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Cum/ExCum/Ex-Geschäfte sind jetzt auch vor dem FG
| In der Vorlage einer formal richtigen, aber inhaltlich unzutreffenden Steuerbescheinigung liegt eine Täuschung über die Tatsache der Erhebung der Kapitalertragsteuer. Das hat das FG Hamburg entschieden. |
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten um die steuerliche Behandlung von sog. Cum/Ex-Geschäften einer Organgesellschaft der Klägerin (K) in 2007 bis 2009. Bei den sog. Cum/Ex-Geschäften handelt es sich – allgemein gesprochen – um eine Form des klassischen Dividendenstrippings: Die Aktien werden kurz vor oder am Dividendenstichtag und damit mit („cum“) Dividendenanspruch von einem Erwerber gekauft. Die Lieferung der Aktien erfolgt nach den Börsenregularien regelmäßig nicht am Kauftag, sondern zwei Börsentage danach. Dies wird nach den handelstypischen Abkürzungen als „t + 2“-Lieferung bezeichnet. erfolgt die Lieferung ohne Dividendenanspruch („ex“).
Die Abwicklung erfolgte bei einem klassischen Inhaberverkauf über die Börse folgendermaßen: Jeder Käufer, der eine Aktie vor dem Dividendenstichtag erwarb (also „cum“), diese aber erst nach dem Dividendenstichtag geliefert bekam, erhielt neben der „ex“-Aktie einen Betrag i. H. d. Nettodividende gutgeschrieben. Spiegelbildlich zu dieser Gutschrift beim Käufer brachte die Depotbank beim Verkäufer einen Sperrvermerk an, der am Dividendenstichtag dazu führte, dass dem Verkäufer die Nettodividende nicht mehr gutgeschrieben wurde, obwohl die Aktie noch in seinem Depot war. Die Steuer auf die Dividende hatte zuvor bereits der Emittent abgeführt.
Bei einem sog. Leerverkauf (d. h., wenn die Aktie nicht im Depot des Verkäufers war) konnte kein Sperrvermerk bei Börsengeschäften angebracht werden. Dennoch wurde dem Käufer ein Betrag i. H. d. Nettodividende gutgeschrieben. Der Verkäufer erhielt die Nettodividende. Für die das Geschäft abwickelnden Kreditinstitute war dies unproblematisch, weil der Verkäufer zugleich mit dem Betrag belastet wurde, der dem Käufer gutgeschrieben worden war.
Eine vorliegend involvierte Bank (B) führte in den Streitjahren außerbörsliche Aktiengeschäfte (sog. over the counter – OTC-Geschäfte) rund um den Dividendenstichtag aus. Bei diesen außerbörslichen Geschäften gibt es den oben beschriebenen Sperrvermerk regelmäßig nicht. Bei einem OTC-Geschäft sind die Depotbanken des Käufers und des Verkäufers i. d. R. nicht daran beteiligt, wenn ein schuldrechtliches Geschäft zustande kommt. Sie übernehmen i. d. R. nur Funktionen, wenn die sachenrechtliche Erfüllung abgewickelt wird. Auch folgen OTC-Geschäfte keinen festen Regeln. Sie können z. B. taggleich abgeschlossen und erfüllt (t = 0) werden, können eintägige Erfüllungsfristen ausweisen (t + 1) oder jeden anderen Termin vorsehen (t + 2, 3 …). Die Wertpapiersammelbank wird bei OTC-Geschäften im Gegensatz zu Börsengeschäften nicht über den Handels-(Schluss-)Tag informiert.
K beantragte für die Streitjahre in der Anlage WA, dass Steuerabzugsbeträge anzurechnen sind. Dabei sah die Anlage WA unter der Überschriftszeile „Anzurechnende Beträge/Steuerabzug“ vor, dass in Zeile 3a („Kapitalertragsteuer“) und Zeile 6 („Solidaritätszuschlag ...“) entsprechende Beträge eingetragen werden konnten. Beigefügt war jeweils eine Auflistung. K wurde erklärungsgemäß veranlagt. Später wurden die Bescheide geändert und der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben. 2016 wurden Ermittlungsverfahren u. a. gegen Mitarbeiter der B und der K eingeleitet. 2020 gab es eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung „wegen der Beteiligung an den o. a. „Cum/Ex-Geschäften“ in 2007 bis 2011. In 2020 gab es weitere geänderte Bescheide. Das FG wies die Klage zurück.
Entscheidungsgründe
Abruf-Nr. 243710
Die Festsetzungsfrist war in allen streitgegenständlichen Jahren nicht abgelaufen. Die Voraussetzungen einer Änderungsnorm lagen jeweils vor (FG Hamburg 9.11.23, 6 K 228/20, Abruf-Nr. 243710). Das FG geht nach § 169 Abs. 2 S. 2 AO von einer Frist von zehn Jahren aus, weil vorliegend Steuern hinterzogen wurden, § 370 AO. Das Gericht nimmt dabei Bezug auf strafgerichtliche Ausführungen, denen es sich ohne weitere Beweisaufnahme anschließt.
Merke | Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache ist jeder Lebensvorgang, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (BFH 21.2.17, VIII R 46/13, BStBl II 17, 745). Beweismittel ist jedes Erkenntnismittel, das geeignet ist, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Tatsachen zu beweisen (BFH 27.10.92, VIII R 41/89, BStBl II 93, 569). Maßgeblicher Zeitpunkt für das nachträgliche Bekanntwerden neuer Tatsachen ist der Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung der Verfügung zum Steuerbescheid (BFH 27.11.01, VIII R 3/01, BFH/NV 02, 473). |
Relevanz für die Praxis
Das FG Hamburg führt umfangreich zu den steuer- und zivilrechtlichen Anforderungen bzw. Grundsätzen aus, die für die Entscheidungsfindung herangezogen wurden, etwa wem Aktien zu einem bestimmten Zeitpunkt zuzurechnen waren, wer Eigentümer der Dividendenkompensationszahlung geworden ist und damit Erträge i. S. v. § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 4 EStG erzielt hat, was es mit einer Steuerbescheinigung auf sich hat („Die gegenteilige Ansicht, eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer sei unabhängig von ihrer Erhebung allein aufgrund der Steuerbescheinigung möglich, ist abwegig […] und mit Wortlaut, Gesetzessystematik sowie Sinn und Zweck von § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG […] nicht vereinbar“) oder mit einer Berufsträgerbescheinigung und wann ein Verwaltungsakt durch unlautere Mittel i. S. v. § 130 Abs. 2 Nr. 2 AO erwirkt worden ist. Fazit: ausgesprochen komplex.
Merke | Unter einer Täuschung ist eine Irreführung zu verstehen. Dazu zählt jedes Verschweigen oder Vortäuschen von Tatsachen, durch das die Willensbildung der Behörde unzulässig beeinflusst wird. Subjektiv ist keine direkte Absicht (dolus directus ersten Grades) erforderlich, das FA zu einer Entscheidung zu veranlassen. |
AUSGABE: PStR 11/2024, S. 244 · ID: 49978749