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Selbstmanagement„Wer jungen Kollegen ein besseres Selbstmanagement nahelegt, entlastet sich selbst!“
| Im Berufsleben jonglieren Chefärztinnen und Chefärzte mit vielen Bällen. Das kann zu Zeitdruck, Stress, Depression und Burn-out führen. Prof. Dr. Alexander Ghanem, Chefarzt der Kardiologie und internistischen Intensivmedizin an der Asklepios Klinik Nord – Heidberg, antwortet auf die Herausforderungen der Ärzteschaft mit einem eigenen Jonglage-Modell, um Selbstmanagement und Zeitplanung zu verbessern. Details erfuhr Ursula Katthöfer (textwiese.com) im Gespräch. Das Interview finden Sie als Video online unter iww.de/s10900. |
Frage: Herr Professor Ghanem, womit jonglieren Sie in Ihrem Modell?
Antwort: Vier Bälle stehen für den Balanceakt der vier Lebensbereiche Karriere, Beziehung, Gesundheit und Sinnhaftigkeit. Nicht alle Bälle sind gleich konstituiert, sie sind unterschiedlich robust und bruchsicher. Alle Bälle werden ständig in der Luft gehalten. Vielleicht kann man den einen oder anderen mal etwas riskanter oder höher werfen.
Frage: Welche Eigenschaften hat der Karriereball?
Antwort: In dem Moment, in dem man ihn wirft, ist er ganz sicher sehr zerbrechlich. Ein junger Oberarzt fokussiert sehr auf seine Aufgaben und will noch mehr Skills aufbauen. Doch vom Ende des Lebens her betrachtet ist der Karriereball der robusteste von allen. Sterbende zeigen nie Reue rund um die Karriere, es geht immer um Gesundheit, Beziehungen und Sinnhaftigkeit. Wir denken zwar in frühen Jahren, dass der Karriereball gut gepolstert und gekonnt geworfen werden muss, doch letztlich lässt ein Riss in einem der drei anderen Bälle sich nie wieder richtig ausheilen. Das Jonglage-Modell unterstützt dabei, auf bestimmte Lebensbereiche zu fokussieren.
Frage: Aber wie finden sich die richtigen Prioritäten, wenn vieles auf einen einprasselt?
Antwort: Die drei Perspektiven kurz-, mittel- und langfristig helfen, einen Fokus in den Vordergrund zu rücken. Kurzfristig kann man sich z. B. am Freitagnachmittag eine Stunde nehmen, um die kommende Woche zu priorisieren. Mittelfristig könnte ein Quartalsziel sein, während der Schulzeit der Kinder zum Abendessen zu Hause zu sein. Für langfristige Ziele ist die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr beliebt, um zu reflektieren: Deckt sich das, was ich mir vorgenommen habe, mit dem, was ich erreicht habe? Oft haben wir uns zu viel vorgenommen. Zu hoch gesteckte Ziele sind Sand im Getriebe. Wenn wir etwas nicht schaffen, kommt Frust auf.
Frage: Reicht ein planvoll geführter Kalender, um diesen Frust zu vermeiden?
Antwort: Der Kalender sollte drei Kategorien beinhalten: Fokuszeiten, Pufferzeiten und Erholungszeiten. Morgens haben wir durch den hohen Cortisolspiegel und den abfallenden Melatoninspiegel eine extrem hohe Alertness im Gehirn. In dieser fruchtbaren Zeit lohnt es sich, Fokusinhalte zu bearbeiten und sie nicht mit unwirksamen Tätigkeiten zu verbringen. Umgekehrt haben wir in den Erholungszeiten oft ein schlechtes Gewissen, wenn wir etwas auf Netflix gucken. Doch in diese Zeiten sollte man sich mit voller Lust stürzen, um wieder erholt in die Fokuszeit eintauchen zu können.
Frage: Gibt es außer dem Kalender andere Hilfsmittel?
Antwort: Ich bin ein großer Verfechter von Softwareunterstützung. Doch im Grunde ist die Habitformation das beste Tool. Durch die Verbindung von Reiz und Response entsteht ein Belohnungssystem, das negativ betrachtet süchtig macht, das wir jedoch positiv für uns nutzen können. Wenn wir uns angewöhnen, einen Film zu gucken, vorher Popcorn zu machen und schon den Geruch genießen, freuen wir uns auf den Abend. Als digitales Tool nutze ich OmniFocus, das auf dem paradigmenwechselnden Buch Getting Things Done® von David Allen beruht.
Frage: Kann die Digitalisierung ebenfalls entlasten?
Antwort: E-Mails sind ein Segen, zu ihnen gibt es keine Alternative. Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Führt es wirklich zu meinen Zielen, wenn ich morgens gleich nach dem Aufwachen die E-Mails checke? Ich fahre gut damit, sie stumm zu schalten und zu zwei von mir gewählten Zeitfenstern zu öffnen. Rund um die Mittagszeit, bevor wir um 12:30 Uhr Besprechung haben, und kurz bevor ich nach Hause gehe. So entsteht jeweils ein Zeitlimit, denn ich möchte ja in die Besprechung bzw. nach Hause. Den Vormittag sollte man mit der wichtigsten Aufgabe verbringen, nicht mit E-Mails oder sonstigen digitalen Medien.
Frage: Was wäre der erste Schritt, um mit dem Jonglage-Modell zu beginnen?
Antwort: Die Selbsterkenntnis. Dazu empfehle ich, zwei Wochen lang ein Journal zu führen und kurz zu notieren, was man zu welcher Zeit und in welchem Energielevel macht. Diese Basis für das Selbstmanagement nenne ich Präparation. Es folgt die kurz-, mittel- oder langfristige Planung. Dann kommt die Priorität, ausdrücklich im Singular. Ist es das Wichtige oder das Dringliche? Meist ist es das Wichtige. Dann stellt sich die Frage, wie sich die vier Lebensbereiche Karriere, Gesundheit, Beziehung und Sinnhaftigkeit wiederfinden. Und erst dann kommen Produktivität, Performanz und Passion. Diese sechs Ps beginnen alle mit der Selbsterkenntnis. Chefärzte, die jungen Kolleginnen und Kollegen ein besseres Selbstmanagement nahelegen, entlasten sich selbst. Denn je organisierter das Umfeld, desto organisierter der Chefarzt.
Herr Professor Ghanem, vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person | Professor Dr. Ghanem ist u. a. Dozent des Onlineportals für Klinikärzte medmastery.com (Dozentenprofil online unter iww.de/s10638) und Autor des Sachbuchs „Anatomie der Zeit“ (Info zum Buch und zur Bestellung online unter iww.de/s10639)
AUSGABE: CB 5/2024, S. 4 · ID: 49976729