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RückzahlungsvereinbarungDie Zulässigkeit differenzierender Nachtschichtzuschläge im Tarifvertrag

Abo-Inhalt08.05.20255 Min. LesedauerVon Prof. Dr. Ralf Jahn, Würzburg

| Das BVerfG (11.12.24, 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23) gab unter Berufung auf den Schutz der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) den Verfassungsbeschwerden von zwei ArbG statt, die sich insbesondere gegen die vom BAG zuerkannte Zahlung höherer als der tariflich vereinbarten Nachtzuschläge wenden. Gleichzeitig verwarfen sie die Verfassungsbeschwerden der Verbände, die die betroffenen Tarifnormen vereinbart hatten. Das BVerfG kippte die BAG-Entscheidungen und verwies die Streitfälle an das BAG zurück. |

1. Hintergrund und Gegenstand der Streitfälle vor dem BAG

Das BAG bewertete bislang Nachtarbeitszuschläge je nach tarifvertraglicher Regelung uneinheitlich. Bei einigen Tarifwerken fehlte dem BAG der „sachliche Grund“ für eine unterschiedliche Behandlung von Nachtarbeitern und Nachtschichtarbeitern. Die Folge war, dass bei manchen Tarifverträgen die Nachtschichtmitarbeiter die höheren Zuschläge für unregelmäßige Nachtarbeit verlangen konnten.

In den jetzt vom BVerfG zu beurteilenden Streitfällen hatten Beschäftigte zwei Getränkeproduzenten vor den Arbeitsgerichten verklagt, um höhere Zuschläge für Nachtarbeit zu erreichen; sie waren schließlich in letzter Instanz vor dem BAG (10 AZR 335/20 und 10 AZR 600/20) erfolgreich. Ausgangspunkt der Erfurter Urteile war die unterschiedliche Behandlung von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit in den betreffenden Tarifverträgen der beiden Unternehmen. Während für Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 % vorgesehen war, erhielten Nachtschicht-ArbN nur 25 % mehr Lohn.

Das BAG (10 AZR 335/20 und 10 AZR 600/20) hatte daraufhin in letzter Instanz die beschwerdeführenden verbandsangehörigen ArbG jeweils zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Zuschläge an die in Nachtschichtarbeit beschäftigten ArbN der Ausgangsverfahren verurteilt.

Das BAG wertete die Differenzierung bei Nachtarbeitszuschlägen als Verstoß gegen den Art. 3 Abs. 1 GG und ordnete eine rückwirkende Erhöhung der Zuschläge für Nachtschichtarbeit an. Nachtschicht-ArbN würden gegenüber solchen, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisteten, gleichheitswidrig ohne sachlichen Grund schlechter gestellt. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) bilde als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG). Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichte die Gerichte dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden und entsprechenden Regelungen die Durchsetzung zu verweigern. Die Verbände, deren Tarifnormen für mit der Verfassung unvereinbar befunden wurden, waren im Verfahren vor den Arbeitsgerichten nicht beteiligt.

2. Verfassungsbeschwerden gegen BAG-Urteile

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die beiden Urteile des BAG (9.12.20, 10 AZR 335/20 und vom 22.3.23, 10 AZR 600/20). Gegen die BAG-Entscheidungen wandten sich sowohl die unterlegenen ArbG, die in den BAG-Urteilen einen Verstoß gegen die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG) sehen, als auch die am Verfahren nicht unmittelbar beteiligten Tarifparteien.

3. Entscheidungen des BVerfG

Das BVerfG hob jetzt die BAG-Urteile auf und verwies an das BAG zurück. Da das BVerfG nur einen möglichen Verfassungsverstoß prüfen, aber keine Sachentscheidung treffen kann, muss jetzt das BAG die Fälle erneut unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Auslegung des BVerfG entscheiden.

a) Unzulässige Verbandsbeschwerde

Die Beschwerden der Verbände erklärte das BVerfG schon für unzulässig, weil der Grundsatz der Subsidiarität nicht beachtet sei: Vor einer Verfassungsbeschwerde als „ultima ratio“ muss danach ein Beschwerdeführer zunächst alle zumutbaren anderen Mittel ausschöpfen, bevor er sich an das BVerfG wenden kann. Das Verfahren nach § 9 TVG eröffne für die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, die Rechtswirksamkeit tariflicher Regelungen frühzeitig mit verbindlicher Wirkung für die Normunterworfenen losgelöst vom Einzelfall klären zu lassen. Von dieser Möglichkeit haben die beschwerdeführenden Verbände als Parteien der verfahrensgegenständlichen Tarifverträge keinen oder jedenfalls nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht.

