Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Aug. 2022 abgeschlossen.
BerufsunfähigkeitsversicherungLG Berlin zur Fälligkeit und Reichweite der Mitwirkungspflicht des VN in der BU-Leistungsprüfung
| Beansprucht der VN Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung, stellt sich regelmäßig die Frage, inwieweit er an der Leistungsprüfung mitwirken muss. Verweigert er die Mitwirkung zu Unrecht, werden seine Ansprüche nicht fällig mit der Folge, dass der Versicherer nicht leisten muss. Demgegenüber kann ein rechtswidriges Mitwirkungsverlangen des Versicherers zur sofortigen Fälligkeit der beanspruchten Leistungen führen. Das hat nun das LG Berlin in einem bemerkenswerten Urteil entschieden. VVP stellt Ihnen das Urteil vor. |
In diesen Fällen sind BU-Leistungen fällig
Mangels spezialgesetzlicher Vorschriften richtet sich die Fälligkeit von BU-Leistungen nach der allgemeinen Fälligkeitsregel, die für sämtliche Versicherungszweige gilt (§ 14 Abs. 1 VVG). Ihr zufolge werden Geldleistungen des Versicherers fällig „mit der Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung des Versicherers notwendigen Erhebungen“. Eine entsprechende Regelung enthalten die Versicherungsbedingungen (vgl. § 7 Abs. 4 S. 1 der Musterbedingungen des GDV für die Berufsunfähigkeits-Versicherung, Stand 18.04.2021).
Mit Fälligkeit der Versicherungsleistungen
- können die BU-Leistungen eingeklagt werden,
- beginnt die dreijährige Verjährungsfrist,
- tritt in der Regel der Rechtsschutzfall ein und
- muss der Versicherer u. U. die Kosten eines vom VN beauftragten Anwalts erstatten.
Fälligkeit bei Leistungsentscheidung
Beendet sind die „notwendigen Erhebungen“ in jedem Fall mit der Leistungsentscheidung. Mit ihr stellt der Versicherer klar, dass weitere Erhebungen zur Entschließung über den Anspruch nicht erforderlich sind (für den Fall der Leistungsablehnung: BGH, Urteil vom 22.03.2000, Az. IV ZR 233/99, Abruf-Nr. 229690).
Fälligkeit vor Leistungsentscheidung
BU-Leistungen können aber auch fällig sein, bevor der Versicherer eine Leistungsentscheidung trifft. Das hat das LG Berlin bestätigt. In dem Fall hatte der VN unter dem 28.02.2017 angezeigt, seit September 2016 berufsunfähig zu sein. Am 01.03.2017 sandte der Versicherer ihm die Unterlagen zur Leistungsprüfung einschl. eines Vordrucks für die Einwilligung in die Datenerhebung zu. Anschließend überließ der VN ihm diverse Unterlagen, darunter den ausgefüllten Antrag auf BU-Leistungen, ein Gutachten seines Krankenversicherers, das Arbeitsunfähigkeit attestierte, ein weiteres Gutachten, das Berufsunfähigkeit feststellte, einen Entlassungsbrief über eine stationäre Behandlung in 2017, einen Bericht der behandelnden Psychotherapeutin, eine Aufstellung von Behandlungsdaten sowie (weitere) Unterlagen der behandelnden Ärzte. Gleichwohl teilte der Versicherer 2018 mit, nicht beurteilen zu können, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliege.
Obwohl der Versicherer in dem entschiedenen Fall keine Leistungsentscheidung getroffen hatte, hielt das LG Berlin die Versicherungsleistungen für fällig. Denn ein sachgerecht prüfender Versicherer hätte, so das Gericht, seine notwendigen Erhebungen vorprozessual abschließen können. Die Fälligkeit wurde insoweit fingiert (LG Berlin, Urteil vom 18.08.2021, Az. 23 O 180/18, Abruf-Nr. 229689).
Nach den Feststellungen des LG Berlin sind „notwendige Erhebungen“ alle Maßnahmen, die ein durchschnittlich sorgfältiger Versicherer anstellen muss, um das Bestehen und den Umfang seiner Leistungspflicht abschließend zu ermitteln. Dabei kommt es weder darauf an, ob der Versicherer subjektiv weiteren Aufklärungsbedarf sieht, noch darauf, ob ein solcher tatsächlich vorliegt. Maßgeblich ist vielmehr, so das LG Berlin, ob die Notwendigkeit der Datenerhebung bei einer ex-ante-Betrachtung aus der Sicht verständiger Vertragsparteien vertretbar erscheinen durfte.
