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CBChefärzteBrief

intensivmedizinFolgen des BVerfG-Beschlusses zur Triage: neue Handlungsempfehlungen für (Chef-)Ärzte?

Abo-Inhalt26.01.20222015 Min. LesedauerVon Prof. Dr. iur. Michael Tsambikakis, Tsambikakis & Partner

| Die Coronapandemie stellt die Ärzteschaft weiterhin vor Herausforderungen. Neben der ohnehin kapazitätsbedingten angespannten Ausgangslage in der Patientenversorgung treffen Ärztinnen und Ärzte bei Triage-Entscheidungen auf ein nicht alltägliches Haftungsrisiko. Nun hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu den Benachteiligungsrisiken von Menschen mit Behinderungen entschieden (Urteil vom 16.12.2021, Az. 1 BvR 1541/20, CB 01/2022, Seite 1). Ergeben sich daraus neue, möglicherweise verallgemeinerbare Maßstäbe für Triage-Entscheidungen? |

Status quo – Die Haftungsrisiken

Chefärztinnen und Chefärzten droht zivilrechtlich eine vertragliche und eine deliktische Haftung. Dabei können ihnen die Triage-Entscheidungen nachgeordneter Ärztinnen und Ärzte als Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen zugerechnet werden (CB 08/2020, Seite 2). Zudem schwebt das Damoklesschwert einer etwaigen Strafbarkeit über den Entscheidern in einer Triage-Situation. Zwar führt nur ein persönlicher Schuldvorwurf zur Strafbarkeit, aber die strafrechtlichen Fragen sind leider für die Ärzteschaft noch nicht ausreichend geklärt worden. Anders als im Zivilrecht ist eine Zurechnung des strafbaren Verhaltens nachgeordneter Ärzte nicht möglich. Leitlinie bleibt: Eine coronabedingte Triage-Entscheidung ist rechtmäßig, wenn sie gemäß den klinischen Erfolgsaussichten getroffen wird (CB 05/2020, Seite 2). Daher ist sie nicht nur aus klinisch-ethischen Gründen sorgsam zu treffen und zu dokumentieren; ein solches Vorgehen vermeidet spätere haftungs- und strafrechtliche Folgen.

BVerfG nimmt den Gesetzgeber in die Pflicht

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen wandten sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers, der bisher keine rechtlichen Vorgaben für eine Triage-Entscheidung getroffen hat. Sie befürchteten, in einer etwaigen Triage-Situation wegen ihrer Behinderung bzw. Vorerkrankung benachteiligt zu werden und beriefen sich dabei auf ihre Grundrechte. Das BVerfG nimmt nun eindeutig den Gesetzgeber in die Pflicht, geeignete Regelungen und Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen im Fall einer pandemiebedingten Triage zu treffen, damit niemand wegen seiner Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger medizinischer Ressourcen benachteiligt wird.

Bedeutung des Urteils für die ärztliche Triage-Entscheidung

Solange der Gesetzgeber den Auftrag des BVerfG zur Schaffung entsprechender Regelungen noch nicht umgesetzt hat, sollten Ärztinnen und Ärzte weiterhin nach der klinischen Erfolgsaussicht priorisieren. Allerdings verbieten sich schematische Entscheidungen. Nur wenn sich eine Vorbelastung aktuell auf den Heilungsprozess der Coronavirusinfektion auswirkt, darf sie berücksichtigt werden. Die potenziell diskriminierenden Kriterien, wie eine bestehende Behinderung, Vorerkrankung oder das Alter des Patienten, müssen besonders behutsam in die Bewertung einbezogen und dürfen nicht pauschal mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werden. Es müssen die konkreten Auswirkungen auf die Genesungs- und Überlebenschancen bewertet werden. Verbleiben Zweifel, sollten die wesentlichen Entscheidungsparameter dokumentiert und zusätzlich Rechtsrat eingeholt werden.

Merke | Auch die DIVI-Leitlinien zur Triage bei COVID-19 (Abruf-Nr. 47850076) greifen diesen Aspekt in ihren klinisch-ethischen Empfehlungen auf: Die klinische Erfolgsaussicht ist ausschlaggebend, nicht Alter oder Behinderung. Der Gesetzgeber muss nun sicherstellen, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung nicht sachlich falsch beurteilt wird. Durch eine unbewusste Stereotypisierung erhöht sich die Gefahr, dass behinderte Menschen bei der Triage-Entscheidung benachteiligt werden. In der Zeit, in der der Gesetzgeber noch nicht tätig geworden ist, dürfte dennoch weiterhin eine große Unsicherheit und damit auch ein Haftungsrisiko für die entscheidenden Ärztinnen und Ärzte bestehen, insbesondere wenn die Entscheidung zum Nachteil von Menschen mit einer Behinderung oder Vorerkrankung ergeht. Schließlich ist diese mögliche Diskriminierung durch Triage mit der Entscheidung des BVerfG in den Fokus der medizinisch-ethischen, klinischen und rechtlichen Diskussion gerückt.

Empfehlungen zur Reduzierung von Haftungsrisiken

Um Haftungsrisiken zu minimieren, sollten abteilungsleitende Krankenhausärztinnen und -ärzte – neben den bereits nahegelegten Maßnahmen zur Haftungsreduzierung (CB 08/2020, Seite 2) – die nachgeordneten Ärztinnen und Ärzte nachdrücklich auf die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hinweisen. Daneben empfiehlt sich ein Mehraugenprinzip bei der Auswahlentscheidung, um die Haftungsrisiken zu minimieren. Ebenso ist dringend anzuraten, die Entscheidung im Hinblick auf die klinischen Erfolgsaussichten stets sorgfältig zu begründen und zu dokumentieren. Hierfür können die Information und Sensibilisierung im Rahmen von Aus- und Weiterbildungen in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals dienlich sein. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem Gesetzgeber durch das BVerfG aufgegeben wurde, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen, sollten etwaige gesetzliche Veränderungen verfolgt und die internen Prozesse daran ausgerichtet werden. Im CB wird über solche Entwicklungen mitsamt Handlungsempfehlungen weiter berichtet werden.

Fazit | Der Beschluss des BVerfG hat keine neuen, allgemeinen Maßstäbe festgeschrieben. Vielmehr beschränken sich die Vorgaben für eine rechtmäßige pandemiebedingte Triage-Entscheidung darauf, dass Vorbelastungen nicht pauschal als die klinische Erfolgsaussicht verschlechternde Kriterien berücksichtigt werden dürfen. Die konkrete Umsetzung des Handlungsauftrags durch den Gesetzgeber darf nunmehr gespannt erwartet werden. Dabei ist nicht zwingend mit einer vom Gesetzgeber erarbeiten Schematisierung des Entscheidungswegs zu rechnen. Dem Handlungsauftrag dürfte wohl genügen, wenn der Gesetzgeber auf modifizierende und präzisierende Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften verweist. Der Beschluss des BVerfG unterstreicht die besondere Bedeutung der Basisgleichheit aller Menschen bei der pandemiebedingten Triage-Entscheidung. Menschen mit Behinderungen ist ein chancengleicher Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems und eine diskriminierungsfreie Diagnosestellung und Behandlung zu gewährleisten.

AUSGABE: CB 2/2022, S. 4 · ID: 47932361

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