b) Verfassungsbeschwerde der ArbG erfolgreich

Die BAG-Urteile verletzen aber die ArbG in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG (Tarifautonomie). Die BAG-Auslegung, wonach die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen über die Nachtschichtarbeit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar seien und auf Rechtsfolgenebene die Zuschlagsregelungen zur Nachtarbeit Anwendung fänden („Anpassung nach oben“), berücksichtige die Koalitionsfreiheit nicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise. Zwar müssten die in kollektiver Privatautonomie handelnden Tarifvertragsparteien bei der Tarifnormsetzung den Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG beachten. Die Bindung an den Gleichheitssatz erfordere danach, zugleich den Zweck der Tarifautonomie, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen, und den damit einhergehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen. Dies begrenze die richterliche Kontrolldichte.

In einem Sondervotum schloss sich ein Verfassungsrichter zwar dem Ergebnis des Senats an, bewertete aber die Herleitung des Willkürverbots und dessen Kontrolle anders: Das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sei nicht unmittelbar aus den Grundrechten herzuleiten, sondern erst aus einer mittelbaren Drittwirkung, da die Tarifparteien nicht unmittelbar an Grundrechte gebunden seien.

Bei der Prüfung der Tarifverträge hat das BAG diese Bedeutung der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 GG für die Reichweite dieser Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG wie auch für die Folgen seiner Verletzung nicht ausreichend beachtet. Deswegen muss das BAG die Streitfälle im Lichte der vom BVerfG betrachteten Tarifautonomie erneut beurteilen und entscheiden.

4. Praktische Folgen für ArbG und ArbN

Wer auf die kaum mehr überschaubare Vielzahl von BAG-Verfahren der jüngeren Vergangenheit zu tarifvertraglichen Regelungen zu Nachtarbeitszuschlägen, Feiertags- und Sonntagszuschlägen blickt, erahnt, welch ungeheure praktische Breitenwirkung die mit 232 Randziffern sehr gründlich begründeten BVerfG-Entscheidungen in der praktischen Umsetzung der Arbeitsgerichte nun haben werden. Das BAG, bei dem noch zahlreiche weitere Verfahren anhängig sind, wird seinen „Kompass“ bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) auch in Ansehung kollidierender Grundrechte neu ausrichten müssen.

Die BVerfG-Entscheidungen sind ein wichtiger neuer Orientierungspunkt auch für Reichweite und Grenzen der Tarifautonomie, auch mit wichtigen praktischen Folgen für ArbG und ArbN:

  • Tarifautonomie wird gestärkt: Tarifvertragsparteien können ihre Gestaltungskompetenz weitreichender nutzen als bislang vom BAG angenommen. Eine sachliche Ungleichbehandlung wird nur am Maßstab von „Willkür“ beurteilt.
  • Rechtssicherheit für ArbG: „Pacta sunt servanda“ – ArbG können auf die Verbindlichkeit tarifvertraglicher Regelungen vertrauen.
  • Klagerisiko für ArbN: Künftige Klagen von ArbN gegen unterschiedliche Nachtarbeitszuschläge in Tarifverträgen dürften geringere Erfolgsaussichten haben.
  • Kein automatischer „Anpassungsmechanismus nach oben“: Selbst wenn eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung vorliegt, bedeutet das nicht automatisch, dass alle ArbN die höheren Zuschläge erhalten. Die Tarifparteien müssen zunächst eine Gelegenheit zur Anpassung erhalten. Die Anpassung umfasst nämlich auch die Auswahl der Mittel und Wege, um etwaige Gleichheitssatzverstöße zu korrigieren. Gerichte dürfen deshalb – sofern unterschiedliche Möglichkeiten denkbar sind – nicht selbst anordnen, wie in einem solchen Fall zu verfahren ist, sondern müssen die Korrektur den Tarifparteien überlassen.
Weiterführende Hinweise
  • TV darf Inflationsausgleich während der Elternzeit ausschließen: LAG Düsseldorf in AA 24, 182
  • Was ist mit dem Zuschlag für Dauernachtarbeit? BAG in AA 23, 112
  • Maßgeblich für den Feiertagszuschlag ist die Beschäftigungsart: BAG in AA 24, 146

AUSGABE: AA 5/2025, S. 89 · ID: 50395656

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