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ArzthaftungFehldiagnose Rheuma und nicht erkannter Hirnstamminfarkt – zwei Urteile des OLG Dresden

Abo-Inhalt19.10.2022138 Min. LesedauerVon RA, FA MedR Dr. Rainer Hellweg, Hannover

| Wenn eine Erkrankung nicht oder zu spät erkannt wird, werfen Patienten den behandelnden Ärzten bisweilen vor, falsch diagnostiziert oder zu wenig Befunde erhoben zu haben. In zwei aktuell veröffentlichten Entscheidungen hat das Oberlandesgericht (OLG) Dresden zu den Behandlungsfehlerarten Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler Stellung genommen. Warum die Unterscheidung zwischen diesen beiden in Arzthaftungsverfahren häufig prozessentscheidend ist, zeigt der folgende Beitrag auf. |

Darum ist die Unterscheidung im Haftungsprozess so wichtig

Juristen sprechen von einem Diagnoseirrtum, wenn der Arzt Befunde falsch bewertet und daher nicht die gebotenen therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen ergreift. Einen Behandlungsfehler nehmen Gerichte diesbezüglich an, wenn eine objektiv unrichtige Diagnose gestellt wurde und/oder eine vorwerfbare Fehlinterpretation erhobener Befunde (z. B. Röntgenbilder, Laborwerte) vorliegt. Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn die unrichtige Diagnose ihren Grund darin hat, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Befunde erst gar nicht veranlasst hat. Hier setzt der Vorwurf also zeitlich früher an als beim Diagnoseirrtum (vgl. CB 02/2020, Seite 9).

Diagnosefehler vs. Befunderhebungsfehler: Folgen für die Annahme eines Behandlungsfehlers

  • 1. Zurückhaltung der Gerichte beim Diagnoseirrtum: Bei einem Diagnoseirrtum unterstellen die Gerichte dem Arzt seltener einen Behandlungsfehler als bei einem Befunderhebungsfehler. Da die körperliche Konstitution von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein kann, wird anerkannt, dass Symptome nicht immer eindeutig sind und ein Symptom auf mehrere Krankheitsursachen zurückzuführen sein kann.
  • 2. Beweislastumkehr bereits bei „einfachem Befunderhebungsfehler“: Grundsätzlich trägt der Patient im Arzthaftungsprozess die Beweislast. D. h., er muss beweisen, dass ein Behandlungsfehler vorliegt und dass gerade durch diesen ein Körperschaden kausal verursacht wurde. Kann der Patient den Beweis nicht führen – etwa weil der Gerichtsgutachter eine kausale Verursachung nicht sicher feststellen kann –, verliert er den Prozess. Eine Umkehr der Beweislast hin zur Behandlerseite findet dann statt, wenn der Patient einen groben Behandlungsfehler ins Feld führen kann, also einen objektiv nicht mehr verständlichen und daher besonders eklatanten Kunstfehler. Für die Behandlerseite birgt ein Befunderhebungsfehler im Prozess besondere Gefahr: Bereits ein einfacher Befunderhebungsfehler kann eine Beweislastumkehr zulasten der Behandlerseite auslösen, ohne dass ein besonders gröbliches Fehlverhalten vorliegen muss.

Wichtig | Nach der Auffassung der Rechtsprechung kehrt sich beim Befunderhebungsfehler die Beweislast gegen die Behandlerseite, wenn

  • sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome hypothetisch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis ergeben hätte und
  • die Verkennung dieses Befundes fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft zu betrachten wäre.

Fehldiagnose Rheuma war kein Behandlungsfehler

Im Fall einer falsch diagnostizierten Rheuma-Erkrankung sah das Gericht weder einen vorwerfbaren Diagnoseirrtum noch einen Befunderhebungsfehler (OLG Dresden, Urteil vom 29.03.2022, Az. 4 U 980/21). Schon vor dem Prozess hatte die Haftpflichtversicherung des Krankenhauses 25.000 Euro Schmerzensgeld gezahlt. Die Patientin forderte vor Gericht weitere 25.000 Euro – und verlor.

Sachverhalt

Die Patientin hatte sich im Januar 2014 wegen Hüftschmerzen in der Klinik vorgestellt. Nach Sonografie, Laboruntersuchung und MRT waren eine Synovialitis und Gelenkerguss des rechten Hüftgelenks diagnostiziert worden. Erst ein halbes Jahr später, nachdem die Schmerzen und Beschwerden erheblich zugenommen hatten, erhärtete eine MRT-Untersuchung den Verdacht auf eine Epiphyseolysis capitis femoris (ECF) lenta beidseits. Daraufhin wurde eine Röntgenuntersuchung nach Lauenstein durchgeführt. Diese zeigte ein Abrutschen des Schenkelhalses gegenüber dem Hüftkopf bzw. ein Abkippen des Hüftkopfes auf beiden Seiten. Durch Operationen zur Korrektur auf beiden Seiten konnte der Patientin geholfen werden.

In ihrer Haftungsklage warf die Patientin der Klinik vor, im Januar 2014 sei fehlerhaft Rheuma diagnostiziert worden. Die behandelnden Ärzte seien verpflichtet gewesen, nach der bereits im Januar erfolgten MRT-Aufnahme unmittelbar entweder ein Kontroll-MRT oder ein Röntgenbild anzufertigen. Ursache der Fehldiagnose sei die Fehlinterpretation der MRT- und Röntgenaufnahmen gewesen. Wäre die Diagnose bereits im Januar – und nicht erst ein halbes Jahr später – richtiggestellt worden, hätte dies die operative Versorgung erleichtert. Daher forderte die Patientin weitere 25.000 Euro Schmerzensgeld. Wie auch die Vorinstanz wies das Gericht die Klage ab.