Unter Berücksichtigung vorstehender Aspekte begründete das LG Berlin die Fälligkeit in dem entschiedenen Fall wie folgt: Hat der VN dem Versicherer zur Prüfung seiner Leistungspflicht bereits Angaben gemacht und Unterlagen eingereicht, muss der Versicherer aufzeigen, welche weiteren Informationen er zur sachgerechten Prüfung seiner Leistungspflicht noch bedarf, da sich diese Umstände typischerweise der Kenntnis des VN entziehen. Der Versicherer vermochte solche Umstände hier aber nicht aufzuzeigen.
Pauschale Hinweise des Versicherers reichen nicht Praxistipp | Der Versicherer muss konkret erklären, welche (weiteren) Angaben bzw. Informationen erforderlich sind, um seine Einstandspflicht abschließend beurteilen zu können. Der pauschale Hinweis darauf, der Versicherungsfall sei nicht hinreichend dargetan, reicht ebenso wenig wie die vage Ankündigung einer weiteren Prüfung des Leistungsanspruchs bei „entsprechender“ Konkretisierung von Angaben. Ein solches Regulierungsverhalten hat dieselben Folgen wie eine Leistungsverweigerung (so bereits OLG Hamm, Urteil vom 26.09.2012, Az. 20 U 23/12, Abruf-Nr. 123689) und führt zur Fälligkeit. |
Mitwirkungspflicht des VN an der Leistungsprüfung
Damit der Versicherer die „notwendigen Erhebungen“ zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistung (§ 14 Abs. 1 VVG) anstellen kann, treffen den VN verschiedene Obliegenheiten zur Mitwirkung an der Leistungsprüfung. Sie ergeben sich aus
- dem Gesetz (§ 31 VVG) und
- den (das Gesetz konkretisierenden) Bedingungen (vgl. § 7 der Musterbedingungen des GdV für die Berufsunfähigkeitsversicherung, Stand 28.04.2021).
Inhaltliche Ausgestaltung der Mitwirkungsobliegenheit des VN
Zur Mitwirkungsobliegenheit des VN gehört insbesondere Folgendes:
- Der VN muss die Ursache für den Eintritt der Berufsunfähigkeit darstellen.Ursache BU-Eintritt
- Er muss ausführliche Berichte der Ärzte vorlegen, die den VN gegenwärtig behandeln bzw. behandelt oder untersucht haben, über Ursache, Beginn, Art, Verlauf und voraussichtliche Dauer des Leidens sowie über den Grad der Berufsunfähigkeit.Arztberichte
- Der VN muss eine Beschreibung des zuletzt ausgeübten Berufs, seiner Stellung und Tätigkeit im Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit sowie eine Beschreibung über danach eingetretene Veränderungen beilegen.Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
- Ferner muss der VN Angaben zum Einkommen aus beruflicher Tätigkeit machen.Angaben zum Einkommen
- Schließlich ist eine Aufstellung u. a. der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenanstalten erforderlich, bei denen der VN in Behandlung war oder sein wird, eine Aufstellung von Versicherern, Sozialversicherungsträgern und sonstigen Versorgungsträgern, bei denen der VN ebenfalls Leistungen wegen Berufsunfähigkeit geltend machen könnte, sowie eine Aufstellung über den derzeitigen Arbeitgeber des VN und frühere Arbeitgeber.Aufstellung über Behandler, Versicherer, Behörden und Arbeitgeber
Mitwirkung an Erhebung von Gesundheitsdaten bei Dritten
Über die vorstehenden Unterlagen und Informationen hinaus will der Versicherer regelmäßig personenbezogene Gesundheitsdaten bei Dritten – etwa bei Behandlern – erheben. Hierbei hat er die (strengen) Regelungen des § 213 VVG zu beachten. Danach muss u. a. die Kenntnis der Daten für die Beurteilung der Leistungspflicht erforderlich sein und der VN muss seine Einwilligung in deren Erhebung erteilt haben.
