Orthopädie
Inlaywechsel wegen Wundinfektion nach Knie-TEP: wie abrechnen?
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Palliative Care„Ich gehe immer sehr offen mit der begrenzten Lebenszeit um!“
| Der ganzheitliche Ansatz der Palliativmedizin bezieht Physiotherapie mit ein. Ziel ist, Körper, Geist und Seele der Patienten zu mobilisieren. Physiotherapeutin Annette Neurath ist im Vorstand des Länderverbunds Nordost von PHYSIO-DEUTSCHLAND. Seit 30 Jahren arbeitet sie in einer Klinik für geriatrische Akutmedizin und Rehabilitation mit 120 Betten. Ursula Katthöfer (textwiese.com) fragte, was sie für unheilbar kranke Menschen tun kann. |
Frage: Frau Neurath, in der Palliative Care gilt: raus aus dem Bett, am besten an die frische Luft! Wie motivieren Sie einen Patienten dazu?
Antwort: Ich sehe die Patienten nicht als Erkrankte, sondern als Menschen. Wichtig sind dabei Gespräche, in denen der Patient oder die Patientin von sich erzählt. Mich interessiert, was sie immer gerne getan haben, woher sie stammen, wie viele Kinder und Enkel sie haben. Über diese Biografiearbeit fühlen die Menschen sich angenommen. Es bedarf also weniger des Ansporns als des Gesprächs. Darüber finde ich in 98 Prozent der Fälle einen Zugang. Die eigentliche physiotherapeutische Arbeit tritt zunächst in den Hintergrund, um dann im Verlauf das Wohlbefinden des Patienten mit physiotherapeutischen Konzepten zu verbessern.
Frage: Welche Ziele haben die Patienten?
Antwort: Die meisten möchten sich selbst versorgen und selbstbestimmt leben. Dazu gehört, allein zur Toilette gehen zu können. Sie möchten teilhaben und nicht als dahinsiechender Mensch wahrgenommen werden. Wir haben in der Klinik einen rehabilitativen Ansatz. Die Patienten sollen noch einmal nach Hause, zur Chemo oder in ein Hospiz gehen können. Deshalb versuche ich herauszufinden, was sie möchten und was sie noch leisten können.
Frage: Gehen Sie darauf ein, dass der Patient nur noch eine begrenzte Lebenszeit hat?
Antwort: Ja, auf jeden Fall. Ich gehe immer sehr offen mit der begrenzten Lebenszeit um und beschönige nichts. Floskeln wie „Das wird schon wieder gut“ sind unangemessen, denn es wird nicht wieder gut. Manche Patienten möchten nicht, dass ihre Familie sie so krank erlebt. Doch ich ermutige sie dazu, das zuzulassen. Gerade Kinder stecken es gut weg, wenn man ehrlich mit ihnen umgeht. Sperrt man sie hingegen weg, können sie nicht lernen, dass der Tod zum Leben gehört.
Frage: Gibt es typische Übungen, um die Patienten zu mobilisieren?
Antwort: Wichtig ist zunächst das Vertrauen. Wenn ich einen onkologischen Patienten mit Knochenmetastasen mobilisiere, muss er darauf vertrauen, dass keine Fraktur entsteht. Ein festes Übungsprogramm ist bei Palliativpatienten schwierig, denn ich muss täglich evaluieren, wo der Patient in seinen messbaren Symptomen, aber auch in seinen Gefühlen und seiner Spiritualität steht. Das ist ganz anders als in der Chirurgie, wo es nach einer Knie-, Hüft- oder Schulteroperation physiotherapeutische Standards gibt. In der Palliativmedizin schauen wir uns den Menschen sehr genau an und behandeln nach Bedürfnissen, Symptomlast und Krankheitsbild.
Frage: Palliative Care gehört nicht zur physiotherapeutischen Ausbildung. Ist das angesichts der alternden Bevölkerung noch tragbar?
Antwort: Ich setze mich sehr dafür ein, dass Physiotherapeuten palliativ ausgebildet werden. Bisher werden sie zielgerichtet in Evidenzen ausgebildet, doch weder in der Grundausbildung von Auszubildenden noch von Studierenden ist Palliative Care verankert. Das geht gar nicht, der Blickwinkel muss ein anderer werden. Ein Problem der Ausbildung ist, dass sie Ländersache ist. Jedes Land macht, was es für richtig hält. Auch die Ausbildungsstätten entscheiden selbst, was sie lehren, weil Palliative Care kein Muss ist.
Frage: Sie haben den Berliner Arbeitskreis „Palliative Care in der Physiotherapie“ mitgegründet und pflegen Kontakt zur Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Was wünschen Sie sich von der Ärzteschaft?
Antwort: Wir Therapeuten werden vor allem im ambulanten Bereich manchmal etwas stiefkindlich behandelt. Wir wünschen uns mehr Verständnis dafür, dass wir gut ausgebildet sind und uns fortentwickeln müssen. In der Klinik ist alles geregelt. Dort arbeitet man im Team, die Leistungen werden abgerechnet. Doch ambulant ist es für die Kollegen schwierig abzurechnen, obwohl die niedergelassenen Ärzte, die eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) anbieten, die Behandlung der Patienten befürworten. Die Pauschalen für Hausbesuche sind so niedrig, dass es sich mehr lohnt, Patienten in der Praxis zu behandeln. Hinzu kommt die Ausfallzeit, wenn ein Physiotherapeut nach der Ankunft beim Patienten feststellt, dass eine Therapie unmöglich ist und unverrichteter Dinge wieder gehen muss. Ärzte denken oft, dass Physiotherapeuten sich Palliativ Care nicht zutrauen. Doch so ist es nicht.
Frage: Wie sorgen Sie dafür, dass Sie selbst gesund bleiben?
Antwort: Ich empfinde sehr schwer erkrankte Menschen, die vielleicht in meinem Beisein versterben, nicht als Last. Es gibt Situationen, die mir sehr nahegehen. Aber das ist ja menschlich. Auf der Station haben wir ein Ritual, um zu reflektieren, ob wir unser Möglichstes gegeben haben. Meistens kann ich sagen: Ja, es ist schlimm, aber wir konnten nicht mehr tun. Als Ausgleich tue ich außerdem etwas ganz anderes: Mein jüngster Sohn spielt American Football. Dort betreue ich das Team, lauter junge, fitte Männer.
Frau Neurath, vielen Dank für das Gespräch!
- Nieland, Peter und Simader, Rainer (Hg.): Physiotherapie in der Palliativ Care Rehabilitation am Lebensende, Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, 2. Aufl 2021, 54,00 Euro.
AUSGABE: CB 5/2023, S. 19 · ID: 49265702