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Pflege„Pflegekräfte wünschen sich digitale Assistenzsysteme!“
| Wie lassen sich für die Pflege Mehrwerte durch Digitalisierung heben? Mit dieser Forschungsfrage startete im August 2022 das Projekt „Recommender System zur Pflegemaßnahmenplanung in der stationären Pflege – iPAB“ des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Erlangen (vgl. iww.de/s12772. Im Juli 2025 endet der Projektzeitraum – Zeit für eine Bilanz. Die zog Oliver Stritzel, Senior Engineer im Bereich Supply Chain Services des Fraunhofer IIS, im Gespräch mit Ursula Katthöfer (textwiese.com). |
Frage: Herr Stritzel, wie ist das Projekt iPAB angelegt?
Antwort: Ziel ist, durch Künstliche Intelligenz bei der individuellen Pflegeplanung auf den Gesamtprozess 44 Prozent der Zeit einzusparen. Für unser Projekt arbeiten wir mit zwei Kliniken in Regensburg und im Fichtelgebirge sowie mit einem Softwaredienstleister und dessen digitaler Pflegekurve zusammen. Beide Kliniken dokumentieren die individuellen Pflegemaßnahmen bereits seit drei bis vier Jahren nicht mehr auf Papier, sondern digital, sodass wir für das Training der KI auf deren historische Daten zurückgreifen konnten.
Frage: Lassen Sie uns die individuelle Pflegeplanung in den Projekthäusern am Beispiel eines multimorbiden Patienten, z. B. mit Niereninsuffizienz, durchspielen. Was dokumentiert die Pflegekraft?
Antwort: Sie schätzt mithilfe des Katalogsystems EpaAC in einem ersten Schritt den Zustand des Patienten nach Kategorien wie Ernährung, Mobilität und Ausscheidung ein und speichert die Antworten auf einem Tablet oder Laptop. Bei Ausscheidung würde „Katheter“ aufgenommen. Im zweiten Schritt folgt die Planung der Pflegemaßnahmen nach dem Leistungskatalog LEP, z. B. „Katheter reinigen“ sowie „auf Infektion prüfen“. Bei einem multimorbiden Patienten schlägt der LEP-Katalog mit insgesamt 800 Maßnahmen schnell bis zu 50 individuelle Maßnahmen vor. Hinzu kommen hausinterne Vorgaben wie der Nachtdurchgang. Diese Vielzahl macht die Pflegeplanung unübersichtlich und zeitaufwendig. Die Maßnahmen sind kaum sortiert, dennoch soll die Pflegekraft sie unter Zeitdruck gewissenhaft prüfen. Laut einer Studie des Fraunhofer IML werden 54 Prozent der Pflegemaßnahmen unter Zeitdruck geplant.
Frage: Was ist der iPAB-Lösungsvorschlag für mehr Übersichtlichkeit und weniger Zeitdruck?
Antwort: Den Berg an möglichen Maßnahmen kann man zwar nicht so einfach verringern, aber filtern. Die KI wird an den historischen Daten des Hauses trainiert und kann geeignete Maßnahmen hervorheben oder das Mapping um weniger bekannte Maßnahmen ergänzen. Dabei gibt es die Gefahr, dass die in den Vorjahren aufgebaute Datenbasis nicht optimal ist. Denn Pflegekräfte haben diese Daten wie gesagt unter Zeitdruck eingegeben. Außerdem wollten sie damit keine KI trainieren, sondern rechtliche Vorgaben erfüllen. Die größte Arbeit in unserem Projekt war daher, die Daten zu bereinigen und den Datensatz sinnvoll zusammenzustellen.
Frage: Ließ sich das Ziel, 44 Prozent des Zeitaufwands einzusparen, erreichen?
Antwort: Im Projekt gehen wir von einem durchschnittlichen Zeitaufwand von fünf Minuten für die individuelle Maßnahmenplanung aus. Wir versuchen, sie auf ungefähr zwei Minuten zu reduzieren. Ob das klappt, evaluieren wir jetzt auf Basis von zwei imaginären Fällen. Wir messen die Dauer der Pflegeplanung nach der Einschätzung einmal mit und einmal ohne KI, um zu vergleichen, ob wir mit Unterstützung der KI schneller sind. Doch ob es nun zehn, 20 oder 44 Prozent Zeitersparnis werden, ist weniger wichtig. Schon zwei Minuten weniger Aufwand pro Maßnahmenplanung läppern sich, es geht um die Masse. Wenn jede Pflegekraft am Tag nur zehn Minuten spart, kommen auf das Jahr gerechnet viele Stunden und Tage zusammen.
Frage: Sind Pflegekräfte denn dazu bereit, sich von der KI helfen zu lassen?
Antwort: Der oben genannten IML-Studie zufolge könnten sich 77 Prozent von 59 befragten Pflegefachkräften vorstellen, sich durch technische Assistenzsysteme unterstützen zu lassen. Das deckt sich mit den Erfahrungen aus unserem Projekt: Die Akzeptanz ist extrem hoch. Pflegekräfte wünschen sich digitale Hilfsmittel. In ihrem Privatleben nutzen sie ständig technische Geräte, doch bei der Arbeit hängen sie technologisch oft zurück. Einige Pflegekräfte meinen sogar, dass ihr Beruf ein besseres Standing bekäme und attraktiver wäre, wenn innovative Technologien eingesetzt würden.
Frage: Könnte iPAB in Zukunft die Rolle qualifizierter Pflegefachkräfte übernehmen, wenn diese auf dem Arbeitsmarkt fehlen?
Antwort: Erstmal auf keinen Fall. Es ist ein Assistenzsystem, um Arbeit zu erleichtern. Das Stichwort lautet Human-in-the-Loop: Der Mensch hat die Entscheidungshoheit. Zudem schränkt der EU AI-Act vieles ein. Unsere Motivation ist vielmehr, den bereits bestehenden Personalengpass in der Pflege abzufedern, besonders wenn die Arbeitskräfte der geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Wir können hoffen, dass die weißen KI-Ritter einreiten, um uns zu retten. Oder wir schaffen eine realistische Vorstellung vom Gesundheitswesen der Zukunft mit digitalen Standards, die flächendeckende Systeme ermöglichen. Schön wäre, wenn wir unser System und die gelernten Modelle in Zukunft über mehrere Krankenhäuser verteilen könnten. Jedes Krankenhaus könnte ein lokales Modell auf seinen Daten trainieren und bestimmte Modellparameter in ein globales Modell zurückfließen lassen. Ein neues Krankenhaus, welches das System frisch einbinden möchte, könnte dann mit dem globalen Modell starten und es Schritt für Schritt für die eigenen Zwecke feinjustieren. Wir würden sehr gerne weiter forschen, um unsere Lösungen zu skalieren.
Herr Stritzel, vielen Dank!
AUSGABE: CB 5/2025, S. 4 · ID: 50384581