Strenge Regeln für Einwilligungserfordernis
Zu dem Einwilligungserfordernis haben das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 17.07.2013, Az. 1 BvR 3167/08, Abruf-Nr. 132608 und Urteil vom 23.10.2006, Az. 1 BvR 2027/02, Abruf-Nr. 063400) und der BGH (Urteil vom 22.02.2017, Az. IV ZR 289/14, Abruf-Nr. 193773 und Urteil vom 05.07.2017, Az. IV ZR 121/15, Abruf-Nr. 195754) bereits Folgendes entschieden:
- Der VN ist nicht verpflichtet, in die Erhebung seiner Gesundheitsdaten durch Abgabe einer allgemeinen Schweigepflichtentbindungserklärung generell einzuwilligen. Klauseln in Versicherungsbedingungen, die eine derartige Obliegenheit vorsehen, sind unwirksam.
- Der VN muss bei der Erhebung von Daten durch den Versicherer nur insoweit mitwirken, als diese zur Prüfung seiner Leistungspflicht relevant sind. Hierzu hat eine gestufte, einem Dialog vergleichbare Datenerhebung zu erfolgen. Die Obliegenheit des VN erstreckt sich also zunächst auf die Mitteilung weniger weitreichender und persönlichkeitsrelevanter Vorinformationen, die dem Versicherer eine Konkretisierung ermöglichen, welche Informationen für die Leistungsprüfung relevant sind.Versicherer an gestufte Daten- erhebung gebunden
Wichtig | Dem VN bleibt es natürlich unbenommen, von sich aus eine unbeschränkte Schweigepflichtentbindungserklärung abzugeben und die Leistungsprüfung so zu beschleunigen.
Einwilligung in die Datenerhebung muss freiwillig sein
Das LG Berlin betonte, dass den Versicherer eine Einwilligung zur Erhebung von Gesundheitsdaten bei Dritten außerdem nur berechtigt, wenn sie freiwillig erfolgt. Nur wer um seine Rechte und Pflichten weiß (bzw. wissen kann), so das LG, kann sich dieser freiwillig – sehenden Auges – begeben.
Wichtig | Freiwilligkeit setzt, so das LG Berlin, voraus, dass der Versicherer den VN vor Abgabe seiner Einwilligungserklärung darauf hinweist, dass er die Erhebung von Gesundheitsdaten bei Dritten gänzlich verwehren und die Daten selbst beschaffen darf, und zwar selbst dann, wenn die Daten ohne Zweifel für die Leistungsprüfung notwendig sind. Der VN ist außerdem darauf hinzuweisen, dass in dem Fall, in dem er sich gegen eine Selbstbeschaffung entscheidet, er nur an einer gestuften Datenerhebung mitwirken muss, und ferner darauf, dass es ihm freisteht, dem Versicherer sofort eine umfassende Datenerhebung zu ermöglichen. Schließlich muss er darauf hingewiesen werden, dass ein Widerruf der Einwilligung die Rechtmäßigkeit der bis dahin erfolgten Datenerhebung nicht berührt.
Im Fall des LG Berlin fehlten diese Hinweise, weshalb die bei Übersendung der Antragsunterlagen geforderte Einwilligung in die Datenerhebung rechtswidrig war. Dieses rechtswidrige Mitwirkungsverlangen führe – so das LG Berlin – ohne Weiteres zur Fälligkeit der beanspruchten Leistungen, und zwar unabhängig davon, ob das Verlangen „notwendige Erhebungen“ betreffe.
Praxistipp | Gibt der Versicherer an, welche Informationen und Unterlagen er zur Beurteilung des Versicherungsfalls konkret benötigt, ist der VN nicht zwangsläufig zu deren Beibringung verpflichtet. Vielmehr ist stets zu prüfen, ob das Mitwirkungsverlangen rechtmäßig ist. |
Bedeutung des Urteils für die Praxis
Die Fälligkeit der Versicherungsleistungen und Reichweite der Mitwirkungsobliegenheit des VN spielen in vielen BU-Leistungsfällen eine zentrale Rolle. Die Entscheidung des LG Berlin bestätigt einmal mehr, dass die beanspruchten Versicherungsleistungen fällig werden, wenn der VN an der Leistungsprüfung im gebotenen Umfang mitgewirkt hat. Das gilt auch (und erst recht), wenn der Versicherer keine Leistungsentscheidung in Form eines Anerkenntnisses oder einer Ablehnung trifft. Bemerkenswert ist die weitere Feststellung, wonach ein rechtswidriges Mitwirkungsverlangen des Versicherers ohne Weiteres zur Fälligkeit der beanspruchten Leistungen führt. Ob sich weitere Gerichte dieser versichertenfreundlichen Ansicht anschließen, bleibt abzuwarten.
AUSGABE: VVP 8/2022, S. 21 · ID: 48414713