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ErmessenDas Auswahlermessen bei mehreren Haftungsschulden ist zu dokumentieren
| Die verfahrensrechtlich gebotene Begründung von Ermessensentscheidungen in schriftlichen Verwaltungsakten dient dazu, durch Verfahren einen Schutz des Grundrechts auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Fehlt es daran, kann dies i. d. R. als Indiz für einen Ermessensausfall gewertet werden. Das hat das OVG Schleswig-Holstein entschieden. |
Sachverhalt
Mit ihrem Antrag, die Berufung gegen das Urteil des VG zuzulassen, verteidigt die Beklagte (B) die Inanspruchnahme des Klägers (K) für rückständige Gewerbesteuern und Nebenforderungen der A GmbH im Wege eines Haftungsbescheids in Gestalt des Widerspruchsbescheids für die Steuerjahre 2013 und 2014. Nomineller Geschäftsführer der A GmbH war von 2005 bis 2009 der Vater des K und von Januar 2013 bis März 2015 der K. Das VG hat den Haftungsbescheid als rechtswidrig aufgehoben. Während für 2008 bis 2012 die Festsetzungsverjährung greife, mangele es hinsichtlich der Haftung des K für 2013 und 2014 auf der Rechtsfolgenseite an einer fehlerfreien Ermessensausübung.
Entscheidungsgründe
Der inhaltlich auf die Steuerjahre 2013 und 2014 beschränkte Antrag der B auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber unbegründet (OVG Schleswig-Holstein (23.4.25, 6 LA 4/24, Abruf-Nr. 248744). Die geltend gemachten Zulassungsgründe, also der ernstliche Zweifel daran, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung richtig ist (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor. Es ist jedenfalls nicht hinreichend dargelegt, dass sie vorliegen, 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2 VwGO.
Merke | Werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) geltend gemacht, ist darzulegen, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten zumindest insoweit infrage gestellt werden, dass der Erfolg des Rechtsmittels bei der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Überprüfung ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg. Nicht ausreichend ist allerdings die mit der Begründung eines Rechtsmittels notwendig verbundene Kritik an der erstinstanzlichen Entscheidung. Erforderlich ist vielmehr, dass sich der Antragsteller mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt und im Einzelnen substanziiert ausführt, welche Erwägungen er für unzutreffend hält und aus welchen Gesichtspunkten sich ergibt, dass diese Erwägungen unrichtig sind. Es ist darzulegen, dass und aus welchen Gründen das verwaltungsgerichtliche Urteil auf diesen – vorliegend aus Sicht der Beklagten fehlerhaften – Erwägungen beruht. |
Relevanz für die Praxis
Auch für das betroffene Amt genügt es nicht, das erstinstanzliche Vorbringen in entsprechenden Fallkonstellationen bloß zu wiederholen. Ebenso wenig genügt es, die eigene Rechtsauffassung schlicht darzustellen. Denn damit wird nicht geleistet, dass der Streitstoff geboten durchdrungen und aufbereitet wird (vgl. OVG Schleswig 2.10.20, 4 LA 141/18).
Kommen mehrere Haftungsschuldner in Betracht – und ist insbesondere nicht auszuschließen, dass neben einem formellen Geschäftsführer auch ein faktischer Geschäftsführer in Anspruch zu nehmen sein könnte –, muss die Behörde hierzu ihre Erwägungen darlegen. Entsprechende Überlegungen haben nicht nur internen Charakter, sondern müssen im Haftungsbescheid selbst niedergelegt werden. Diese Forderung ist – so zutreffend das OVG – weder praxisfremd noch unklug oder „nicht taktisch“. Sie dient vielmehr dem in der formellen Begründungspflicht (§ 39 Abs. 1 S. 3 VwVfG) zum Ausdruck kommenden Gebot, die (wirklich) tragenden Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben.
Merke | Das Gebot, dass die Behörde ihre Erwägungen darlegen muss, ist Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und dient dem Zweck, durch Verfahren einen Schutz des Grundrechts auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Da die Gerichte bei der nach § 114 S. 1 VwGO vorzunehmenden Prüfung nur die Erwägungen berücksichtigen dürfen, die die Behörde tatsächlich angestellt hat (vgl. BVerwG 11.5.16, 10 C 8.15), wirkt sich das formelle Begründungserfordernis auch materiell-rechtlich aus. Fehlt es an einer Begründung der Ermessensentscheidung i. S. v. § 39 Abs. 1 S. 3 VwVfG, kann dies regelmäßig als Indiz für einen Ermessensausfall gewertet werden. |
Nur wenn eindeutige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen tatsächlich – wie vorliegend behauptet – ausgeübt hat, als sie den Verwaltungsakt erlassen hat, mag ausnahmsweise von einer ermessensfehlerfreien Entscheidung auch ausgegangen werden können, wenn die mitgeteilten Gründe fehlen oder unvollständig sind (vgl. VGH München 15.2.19, 8 CS 18.2364). Vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ist allerdings – so das OVG – eine strenge Handhabung solcher Ausnahmefälle erforderlich, da das Gericht in der Lage sein muss zu überprüfen, ob die Ermessensbetätigung ordnungsgemäß ist.
Merke | Entsprechende Anhaltspunkte – etwa in der Behördenakte – müssen zweifelsfrei zu erkennen geben, ob eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung in objektivierbarer Weise stattgefunden hat. |
Wenn eine Behörde anfängt, im Gerichtsverfahren „Argumente“ nachzuschieben, bzw. meint, dass sie ihre Ermessenserwägungen gem. § 114 S. 2 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch ergänzen könne, ist sehr genau zu prüfen, ob im Rahmen der Verwaltungsentscheidung das Ermessen tatsächlich ausgeübt worden ist oder wesentliche Teile der Ermessenserwägungen nicht ausgetauscht oder gar erst nachträglich nachgeschoben werden.
AUSGABE: PStR 9/2025, S. 197 · ID: 50458241