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Arbeitsunfähigkeit (im Krankheitsfall)Den Beweiswert einer AUB erschüttern? Wie geht das?
| Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB) kann erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige ArbN nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt. |
Sachverhalt
Der ArbN war seit März 2021 als Helfer beim ArbG beschäftigt. Er legte am Montag, dem 2.5.22, eine AUB für die Zeit vom 2. bis zum 6.5.22 vor. Mit Schreiben vom 2.5.22, das dem ArbN am 3.5.22 zuging, kündigte der ArbG das Arbeitsverhältnis zum 31.5.22. Mit weiteren Folgebescheinigungen wurde die AU bis zum 31.5.22 bescheinigt. Ab dem 1.6.22 war der ArbN wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Der ArbG verweigerte die Entgeltfortzahlung, da seiner Ansicht nach der Beweiswert der vorgelegten AUBs erschüttert sei. Dem widersprach der ArbN, weil die AU bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden habe.
Die Vorinstanzen (ArbG Hildesheim 26.10.22, 2 Ca 190/22; LAG Niedersachsen 8.3.23, 8 Sa 859/22) gaben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage für die Zeit vom 1. bis zum 31.5.22 statt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der ArbG vor dem BAG (13.12.23, 5 AZR 137/23, Abruf-Nr. 238716) war teilweise – bezogen auf den Zeitraum vom 7. bis zum 31.5.22 – erfolgreich.
Ein ArbN könne die von ihm behauptete AU mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen AUBs nachweisen. Diese sei das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Deren Beweiswert könne der ArbG erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der AU des ArbN geben. Hiervon ausgehend sei das LAG Niedersachsen bei der Prüfung des Beweiswerts von AUBs, die während einer laufenden Kündigungsfrist ausgestellt werden, zutreffend davon ausgegangen, dass für die Erschütterung des Beweiswerts dieser Bescheinigungen nicht entscheidend sei, ob es sich um eine Kündigung des ArbN oder des ArbG handele, und ob für den Beweis der AU eine oder mehrere AUBs vorgelegt würden.
Stets erforderlich sei allerdings eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände. Hiernach habe das Berufungsgericht richtig erkannt, dass für die Bescheinigung vom 2.5.22 der Beweiswert nicht erschüttert sei. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der AU und dem Zugang der Kündigung sei nicht gegeben. Nach den getroffenen Feststellungen habe der ArbN zum Zeitpunkt der Vorlage der AUB keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses, etwa durch eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG gehabt. Weitere Umstände habe der ArbG nicht dargelegt.
Bezüglich der AUBs vom 6.5.22 und vom 20.5.22 sei der Beweiswert dagegen erschüttert. Das LAG Niedersachsen habe insoweit nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der AU und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestanden und der ArbN unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen habe. Dies habe zur Folge, dass der ArbN für die Zeit vom 7. bis zum 31.5.22 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten AU als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trage. Da das LAG Niedersachsen hierzu keine Feststellungen getroffen habe, sei die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Relevanz für die Praxis
Mit diesem Urteil setzt der 5. Senat des BAG seine Rechtsprechung zu den geänderten Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher AUB fort.
Bereits vor zwei Jahren kam das BAG (8.9.21, 5 AZR 149/21) zum Ergebnis, dass der Beweiswert der AUB durch den ArbG erschüttert werden könne, wenn er tatsächliche Umstände darlege und beweise, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelinge dies dem ArbG, dann müsse der ArbN substanziiert darlegen und beweisen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig gewesen sei. Ein solcher Beweis könne z. B. durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen.
Auch wenn der Beweiswert eines ärztlichen Attests erschüttert wird, führt dies nicht automatisch zum Entfallen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung des ArbN. Allein die Darlegungs- und Beweislast fällt auf den ArbN zurück. Dieser muss dann darlegen, dass er tatsächlich erkrankt war. Dies bedeutet, dass er zum Beispiel seine Krankheitsumstände näher erläutert, ärztliche Befundberichte beibringt oder den die AUB ausstellenden Arzt benennt. Der ArbN wird durch die Entscheidung nicht schutzlos gestellt oder das Entgeltfortzahlungsrecht ausgehöhlt. In der Praxis kann es aber passieren, dass ArbG bei Krankmeldungen im Zusammenhang mit Kündigungen nun genauer hinsehen und konkrete zeitliche Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingehend prüfen.
- ArbN erkrankt während der Kündigungsfrist: LAG Niedersachsen in AA 23, 159
- Entgeltfortzahlung – abgestufte Darlegungslast hinsichtlich neuer Erkrankung: BAG in AA 23, 153
AUSGABE: AA 2/2024, S. 20 · ID: 49875758