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GrundrechteBeim „Kampf ums Recht“ muss Meinungsfreiheit kontextbezogen beurteilt werden
| Äußerungen mit objektiv beleidigendem Charakter müssen angesichts der in der Verfassung geschützten Meinungsfreiheit stets kontextbezogen beurteilt werden. |
Sachverhalt
Die Anwältin hatte unschöne Begriffe gewählt, um einen Berufskollegen zu charakterisieren: Auf ihrer Homepage bezeichnete sie ihn nach einer offenbar sehr streitig geführten Verhandlung vor dem FamG als „fetten Anwalt“ und „Rumpelstilzchen“. Der Betroffene beantragte über mehrere Instanzen erfolgreich eine einstweilige Verfügung, die der Berufsangehörigen die weitere Verwendung dieser Bezeichnungen ebenso untersagte wie die an ihre Follower gerichtete Aufforderung, negative Online-Bewertungen über den Anwalt abzugeben. Das BVerfG hielt eine hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde zwar für unzulässig, wies in seinem Beschluss aber erneut auf die besondere Bedeutung der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) hin (BVerfG 24.11.23, 1 BvR 1962/23, Abruf-Nr. 241546).
Relevanz für die Praxis
Das BVerfG nahm die Beschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Beschwerdeführerin den Grundsatz der Subsidiarität nicht hinreichend beachtet hatte. Sie hätte zuvor einen Antrag auf Fristsetzung zur Erhebung der Hauptsacheklage (§ 926 Abs. 1 ZPO) stellen müssen, um den ordentlichen Rechtsweg auszuschöpfen. Materiell-rechtlich gilt:
Um Meinungsäußerungen rechtlich zu würdigen, muss stets ihr Sinn zutreffend erfasst werden. Maßgeblich ist hierfür die Bedeutung, die die Äußerung nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Deren bloßer Wortlaut legt ihren Sinn indes nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext und den Begleitumständen, unter denen die Aussage fällt, bestimmt.
Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar missdeuten und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, verstoßen gegen Art. 5 GG (st. Rspr.; vgl. bereits BVerfG 10.10.95, 1 BvR 1476/91). Die widerstreitenden grundrechtlichen Interessen der Beteiligten müssen zudem immer gegeneinander abgewogen werden. Eine Ausnahme gilt nur, wenn sich eine Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinn bzw. als Angriff auf die Menschenwürde oder als Formalbeleidigung darstellt.
Diese Grundsätze gelten besonders unter dem Gesichtspunkt des „Kampfes ums Recht“: Im Umfeld rechtlicher Auseinandersetzungen ist es grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen (st. Rspr., s. etwa BVerfG 16.10.20, 1 BvR 1024/19; Editorial in AK 4/2024, Abruf-Nr. 49951853).
AUSGABE: AK 6/2024, S. 93 · ID: 49882035