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Personal„Zwischenmenschliche Anspannung lässt die Leistung am OP-Tisch sinken!“
| Arbeiten zwei Personen zusammen, haben zwischenmenschliche Emotionen Einfluss auf ihre gemeinsame Leistung – das gilt auch für die Chirurgie. Doch welche Gefühle wirken sich am Operationstisch positiv oder negativ aus? Mit dieser Frage beschäftigte sich eine internationale Studie, an der sich u. a. die Universität Witten/Herdecke beteiligte (siehe Quelle). Dort leitete Prof. Dr. Hendrik Wilhelm, Inhaber der Professur für Strategische Organisation am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung, die Studie. Ursula Katthöfer (textwiese.com) fragte ihn nach den Ergebnissen. |
Frage: Herr Professor Wilhelm, Sie haben in Ihrer Forschung Affekte zwischen Operierenden untersucht. Warum?
Antwort: In der Forschung zur Frage, warum manche Operationen erfolgreicher verlaufen als andere, dominieren kognitive Erklärungen. Zum Beispiel gibt es sehr viele Studien zur Wirkung von Erfahrung: Wer eine Operation sehr häufig gemacht hat, hatte häufiger Gelegenheit zu lernen und beherrscht die Operation besser. An Emotionen denkt man in der Chirurgie seltener. Insbesondere zwischenmenschliche Affekte („relational affect“) wurden in der Forschung kaum berücksichtigt. Das ist überraschend: Wir erleben im Arbeitsalltag ständig, dass wir uns bei der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Personen unterschiedlich fühlen.
Frage: Um welche Gefühle geht es beispielsweise?
Antwort: Wir empfinden normalerweise ein breites Spektrum an unterschiedlichen zwischenmenschlichen Affekten. Arbeiten wir mit Kollegin A zusammen, fühlen wir uns vielleicht besonders aufmerksam. Arbeiten wir mit Kollege B zusammen, fühlen wir uns vor allem nervös. Solche Emotionen sind alltäglich und beeinflussen unser Verhalten. Frühere Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass sie unsere Entscheidung über Zusammenarbeit beeinflussen. Wer am OP-Tisch mit einer bestimmten Person gemeinsam operiert, erlebt diese Emotionen auch. Trotzdem wissen wir kaum etwas darüber, wie sich zwischenmenschliche Affekte auf die gemeinsame Arbeitsleistung auswirken. Daher wollten wir herausfinden, welche zwischenmenschlichen Affekte – über die bekannten Effekte von Erfahrung im OP hinaus – Unterschiede in der Operationsleistung erklären.
Frage: Gibt es im OP ein Gefühl, das sich besonders positiv oder negativ auswirkt?
Antwort: Unsere Studie untersuchte ein breites Spektrum an zwischenmenschlichen Affekten: inwiefern die Arbeit mit der konkreten Kollegin oder dem konkreten Kollegen Aufmerksamkeit, Angeregtheit, Entspannung, Trägheit, Nervosität und Anspannung hervorruft. Wir hatten auf Grundlage der Literatur erwartet, dass eher positiv konnotierte Emotionen die gemeinsame Leistung steigern. Doch nur eine einzige zwischenmenschliche Emotion machte einen Unterschied: Anspannung. Fühlt jemand sich mit seinem OP-Partner oder seiner OP-Partnerin angespannt, sinkt die gemeinsame Leistung.
Frage: Wie lässt sich dieses Ergebnis erklären?
Antwort: Wir konnten das überraschende Ergebnis, dass ausschließlich zwischenmenschliche Anspannung einen starken negativen Einfluss hat, nicht alleine aufgrund der Literatur und unserer statistischen Auswertungen erklären. Deshalb haben wir nach Abschluss der Analyse Interviews mit Chirurginnen und Chirurgen geführt. Es taten sich zwei Erklärungsansätze auf. Zum einen gibt es eine zwischenmenschliche Komponente: Die Anspannung beeinträchtigt die Koordination und Kommunikation zwischen den Operierenden. Wenn Menschen zögerlicher interagieren, dauern Prozesse am OP-Tisch länger. Zum anderen gibt es eine intraindividuelle Komponente: Zwischenmenschliche Anspannung scheint psychomotorische Fähigkeiten zu hemmen. Beides kann erklären, warum zwischenmenschliche Anspannung die gemeinsame Leistung am OP-Tisch verringert.
Frage: Gibt es ein Mittel, um die Stimmung zu heben und weniger angespannt gemeinsam zu operieren?
Antwort: In Trainings geht es oft darum, eine Serie von gemeinsamen Erfolgserlebnissen zu generieren oder sehr kritische Situationen zu meistern. Möchte man Erfahrungslernen befeuern, kann das helfen. Um zwischenmenschliche Anspannung zu reduzieren, hilft überraschenderweise etwas anderes: Es reicht bereits, wenn die Personen ein einziges Mal ein außergewöhnliches gemeinsames Erfolgserlebnis haben. Dann erleben beide Personen Selbstwirksamkeit, was offenbar zwischenmenschliche Anspannung reduziert.
Frage: Was heißt das für diejenigen, die in der Chirurgie die Dienstpläne schreiben?
Antwort: Viele Klinken leiden zurzeit unter einer angespannten Personalsituation. In vielen Häusern gibt es daher, nach Berücksichtigung zwingender Kriterien wie Verfügbarkeit und Ausbildungsstand, kaum Spielräume zur Optimierung der Dienstpläne. Falls Spielräume bestehen, legt unsere Studie nahe, dass die OP-Planung bei herausfordernden Operationen solche Personen einsetzen sollte, die in der Vergangenheit gemeinsam zumindest einen außergewöhnlichen Operationserfolg erzielt haben. Allgemein kann die Reduktion zwischenmenschlicher Anspannung in einer Abteilung natürlich auch dazu beitragen, die Abteilung für Bewerberinnen und Bewerber als Arbeitsplatz attraktiver zu machen und so zur Lösung von Personalengpässen beitragen.
Herr Prof. Dr. Wilhelm, vielen Dank für das Gespräch!
- T Casciaro, M Sousa Lobo, H Wilhelm and M Wittland: The Way We Make Each Other Feel: Relational Affect and Joint Task Performance.Published Online: 14 Mar 2022. Abstract und Whiteboard-Video-Abstract online unter doi.org/10.5465/amd.2018.0095
AUSGABE: CB 6/2023, S. 17 · ID: 49308241