Entscheidungsgründe

Das Gericht verneinte im Ergebnis einen Haftungsanspruch der Patientin. Ein den Ärzten vorwerfbarer Diagnosefehler sei nicht anzunehmen. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens gelangten die Richter zu der Auffassung, dass die Synovialitis eine vertretbare Verdachtsdiagnose gewesen sei. Im MRT vom Januar 2014 sei ein Erguss zu sehen gewesen, der für die Schmerzen der Patientin als mögliche Erklärung nachvollziehbar gewesen sei.

Merke | Dabei ließ das Gericht nicht außer Acht, dass bereits im MRT vom Januar 2014 auf einer Ebene eine ganz leichte („minimale“) Verschiebung des Femurköpfchens zu sehen gewesen sei. Das Befundbild sei daher verdächtig auf eine geringe bzw. beginnende ECF gewesen, bei der der Femurkopf wegen einer Verschiebung der Wachstumsplatte abrutsche. Nach Ansicht des Gerichtsgutachters war das Unterlassen weiterer Röntgenaufnahmen (nach Lauenstein) aber trotzdem nicht pflichtwidrig, da erst bei einer Verschlechterung des klinischen Bildes oder für den Fall, dass sich die Verdachtsdiagnose nicht bestätigen sollte, eine weitere Befunderhebung veranlasst gewesen wäre.

Daher verneinte das Gericht sowohl einen Diagnose- als auch einen Befunderhebungsfehler. Betreffend einen möglichen Diagnosefehler hoben die Richter explizit hervor, dass Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen seien, nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden könnten.

Nicht erkannter Hirnstamminfarkt „nur“ Diagnosefehler

Im Fall eines nicht erkannten Hirnstamminfarkts sah das Gericht einen einfachen Diagnoseirrtum und keinen Befunderhebungsfehler. Daher trat keine Beweislastumkehr zugunsten der Patientin ein (OLG Dresden, Beschluss vom 21.06.2022, Az. 4 U 2466/21).

Sachverhalt

Die Klinikärzte hatten den Hirnstamminfarkt einer Patientin nicht erkannt und diese daher nicht auf die Stroke-Unit verlegt. Wegen der erlittenen Beeinträchtigungen verklagte die Patientin den Krankenhausträger. Sie forderte Schadenersatz und 180.000 Euro Schmerzensgeld. Das Gericht wies die Klage ab.

Zentrale Rolle des Sachverständigengutachtens

Dass die Angiografie nicht richtig ausgewertet wurde und dies ein Behandlungsfehler war, wurde durch ein Sachverständigengutachten im Prozess festgestellt. Dass die fortdauernden Beeinträchtigungen der Patientin auf diesen Fehler kausal zurückzuführen seien, war jedoch nicht beweisbar. Der Gerichtsgutachter äußerte sich dahin gehend, dass es eher unwahrscheinlich – zumindest nicht sicher – sei, dass ein besseres Outcome für die Patientin erzielt worden wäre, wenn sie auf die Stroke-Unit verbracht worden wäre. Gerade diese nicht nachweisbare Kausalität gereichte der Behandlerseite zum Vorteil.

Entscheidungsgründe

Die Richter attestierten einen Diagnoseirrtum, nicht aber einen Befunderhebungsfehler. Ihre Begründung: Ein Diagnoseirrtum setze voraus, dass alle notwendigen Befunde erhoben – dann aber falsch interpretiert worden seien. Ein Befunderhebungsfehler hingegen liege vor, wenn der Arzt die gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst habe, also aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt sei. Im dortigen Fall bestehe der Vorwurf gegen die behandelnden Klinikärzte darin, dass diese zwar alle notwendigen Untersuchungen eingeleitet und Befunde erhoben, den Angiografiebefund aber falsch bewertet hätten. Somit sei das Nichterkennen des Hirnstamminfarkts als Diagnoseirrtum anzulasten, nicht jedoch als Befunderhebungsfehler. Trotz des festgestellten Behandlungsfehlers sah das Gericht daher die Klage als unbegründet an.

Praxistipp | Beide Entscheidungen des OLG Dresden zeigen, wie entscheidend die Abgrenzung zwischen Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler im Arzthaftungsprozess sein kann. Gerade in der Diagnostik gibt es oftmals unterschiedliche vertretbare Meinungen zur Einschätzung eines bestimmten Erkrankungsbilds. Es gilt: Mehr Diagnostik kann man immer machen. Aber es gibt auch eine Grenze vernünftigen ärztlichen Handelns – und nicht indizierte und unwirtschaftliche diagnostische Veranlassungen sollten nicht getroffen werden. Gleichzeitig gilt aber auch: Der Arzt ist in haftungsrechtlicher Hinsicht besser aufgestellt, wenn ein Befunderhebungsfehler mit größtmöglicher Intensität vermieden wird. Auch wenn einer „Defensivmedizin“ mit übermäßiger Vorsorgediagnostik hier nicht das Wort geredet werden soll, muss aus haftungsrechtlicher Sicht doch die Empfehlung ausgesprochen werden, im Zweifel lieber eine Untersuchung zu viel zu veranlassen als eine zu wenig.

Weiterführender Hinweis

AUSGABE: CB 11/2022, S. 3 · ID: 48649244

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