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MitbestimmungDigitalisierung in der Betriebsratswelt: Wenn die Weisungsrechte per App ausgeführt werden …?

Abo-Inhalt25.07.2024262 Min. Lesedauer

| Für ein relativ verselbstständigtes Betriebsteil i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BetrVG genügt es, dass in der organisatorischen Einheit eine bestimmende Leitung institutionalisiert ist, die ArbG-Weisungsrechte ausübt. In rein digital organisierten Betrieben, in denen die Leitungsmacht allein mittels App ausgeübt wird, ist eine hinreichende Institutionalisierung gegeben, wenn alle ArbN einer räumlich und organisatorisch abgrenzbaren Einheit Weisungsrechten einer anderswo organisierten Leitungsmacht unterliegen. |

Sachverhalt

Der ArbG – ein Lieferdienst – organisiert über ein Onlineportal die Bestellung und Auslieferung der von den Partnerrestaurants angebotenen Speisen und Getränke. Im Mai 2023 wählten die Auslieferungsfahrer des Liefergebiets Aachen einen dreiköpfigen Betriebsrat. Diese Wahl hält der ArbG für unwirksam, da das Liefergebiet Aachen über keine hinreichende organisatorische Selbstständigkeit verfüge. Nach Ansicht des ArbG bilden die Beschäftigten in Aachen mit den in Köln tätigen ArbN einen einheitlichen Betrieb.

Entscheidungsgründe

Das Arbeitsgericht Aachen (23.4.24, 2 BV 56/23, Abruf-Nr. 242719) wies die Wahlanfechtung des ArbG zurück. Die materiellen Voraussetzungen einer Anfechtung nach § 19 Abs. 1 BetrVG lägen nicht vor. Bei der Wahl sei nicht gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden.

Anknüpfungspunkt sei nach der ständigen Rechtsprechung des BAG, ob ein einheitlicher Leitungsapparat vorhanden sei, dem gegenüber der Betriebsrat die ArbN des Betriebs vertrete. Nicht ausreichend sei, dass ArbN beschäftigt würden, ohne dass eine arbeitgeberseitige Leitung vor Ort vorhanden sei. Ein Betrieb sei deshalb nicht bereits dann anzunehmen, wenn in irgendeiner Form ArbN beschäftigt werden. Denn dann würde missachtet werden, dass die Aufgabe des Betriebsrats in der Vertretung der ArbN gegenüber dem ArbG liege und einem Betriebsrat deshalb ein Ansprechpartner auf ArbG-Seite zugeordnet sein müsse. Das Erfordernis eines einheitlichen Leitungsapparats als Voraussetzung für den Betriebsbegriff sei damit unverzichtbar.

Es sei unstreitig, dass innerhalb des Liefergebietes Q. kein arbeitgeberseitiger Leitungsapparat installiert sei – weder zur Zeit der Wahl, noch heute. Der ArbG habe die Entscheidungen in personellen und sozialen Angelegenheiten vielmehr in T. getroffen und treffe sie nun in F. Damit könne in Q. kein eigenständiger Betrieb i. S. d. § 1 BetrVG vorliegen.

Das Liefergebiet Q. des ArbG sei jedoch als qualifizierter Betriebsteil im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 BetrVG anzusehen. Ein Betriebsteil sei auf den Zweck des Hauptbetriebs ausgerichtet und in dessen Organisation eingegliedert. Er sei gegenüber dem Hauptbetrieb organisatorisch abgrenzbar und relativ verselbstständigt. Für die Abgrenzung von Betrieb und Betriebsteil sei der Grad der Verselbstständigung entscheidend. Dieser komme im Umfang der Leitungsmacht zum Ausdruck. Für den Betriebsteil genüge ein Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb. Dazu reiche es aus, dass in der organisatorischen Einheit überhaupt eine den Einsatz der ArbN bestimmende Leitung institutionalisiert sei, die Weisungsrechte des ArbG ausübe.

Das Liefergebiet Q. erfülle die vorgenannten Voraussetzungen. Es sei räumlich und organisatorisch abgrenzbar. Es bestehe aus einem abgrenzbaren Stamm an ArbN – den Fahrern – die nur im Bereich in und um Q. damit betraut seien, die vom ArbG angebotene Dienstleistung, das Ausliefern von zuvor über dessen Webseite oder App bestellten Speisen für Restaurants, umzusetzen. Dabei seien die Fahrer dem Liefergebiet fest zugeordnet. Einen Austausch von ArbN, etwa mit dem Liefergebiet F., gebe es nicht. Die ArbN des Liefergebiets würden nur die Dienstleistungen für den ArbG in Q. erbringen.

Nach Ansicht der Kammer sei im Liefergebiet Q. auch eine den Einsatz der ArbN bestimmende Leitung institutionalisiert. Welche konkreten Anforderungen an diese vom BAG in ständiger Rechtsprechung geforderten Institutionalisierung zu stellen seien, habe es in seinen bisherigen Entscheidungen nicht näher konkretisiert. Es handele sich darüber hinaus nicht um ein geschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 4 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Es sei im Wege der Rechtsfortbildung von der Rechtsprechung entwickelt worden.

