe, sich an anderen Frauen zu vergreifen, da er ja glücklich verheiratet sei.

Ein weiterer Beleg für die Richtigkeit des Vorbringens des ArbG seien die Aussagen der Frau M. Sowohl das zeugenschaftliche Interview durch die Ermittler der G., als auch das ausführliche tonband-geführte Interview, welches sich in der Ermittlungsakte befindet, haben keine Widersprüche oder andere Auffälligkeiten aufgewiesen. Die Auszubildende habe konsistent und widerspruchsfrei, offensichtlich emotional angegriffen von den belastenden Geschehnissen berichtet. Sie habe auch ihre eigenen, vermeintlich kontraproduktiven Verhaltensweisen, wie beispielsweise das Erfragen des Insta-Accounts oder die WhatsApp-Chat-Verläufe nachvollziehbar erklären können.

Daher falle auch die Interessenabwägung nicht zugunsten des ArbN aus. Er sei lediglich einige Jahre bei dem ArbG beschäftigt, sei verheiratet und habe ein Kind. Auch wenn er sechs Kinder zu unterhalten hätte, 15 Jahre beschäftigt und deutlich älter wäre, so würde das Interesse des ArbG, einen solchen Mitarbeiter unverzüglich zu entlassen, bei weitem die Sozialdaten und seine Interessen am Erhalt des Arbeitsplatzes überwiegen.

Praxishinweis | Leitsätze der Kammer:

  • 1. Die Aufforderung zur oralen Befriedigung an eine Auszubildende – die sich aus Angst nicht dagegen gewehrt hat – durch einen ArbN ist objektiv unerwünscht und damit eine sexuelle Belästigung i. S. d. § 3 Abs. 4 AGG.
  • 2. Die Aufforderung an eine Auszubildende zum Anfassen des Genitals und/oder zum Anfassen lassen im eigenen Genitalbereich/an der Brust durch einen ArbN ist objektiv unerwünscht und damit eine sexuelle Belästigung i. S. d. § 3 Abs. 4 AGG.
  • 3. Das Ablecken/Küssen des Nackens und Aufforderung zur Nackenmassage einer Auszubildenden durch einen ArbN ist objektiv unerwünscht und damit eine sexuelle Belästigung i. S. d. § 3 Abs. 4 AGG.
  • 4. Bei Vorliegen offenkundiger Widersprüche im ArbN-Vorbringen, erheblicher Ablenkungsmanöver und greifbarer Schutzbehauptungen bedarf es keines Zeugenbeweises durch Vernehmung des Opfers einer sexuellen Belästigung im Rahmen einer 4-Augen-Situation.
  • 6. Eine durch den fristlos gekündigten Akteur einer vom ArbG behaupteten sexuellen Belästigung betriebene Täter-Opfer-Umkehr und/oder Legendenbildung muss im Rahmen der Erheblichkeit des Klagevorbringens insbesondere bei 4-Augen-Situationen zugunsten der belästigten Person berücksichtigt werden.
  • 7. Eine vom ArbN bestrittene sexuelle Belästigung im Rahmen einer 4-Augen-Situation kann als Verdachtskündigung – ohne weitere Beweisaufnahme – wirksam sein.
  • 8. Bei einer sexuellen Belästigung kommt es im Arbeitsrecht – anders als im Strafrecht – nicht auf den geäußerten entgegenstehenden Willen des Opfers und somit nicht auf eine Erkennbarkeit für den Täter an.
  • 9. Im Arbeitsverhältnis kommt es bei der Einordnung einer sexuellen Belästigung immer entscheidend auf das vorhandene Machtgefälle zwischen Täter und Opfer an.
  • 10. Jede sexuelle Belästigung ist grundsätzlich und ohne vorangegangene Abmahnung geeignet, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Auf die Schwere der Belästigung kommt es nicht an.

AUSGABE: AA 11/2024, S. 184 · ID: 50207176

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