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ArzthaftungBGH: Therapiewahl ist nicht allein Sache des Arztes, binden Sie den Patienten ein!
| Stehen für eine Erkrankung mehrere Behandlungsmethoden zur Verfügung, kann der Arzt nicht allein entscheiden, welche angewendet werden soll. In diese Entscheidung sind nach dem Grundsatz des „Shared Decision Making“ die Patienten zwingend mit einzubeziehen. Geschieht dies nicht, besteht das Risiko, dass allein deswegen die Aufklärung der Patienten unwirksam wird. Das führt zur Rechtswidrigkeit des gesamten Eingriffs und erhöht damit das Haftungsrisiko für den Arzt erheblich – denn der Arzt haftet im Prinzip für jeden negativen Ausgang (auch wenn er diesen nicht verschuldet hat). Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aktuellen Urteil klargestellt, wo die alleinige Therapiewahlfreiheit des Arztes endet und der Patienten einzubinden ist (Urteil vom 21.01.2025, Az. VI ZR 204/22). Die Entscheidung ist insbesondere für Ärzte relevant, die im operativen Bereich tätig sind. |

Inhaltsverzeichnis
Was war passiert?
Im Jahr 1998 wurde eine 12-jährige Patientin wegen Gleichgewichtsstörungen behandelt. Aufgrund einer Fehlhaltung und Instabilität zwischen den Halswirbelkörpern 1 und 2 wurde ein operativer Eingriff vorgenommen. Dabei wurde zwischen den Halswirbeln ein Knochenspan eingepasst und mit einer Drahtumschlingung befestigt. Während der anschließenden Rehabilitationsbehandlung stürzte die Patientin und die Drahtverbindung lockerte sich. Bei einem Folgeeingriff wurde die Drahtumschlingung erneuert – allerdings wurde dabei die Schlinge zu eng gezogen. Nach den Eingriffen litt die Patientin an einer inkompletten Querschnittslähmung.
Die Haftungsklage der Patientin und ihrer Eltern hatte vor dem Landgericht (LG) Magdeburg Erfolg (Urteil vom 07.12.2016, Az. 9 O 1936/15). Das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg wies die Klage ab (Urteil vom 23.03.2021, Az. 1 U 1/17). Der BGH hob diese Entscheidung auf und verwies das gesamte Verfahren ans OLG Naumburg zurück.
Darum hob BGH das Verfahren an die Vorinstanz zurück
Der BGH bekräftigt zunächst seine bisherige Rechtsprechung. Demnach sei die Auswahl der Therapiemethode primär Sache des Arztes, dem ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt werde. Dennoch habe das OLG Naumburg einige wichtige Aspekte nicht berücksichtigt.
Der Vorteil der gewählten Behandlungsmethode war unklar
Zwar sei grundsätzlich der Arzt für die Therapiewahl verantwortlich. Allerdings müsse ein höheres Risiko durch besondere Sachzwänge des konkreten Falles oder eine günstigere Heilungsprognose sachlich gerechtfertigt sein. Insbesondere schulde der Arzt dem Patienten die Anwendung einer Therapie, die dem jeweiligen Stand der Medizin entspricht. Ab wann eine bestimmte Behandlungsmethode veraltet und überholt ist, sei im Einzelfall festzustellen. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn neue Methoden risikoärmer sind und/oder bessere Heilungschancen bieten, in der medizinischen Wissenschaft im Wesentlichen unumstritten sind und deshalb ihre Anwendung verantwortet werden kann. Für eine Übergangszeit ist es zulässig, nach älteren, bis dahin bewährten Methoden zu behandeln, sofern es nicht zwingend ist, die Patienten an eine besser ausgestattete Klinik zu überweisen.
Im hiesigen Fall hatte das OLG Naumburg nicht hinreichend erörtert, ob die gewählte Behandlungsmethode mit der Verdrahtung im Behandlungszeitpunkt noch angemessen gewesen sei oder ob man stattdessen zu einer Verschraubung hätte greifen müssen. So seien insbesondere die Vor- und Nachteile nicht im Einzelnen dargelegt worden. Auch aus den Sachverständigengutachten könne insoweit kein entscheidender Vorteil der gewählten Behandlungsmethode entnommen werden. Hierzu sei noch eine weitere Aufklärung erforderlich.
Eltern der Patientin wurden nicht wirksam über Alternativen aufgeklärt
Das angegriffene Urteil wurde auch deswegen aufgehoben, weil es Bedenken an der wirksamen Aufklärung der Eltern der Patientin gab. Da die Patientin selbst minderjährig war, kam es auf die Information der Eltern an. Auch wenn grundsätzlich die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes ist, erfordert das Selbstbestimmungsrecht des Patienten eine Unterrichtung über alternative Behandlungsmöglichkeiten, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (§ 630e Abs. 1 S. 2 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB; vgl. den Beitrag im CB 08/2024, Seite 14.]).