Ältere Entscheidungen des BAG ließen den Schluss zu, dass es in dem Betriebsteil selbst eine Person „vor Ort“ geben müsse, die – zumindest einen Teil – der arbeitgeberseitigen Weisungsrechte ausübe. Demgegenüber habe sich die Formulierung in jüngeren Entscheidungen gewandelt, etwa jüngst (BAG 21.6.23, 7 ABR 19/22): „Für das Vorliegen eines Betriebsteils i. S. v. § 4 Abs. 1 BetrVG genügt ein Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb. Dazu reicht es aus, dass in der organisatorischen Einheit überhaupt eine den Einsatz der ArbN bestimmende Leitung institutionalisiert ist, die Weisungsrechte des ArbG ausübt.“

Die frühere Formulierung, dass „in der Einheit wenigstens eine Person mit Leitungsmacht vorhanden“ sein müsse, finde sich so nicht mehr in den Entscheidungsgründen des BAG (26.5.21, 7 ABR 17/20, Abruf-Nr. 224773; BAG 18.1.12, 7 ABR 72/10; BAG 9.12.09, 7 ABR 38/08). Dies lege den Schluss nahe, dass die Ausübung der Leitungsmacht auch anders als durch eine Person „vor Ort“ institutionalisiert sein könne.

Vielmehr erfordere es die Rechtsprechung des BAG nicht, dass in dem Betriebsteil eine Leitungsperson „vor Ort“ sein müsse, die Weisungsrechte gegenüber den dort beschäftigten ArbN ausübe. Insbesondere bei der Anwendung der Rechtsprechung auf Sachverhalte der digitalisierten Arbeitswelt müsse diese konkretisiert werden. Denn die bisherigen Judikate seien insbesondere zu Sachverhalten mit räumlich entfernten Betriebsstätten ergangen (BAG 7.5.08, 7 ABR 15/07; BAG 28.4.21, 7 ABR 10/20, Abruf-Nr. 223830). Die Besonderheit im vorliegenden Fall sei, dass nach der Organisation des ArbG eine räumliche Betriebsstätte gerade nicht erforderlich sei. Die Arbeitsleistung erfolge auf den Straßen der jeweiligen Stadt des Liefergebiets. Der Arbeitseinsatz der ArbN werde weit überwiegend über die „WA. App“ gesteuert. Es sei bei der vom ArbG gewählten Organisation schlicht niemand vor Ort nötig, der den Einsatz der ArbN steuern müsse, da dies digital erfolge. Es hänge vom schlichten Zufall ab, wo sich die disziplinarischen Vorgesetzten der Fahrer in Q. aufhalten – sei es in F., T. oder andernorts.

Es erscheine als bloße Förmelei, den Unterschied vom „losen Teil eines Betriebs(teils)“ zum „echten“ Betriebsteil i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 1 BetrVG von dem Zufall abhängig zu machen, ob die – teils durch Software algorithmisch vorbereiteten – Weisungen aus Q. oder von sonst wo an die Fahrer in Q. weitergeleitet werden würden. Gäbe es eine Person in Q., die dies täte, wäre auch nach dem engen Begriff, dass im Betriebsteil eine Leitungsperson „vor Ort“ sein müsse, der Betriebsteilbegriff erfüllt.

Soweit die Courier Coordinatoren des Remote Teams zum Zeitpunkt der Wahl die Weisungsrechte gegenüber den Fahrern in Q. ausgeübt haben sollten, bilden diese gemeinsam mit dem zuständigen City Operations Manager eine einheitliche Leitung gegenüber den Fahrern in Q. Es genüge, dass diese von T. aus über die „WA. App“ Weisungsrechte gegenüber den Fahrern in Q. ausüben, um eine hinreichende Institutionalisierung einer Leitung anzunehmen. Dabei sei unschädlich, dass die Ausübung des Weisungsrechts durch verschiedene Personen, offenbar „zufällig“ und nicht nach einer festen Zuständigkeit erfolge. Der zuständige City Operations Manager vermöge als Vorgesetzter der Courier Coordinatoren die Ausübung des Weisungsrechts gegenüber den Fahrern in Q. bestimmen, wenn er die Weisungen auch nicht selbst erteile, wie dies im Verhältnis eines Personalleiters und Personalsachbearbeitern üblich sei.

Relevanz für die Praxis

Ein Streitpunkt war auch, ob der Betriebsteil des Liefergebietes Q. weit entfernt vom Hauptbetrieb nach § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BetrVG gewesen sei. Die Kammer bejahte dies hier, weil die einfache Entfernung 77 km beträgt und mit einer regelmäßigen Wegezeit je Richtung von 50 Minuten mit dem Zug oder 1:07 Stunden mit dem PKW zu rechnen ist.

ArbG müssen sich, sollte die Entscheidung durch das LAG Köln, bei dem Beschwerde eingelegt wurde, bestätigt werden, auf eine Ausweitung des qualifizierten Betriebsteils und damit der Betriebsratstätigkeit einstellen.

Weiterführende Hinweise
  • Betriebsrat versus ChatGPT: Wie weit geht die Mitbestimmung? AA 24, 46
  • Einsatz von sozialen Medien mit Kommentarfunktion kann mitbestimmungspflichtig sein, AA 23, 96
  • Betriebsrat hat keinen Anspruch auf Papierform der Bewerbungsunterlagen, wenn digital reicht, AA 24, 81

AUSGABE: AA 8/2024, S. 137 · ID: 50099004

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