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Aus- und Weiterbildung„Virtual Reality erleichtert den Transfer vom anatomischen Wissen zur klinischen Anwendung!“
| Medizinstudierende am Universitätsklinikum Bonn (UKB) können Lehrinhalte der Chirurgie nun in einem Virtual-Reality-(VR)-Space erleben. Dr. Nils Sommer, Facharzt für Viszeralchirurgie, ist Oberarzt am UKB und Lehrkoordinator der Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie. Er hat den VR-Space gemeinsam mit den Assistenzärzten Dr. Jan Arensmeyer und Philipp Feodorovici als Pilotprojekt entwickelt. Ursula Katthöfer (textwiese.com) fragte ihn, welche Vorteile die chirurgische Aus- und Weiterbildung durch die VR-Brille für Studierende und Krankenhäuser hat. |
Frage: Was sehen Studierende, wenn sie die VR-Brille aufsetzen?
Antwort: Im virtuellen Raum sehen sie eine 3-D-Rekonstruktion von CT- oder MRT-Bildern. Die Software bildet aus den Daten eines Patienten, der radiologisch untersucht wurde, einen virtuellen Patienten. Sie ermöglicht eine detailgetreue Sicht auf das Körperinnere. Das farbige Bild lässt sich so kontrastieren, dass der Fokus z. B. auf den Blutgefäßen, den Blutgefäßen in den Organen oder den Atemwegen liegt. Der virtuelle Patient hat kein Gesicht und keine Haut, obwohl auch die Haut sich darstellen ließe. Zudem sehen die Studierenden rechts vom eigentlichen Bildinhalt einen Werkzeugkasten, um das 3-D-Bild zu drehen und zu schwenken, zu verkleinern oder zu vergrößern.
Frage: Lassen sich unterschiedliche Krankheitsbilder erkennen?
Antwort: Genau darum geht es uns. Die Studierenden sehen das genaue Abbild eines erkrankten Menschen und können z. B. einen Lungen- oder Lebertumor sehen. Es geht also nicht mehr nur um die Anatomie in gesundem Zustand, sondern auch um die Krankheitslehre. Unsere Studierenden sind im 8. Fachsemester und möchten konkrete Fälle besprechen. Im VR-Space sind die Bilder besser erlebbar und weniger abstrakt als auf dem Computermonitor. Das erleichtert den Transfer vom anatomischen Wissen zur klinischen Anwendung.
Frage: Welche Technik wird für einen VR-Space benötigt?
Antwort: Wir nutzen eine Kombination aus Consumer Hardware, wie man sie im Elektronikmarkt bekommt, und aus professioneller Software, die von einem Schweizer Start-up speziell für unsere Anforderungen angepasst wurde. Die Software ermöglicht das Umwandeln der PACS-Daten zu einer 3-D-Rekonstruktion. Wir haben uns bewusst gegen eine All-in-one-Package-Lösung entschieden, um Einfluss auf die Entwicklung nehmen zu können. Zudem haben wir aktuell zehn VR-Brillen, die parallel laufen können, und bildleistungsstarke Rechner vor Ort in einem Schrank.
Frage: Wie ist das Feedback der Studierenden?
Antwort: Der VR-Space kommt super an, wie unsere deskriptive statistische Auswertung zeigt. Wir untersuchen ebenfalls, ob wir einen didaktischen Impact erzielen: Lernen die Studierenden durch den VR-Space wirklich besser? Sind sie motivierter, weil sie ihn toll und spannend finden? In jedem Fall werden wir den VR-Space fest in unser chirurgisches Blockpraktikum implementieren. Der nächste logische Schritt ist das Remote-Learning. Die Studierenden könnten sich über die Fakultät eine günstige VR-Brille ausleihen und via cloudbasierter Rechenleistung außerhalb des Präsenzkurses damit lernen. Die Softwarefirma wird anbieten, Unterrichtseinheiten aufzuzeichnen. Wir nennen das 4-D-Recording. Mit dem VR-Space schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Studierenden erfahren nicht nur die Lehrinhalte, sondern erleben auch die technischen Neuerungen. So zeigen wir die Entwicklungen am chirurgischen Markt, die im Klinikalltag weniger im Vordergrund stehen.
Frage: Könnte der VR-Space auch für Assistenzärzte zur OP-Vorbereitung oder in Tumorboards genutzt werden?
Antwort: Für die chirurgische Fallplanung ist der VR-Space sicher geeignet, weil er beispielsweise die Lagebeziehung eines Tumors zu den umgebenden Gewebestrukturen wie Blutgefäßen oder innerhalb eines Lungenlappens verdeutlicht. Auch wenn fünf Anfänger im Tumorboard sitzen, kann ein Operateur gut erklären, wie er den Eingriff plant und warum er sich für ein bestimmtes Vorgehen entscheidet. Entscheidend bleibt natürlich, was der Operateur letztlich im OP vorfindet.
Frage: Erlaubt die Weiterbildungsordnung das Lernen im virtuellen Raum?
Antwort: Erkennt ein Chefarzt, dass er mit dem VR-Space Struktur in sein Weiterbildungskonzept bringen kann, ist das mit der Weiterbildungsordnung problemlos in Einklang zu bringen. Der VR-Space wird einen Mehrwert für die Weiterbildung haben, weil die 3-D-Rekonstruktion hilft, die Lernkurve im eigentlichen Operationssetting zu verkürzen. Das Problem werden die Kosten sein. Wir konnten den VR-Space als Pilotprojekt finanzieren.
Frage: Werden die Kosten verhindern, dass andere Häuser den VR-Space übernehmen?
Antwort: Unsere jetzige Kombination aus leistungsstarker Consumer Hardware und spezieller Software ist teuer. Doch werden die Kosten sinken, weil der Markt sich sehr dynamisch entwickelt. Ich gehe davon aus, dass die Rechnerleistung zukünftig auf Servern liegt und über das Netzwerk abgerufen werden kann. Dann könnten mehrere Häuser eines Klinikums von einem zentralen Rechner profitieren, die Investition in die Hardware würde überschaubar. Es müsste noch ein Konzept geschrieben werden, um die Patientendaten zu pseudonymisieren. Die Datenleitungen müssten gesichert sein, um den Anforderungen des Datenschutzes zu genügen. Das lässt sich alles machen.
Herr Dr. Sommer, vielen Dank für das Gespräch!
AUSGABE: CB 11/2022, S. 18 · ID: 48630971