Im vorliegenden Fall hätten die Eltern an der Therapiewahl beteiligt werden müssen. Hier hatten auch 1998 schon neben der angewandten Verdrahtungsmethode unterschiedliche Verschraubungstechniken zur Verfügung gestanden, wobei die Eingriffe mit unterschiedlichen Risiken von Revisionseingriffen und Komplikationen verbunden gewesen seien. Eine entsprechende Aufklärung über alternative Behandlungsmethoden (ggf. auch in einem anderen Krankenhaus) sei im vorliegenden Fall nicht erfolgt. Insbesondere sei die Verpflichtung, über Behandlungsalternativen aufzuklären, nicht deswegen entfallen, weil die alternative Behandlungsmethode nur in anderen Krankenhäusern hätte angewendet werden können. Hier habe es sich insbesondere nicht um ein neues Verfahren gehandelt, sondern die Verschraubung hätte sowohl im behandelnden Krankenhaus als auch in nahe gelegenen Einrichtungen erfolgen können.
OLG hat die Maßstäbe der Beweislast zur Frage der Kausalität vermischt
Auch wenn ein Aufklärungsfehler vorliegt, bedeutet dies nicht, dass dieser auch kausal geworden ist für den Eingriff und die inzwischen beklagte Folge. Grundsätzlich trägt der Patient die Beweislast dafür, dass der Gesundheitsschaden durch einen nicht wirksam konsentierten Eingriff verursacht worden ist. Auch bei ungenügender Aufklärung über Behandlungsalternativen muss der Patient beweisen, dass sein Gesundheitsschaden auf der Behandlung beruht (CB 09/2024, Seite 16 f.). Hier hatte das OLG hinreichend den Sachverhalt aufgeklärt. Daher reicht es aus, dass der Senat hinreichend bzw. überwiegend wahrscheinlich von der kausalen Verursachung ausgehe.
Merke | Grundsätzlich liegt bei einem Eingriff, der mangels wirksamer Einwilligung schon von sich aus rechtswidrig ist, der Primärschaden nach fehlerhafter Aufklärung bereits in der Operation als solcher. Dieser Eingriff muss dann äquivalent und kausal sein für den geltend gemachten Gesundheitsschaden. Für die Kausalität gilt hier nicht das strenge Beweismaß des § 286 Zivilprozessordnung (ZPO), sondern nur das erleichterte Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO. |
Das OLG Naumburg hatte die Frage aufgeworfen, ob es nicht auch zum Eintritt der Querschnittslähmung gekommen wäre, wenn von Anfang die Verschraubungsmethode gewählt worden wäre. Dieser hypothetische Kausalverlauf sei jedoch nicht zu berücksichtigen, denn hier liege die Beweislast aufseiten der behandelnden Ärzte. Diese müssten dann beweisen, dass derselbe Misserfolg auch nach Wahl einer anderen Behandlungsmethode eingetreten wäre. Hier hatte das OLG Naumburg aber angenommen, dass zunächst die Patientin bzw. die Eltern hätte beweisen müssen, dass man sich für die Behandlungsalternative entschieden hätte, was dann nicht zum weiteren Gesundheitsschaden geführt hätte. Hier seien die Beweislastmaßstäbe vermischt worden.
Der BGH stellt noch einmal klar, dass die Patientenseite nicht beweisen muss, dass sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die alternative Behandlungsmethode eingewilligt hätte (vgl. CB 10/2022, Seite 11 f.; CB 04/2022, Seite 9 ff. und CB 08/2021, Seite 7 ff.). Denn schon die fehlerhafte Aufklärung führe dazu, dass auch die Einwilligung in die Operation fehlerhaft sei, was diese per se rechtswidrig mache. Die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass der Patient sich auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu der dann tatsächlich durchgeführten Behandlung entschlossen hätte, trifft den Behandler. Dabei muss der Patient vorher deutlich machen, dass in einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Plausibel darlegen muss der Patient also nur, dass er in der vorliegenden Konstellation möglicherweise anders entschieden hätte. Er muss hingegen nicht darlegen, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung anders entschieden hätte.
- Wie weit reicht der „Anscheinsbeweis“ im Arzthaftungsprozess? – Drei aktuelle Urteile (CB 09/2024, Seite 16 f.)
- Aufklärung über Therapiealternativen mangelhaft: Patientin erhält 50.000 Euro Schmerzensgeld (CB 08/2024, Seite 14 f.)
- Arzthaftungsprozesse: BGH stärkt Patientenrechte (CB 10/2022, Seite 11 f.)
- BGH definiert Maßstäbe zur hypothetischen Einwilligung: Was müssen (Chef-)Ärzte beweisen? (CB 04/2022, Seite 9 ff.)
- Aufklärung und Einwilligung bei „Neulandmethoden“: BGH präzisiert Anforderungen (CB 08/2021, Seite 7 ff.)
AUSGABE: CB 5/2025, S. 8 · ID: 50371817